Europäische Geschichte - Nur eine Sprachkonvention?

Von
Michael G. Müller, Martin-Luther-Universität

Bisher ist in der Geschichtswissenschaft wenig darüber nachgedacht worden, ob „Europa“ tatsächlich ein geeigneter Raumbegriff für die Geschichtsschreibung ist. Zumeist war die Abkehr von der Nationalgeschichte das bestimmende Motiv dafür, „europäische Geschichte“ zu schreiben. Der Autor weist dagegen auf den Konstruktionscharakter der Wahrnehmung des europäischen Raums in der Moderne hin und stellt heraus, dass die jeweiligen Räume historischer Strukturbildungs- und Wandlungsprozesse nie mit der physikalischen Geografie Europas unmittelbar konsistent gewesen sind. Daher erscheint es als angemessener, von europäischen Geschichten im Plural zu sprechen. Ein europageschichtlicher Ansatz kann jedoch unter der Fragestellung, wie „Europäizität“ in verschiedenen Gesellschaften – je unterschiedlich in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexten – wahrgenommen wurde, durchaus gewinnbringend sein.

Weniger als früher lassen sich Historiker/innen inzwischen wohl von der Frage nach dem Wesentlichen an der europäischen Geschichte sowie nach Typologien europäischer Geschichtsregionen faszinieren. Zwar muss jede historiografische narratio nicht nur auf die Frage nach dem Wann, sondern auch auf die nach dem Wo antworten; Geschichtsschreibung setzt also immer eine explizite oder implizite Verständigung über Raumkonstruktionen voraus. Ob jedoch gerade "Europa" ein geeigneter und notwendiger Raumbegriff für die Geschichtsschreibung ist, wurde bisher selten - und von wenigen - systematisch diskutiert. Eher neigen die Historiker/innen offenbar zu pragmatischen Lösungen. So scheint einerseits unumstritten, dass Phänomene wie Christianisierung, die Aufklärung, die Ausbildung moderner Nationalstaaten, die Entstehung von "Zivilgesellschaft" etc. in einer europäischen bzw. europäisch vergleichenden Perspektive verhandelt werden müssen - da die meisten, wenn nicht alle Gesellschaften des geografischen Europa dadurch auf irgendeine Weise geprägt wurden und da sich in der Gegenwart alle europäischen Gesellschaften mit mehr oder weniger emphatischem Bezug auf die damit verbundenen Werte definieren. Andererseits dürfte Folgendes weitgehend akzeptiert sein: Die Tatsache, dass die Mehrheit der europäischen Staaten/Gesellschaften an bestimmten transnationalen historischen Erfahrungen Anteil hatte, ist noch kein hinreichender Grund dafür, von europäischer Geschichte in einem emphatischen Sinn zu sprechen.

Ganz unabhängig davon hat Europäische Geschichte als Zukunftsvision für die Geschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten Karriere gemacht. Dahinter stand kaum ein explizites Interesse an der Erkundung des genuin Europäischen. Vielmehr signalisierte das Plädoyer für die europäische Perspektive vor allem die Abkehr vom nationalen Paradigma. Die meisten Historiker/innen, die sich auf Europa berufen, stellen damit in Frage, ob die Nation bzw. der Nationalstaat weiterhin als die "natürlichen" Referenzgrößen für Geschichtsschreibung gelten können, und optieren gleichzeitig für einen wie auch immer gearteten Wechsel der Perspektive auf das Transnationale oder Supranationale. Wie Europäizität historisch zu definieren wäre, spielt dabei kaum eine Rolle; von Angeboten für eine konsistente Beschreibung der Leitlinien europäischer Geschichte kann schon überhaupt keine Rede sein.

Das kann auch nicht verwundern, da die internationale Geschichtswissenschaft bisher nicht einmal Ansätze für eine methodisch fundierte Erforschung und Darstellung europäischer Geschichte (oder auch nur transnationaler Geschichte im europäischen Raum) entwickelt hat. Selbst auf der Ebene der transnational vergleichenden Untersuchung "großer Fragen" der europäischen Geschichte - wie mittelalterliche Staatsbildung, Reformation und Konfessionalisierung, Ende des Ancien Régime, "bürgerliche Revolutionen" usw. - befindet sich die Arbeit des systematischen Vergleichens noch immer in den Anfängen. Außerdem: Wenn man Leitprozesse der europäischen Entwicklung konsistent beschreiben wollte, müsste man auch in der Lage sein, fundierte Aussagen über die außereuropäische Welt (d.h. über die entsprechenden Differenzen und Gemeinsamkeiten) zu machen - wofür die europäische Geschichtswissenschaft noch schlechter vorbereitet zu sein scheint als für den innereuropäischen Vergleich. Selbst wenn es also gute Gründe für die Behauptung einer historischen Identität Europas geben sollte, so wäre die Geschichtswissenschaft doch jetzt und in absehbarer Zukunft nicht in der Lage, das Problem angemessen zu verhandeln.

Realistisch und professionell angemessen erscheint daher zur Zeit nur der Versuch, einzelne transnationale Phänomene in der europäischen Geschichte (wie eben Reformation, Aufklärung, moderne Nationsbildung usw.) vergleichend zu thematisieren, also sich um die Untersuchung, und das Schreiben, von europäischen Geschichten im Plural zu bemühen. Dabei muss in Kauf genommen werden, dass solche europäischen Geschichten (im Plural) sich nicht zu einer Europäischen Geschichte (im Singular) zusammenfügen lassen, und zwar auch dann nicht, wenn - in ferner Zukunft - alle relevanten nationalen bzw. regionalen Befunde zu den jeweiligen Fragen verfügbar sein sollten. Denn jede dieser europäischen Geschichten hat ihre eigene Chronologie und ihren besonderen territorialen Bezugsrahmen. Wo und wann europäische Geschichte stattfand, ist eine Frage, die sich nur in Bezug auf partikulare Struktur- und Problemkontexte beantworten lässt.

Um die Frage nach der Entwicklung von Bürgertum und "Bürgerlichkeit" im modernen Europa als Beispiel zu nehmen: Einerseits kann wohl niemand bestreiten, dass die Durchsetzung bürgerlicher Werte und Handlungsmuster sowie ein (sei es langsamer, sei es rascher) Elitenaustausch, dessen Nutznießer auf lange Sicht Funktionsträger bürgerlicher, jedenfalls nicht-adliger Herkunft waren, eine zentrale Erfahrung für die europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts repräsentierte. Andererseits wissen wir, dass weite Teile des geografischen Europa (nicht nur Russland, große Teile Polens, Ungarn, die baltischen Länder oder Südosteuropa, sondern auch Süditalien, Spanien, Irland, Schweden usw.) nur teilweise, meist spät, unter Umständen auch gar nicht an Transformationsprozessen teilhatten, bei denen die soziale Formation Bürgertum in diesem Sinne Trägerschicht von Gesellschafts- oder Staatsveränderung war. Aus dieser Beobachtung kann man verschiedene Schlüsse ziehen. Eines ist aber sicher: Wenn die soziale, politische oder kulturelle Verbürgerlichung von Staat und Gesellschaft als Signatur des europäischen 19. Jahrhunderts gelten soll, dann lassen sich viele europäische Regionen in Bezug auf diese Epoche eben nicht der Europäischen Geschichte in Großbuchstaben zurechnen.

Viele andere vermeintlich wesenhaft europäische Strukturen und Ereignisse müssten in solcher Perspektive kritisch betrachtet werden. Welchen räumlichen Horizont hatte zum Beispiel die Geschichte des europäischen Humanismus - wo waren dessen Zentren, und welche Teile Europas wurden durch die kommunikativen Netzwerke der Humanisten erfasst? Kann man das Phänomen der Zweiten Leibeigenschaft in der Frühen Neuzeit deshalb aus der europäischen Geschichte hinausdefinieren, weil es nur die vorgeblich "rückständigen" Regionen (aber immerhin 50 Prozent des geografischen Europa) betraf? Wie soll man mit der Tatsache umgehen, dass die Industrialisierung sowie die Entstehung moderner Arbeiterbewegungen weder ganz Europa noch Europa alleine gleichzeitig betrafen? Offenbar waren die jeweiligen Geografien historischer Strukturbildungs- und Wandlungsprozesse nie mit der physikalischen Geografie Europas unmittelbar konsistent.

Auch gut begründete Vorschläge, europäische Geschichte mit Bezug auf historische Strukturregionen zu untergliedern und zu differenzieren konnten dieses methodische Dilemma letztlich nicht auflösen. Am intensivsten, und am ehesten systematisch, ist diese Diskussion wohl im Blick auf Osteuropa geführt worden: von István Bibó und Oskar Halecki bis zu Klaus Zernack. Aber auch die von den genannten Autoren entworfenen Typologien europäischer Geschichtsregionen verweisen (bei aller Plausibilität ihrer Argumente für die Annahme, dass europäische Strukturregionen bis zu einem gewissen Grade als reale Größen verhandelt werden können) doch immer auch auf den Konstruktionscharakter der Wahrnehmung des europäischen Raums in der Moderne zurück. Die Tatsache, dass Osteuropa als ein historisch und kulturell gesonderter Raum Europas gedacht wurde und wird, erklärt sich vor allem durch drei Umstände:

1. Der Aufstieg Russlands zu einer europäischen Führungsmacht und zu einem "globalen" Akteur, spätestens seit der Zeit Katharinas II., war der entscheidende Impuls für die von Larry Wolff nachgezeichnete "Erfindung Osteuropas" - also dafür, dass die westlichen Gesellschaften die politische Geografie Europas neu überdachten und den bis dahin als "der Norden" vorgestellten Teil des Kontinents künftig als dessen Osten identifizierten.

2. Spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert stand dem Osteuropa-Diskurs im Westen auch ein entsprechender Diskurs in der Region selbst an der Seite, in dem die Wahrnehmung wirtschaftlich-sozialer Rückständigkeit und zivilisatorischer Defizite im Mittelpunkt standen; die real seit dem 17. Jahrhundert erkennbaren Diskrepanzen in der Entwicklung der proto-industriellen Zentren des Westens und den weiterhin agrarisch dominierten Territorien des Ostens wurden jetzt zunehmend als ein Phänomen struktureller, essentieller West-Ost-Unterschiede reflektiert.

3. Die akademische Institutionalisierung von "Osteuropa-Studien" in der mittel- und westeuropäischen Wissenschaftslandschaft im 19. Jahrhundert trug (obgleich zunächst eher pragmatischen denn programmatischen Überlegungen geschuldet) bald dazu bei, essentialistische Vorstellungen von den West-Ost-Relationen in der europäischen Geschichte und Zivilisation zu etablieren.

Die politischen Konjunkturen der Folgezeit waren geeignet, die neuen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu verfestigen. Auf Dauer wurde Osteuropa mit demjenigen Teil des Kontinents identifiziert, der die Erfahrungen der Französischen Revolution sowie die der gesellschaftlichen Modernisierung nicht geteilt oder allenfalls unvollkommen imitiert hatte, stattdessen in entweder vormodernen oder aber anti-modernen wirtschaftlich-sozialen und politischen Ordnungen verharrte: zunächst in den Ordnungen des Osmanischen Reichs bzw. der Reichsstaaten der Romanovs, Hohenzollern und Habsburger, nach dem Ersten Weltkrieg (und nach der Episode nationalstaatlicher Rekonstruktion in der Zwischenkriegszeit) im "Ostblock". Dabei wurden die frühen Erzählungen über die wesenhafte Andersartigkeit des Ostens im 20. Jahrhundert mehrfach durch neue überlagert und auf diese Weise bestätigt. Nicht einmal das Ende des Kalten Kriegs setzte diese Dynamik außer Kraft. Vielmehr lebt die überkommene Blockrhetorik in der neuen Rede vom post-kommunistischen Europa wieder auf; dass die wirtschaftlichen, sozialen, politischen Befindlichkeiten der fraglichen Gesellschaften vor allem aus deren sowjetkommunistischem "Erbe" heraus zu deuten seien - und in diesem Sinn auch als spezifisch osteuropäische Befindlichkeiten -, steht in der öffentlichen, aber auch der wissenschaftlichen Diskussion kaum in Frage.

So nachhaltig die Konstruktionen einer essentiellen West-Ost-Untergliederung der europäischen Geschichte also gewirkt haben - die Gründe, sie in Frage zu stellen, sind doch ebenso zwingend wie im Fall des Konstrukts Europa selbst. So verweisen viele der in diesem Kontext zitierten Indikatoren für strukturelle Differenz eigentlich nicht auf spezifisch west-östliche Trennlinien, sondern allgemeiner auf Zentrum-Peripherie-Problematiken, auf die in vielfacher Hinsicht asymmetrischen Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen und politischen Machzentren Europas und bestimmten Regionen im Westen, Süden oder eben Osten des Kontinents. Außerdem wird bei der Gegenüberstellung west- und osteuropäischer Entwicklungen allzu oft als strukturelle Differenz ausgegeben, was zunächst nicht mehr ist als Ungleichheit von Erscheinungsformen; im Blick auf die Trägergruppen wirtschaftlichen und politischen Wandels im Europa des 19. Jahrhundert war davon oben schon die Rede. Schließlich die Frage der historischen Geografie Osteuropas: Auch wenn man zusätzliche Binnendifferenzierungen einführt, bleibt man mit der Tatsache konfrontiert, dass Strukturgrenzen je nach sachlichem und zeitlichem Kontext immer anders verlaufen und sich nur selten mit denen des geografischen Osteuropa (oder von Teilräumen wie Ostmitteleuropa, Südosteuropa usw.) decken. Im Blick auf die Geschichte frühneuzeitlicher Ständerepräsentation verlief die Strukturgrenze nicht etwa an Elbe oder Weichsel, sondern an den Ostgrenzen Polen-Litauens und des Habsburger Reichs. Im Kontext der Protoindustrialisierung wiederum hatten Böhmen etwa und Bulgarien viel mehr mit Mittel- und Südwestdeutschland oder mit Flandern gemeinsam als mit den unmittelbaren osteuropäischen Nachbarn. Selbst der "Ostblock" wies, wie spätestens seit dessen Auflösung offensichtlich ist, ungeachtet eines hohen Maßes an Systemkonformität überraschend wenig an gemeinsamer politischer, sozialer und kultureller Entwicklungsdynamik auf.

Wenn also Europa auch als ein Mosaik europäischer Geschichtsregionen geschichtswissenschaftlich nicht überzeugend dargestellt werden kann - bedeutet dies, dass Europa als eine bloße "Erfindung" abgetan werden kann und europäische Geschichte als ein System willkürlicher Zuschreibungen endgültig verabschiedet werden sollte? Sicher nicht. Die Tatsache, dass praktisch alle europäischen Staaten und Gesellschaften ihre eigene Geschichte explizit an (freilich sehr verschiedene) Entwürfe von Europäizität knüpfen, ist an sich schon ein starker Beweis für die Existenz Europas. Außerdem gibt es sehr wohl geschichtswissenschaftliche Fragestellungen, unter denen es lohnend, und methodisch auch plausibel, erscheint, europäische Geschichte zu diskutieren. Drei solcher Fragen werden hier knapp skizziert.

1. Es lohnt sicher, die Deutungen und Visionen von Europäizität, in welche die europäischen Gesellschaften ihre je eigene Geschichte eingeschrieben haben und weiterhin einschreiben, vergleichend zu untersuchen. Hier stellt man fest, dass die Schnittmengen zwischen den national bzw. staatlich partikularen Europa-Konzepten relativ groß sind - zumindest innerhalb der einzelnen epochalen Kontexte und zumindest deklamatorisch. So war im Mittelalter, aber auch in der Frühen Neuzeit und der Moderne die Idee der Christianitas ein Europa vorrangig integrierender Faktor. Ähnliches gilt, seit dem 18. Jahrhundert, für das Projekt Aufklärung oder für Visionen von Demokratie und ziviler Gesellschaft. Dabei ist zunächst unerheblich, inwieweit die je besonderen Entwürfe miteinander kompatibel waren oder sind und inwieweit sie in gesellschaftliche und politische Praxis umgesetzt wurden - unerheblich auch, ob nicht auch außereuropäische Gesellschaften solche Visionen teilten und an deren Implementierung wesentlich beteiligt waren. Wichtig ist vielmehr, dass praktisch keine Herrschaftsordnung in Europa (ob imperialen, nationalen oder regional-territorialstaatlichen Zuschnitts) ohne die Legitimation durch eine Teilhabe an der Verwirklichung europäischer Werte, also durch den Anspruch auf eine europäische Mission ausgekommen zu sein scheint. Dies gilt offenbar auch dort, wo politische oder kulturelle Wir-Diskurse explizit auf Abgrenzungen innerhalb Europas zielten: Die Apologeten der "goldenen Freiheit" im frühneuzeitlichen Polen-Litauen verwiesen eben nicht nur auf die Überlegenheit der eigenen, sarmatischen Kultur, sondern auch auf die singuläre Leistung der Rzeczpospolita für Europa - als Antemurale Christianitatis. Die russischen Slawophilen des 19. Jahrhunderts verwarfen zwar die westliche Zivilisation, präsentierten ihre Zukunftsentwürfe von sozialer und politischer Gemeinschaft aber zugleich als alternative, "junge" Modelle von Europäizität. Sogar die NS-Ideologie, sicher einer der radikalsten Gegenentwürfe zur europäischen Moderne, berief sich auf die deutsche Mission für eine Neuordnung Europas, im Rekurs auf die Werte des europäischen "Abendlands". Die Kontinuität solcher Konkurrenz in Bezug auf den Anspruch, Europäizität zu repräsentieren, ist auch im Kalten Krieg (Menschenrechte und parlamentarischer Pluralismus versus Antifaschismus und sozialistische Demokratie) mehr als offensichtlich. Gerade in der Rekonstruktion der durchgängigen Konflikte um die Definition von Europäizität wird sich, wenn überhaupt, europäische Identität indessen historisch beschreiben lassen.

2. Wenn europäische Gesellschaften kontinuierlich über Europäizität diskutiert haben und diskutieren, so ist dies an sich natürlich noch kein Beweis dafür, dass Europa als eine Kommunikationsgemeinschaft, ein gemeinsamer Markt der Ideen und Deutungen, je existiert hat oder heute existiert. Daher lohnt es wohl auch, danach zu fragen, wann und in welchen Kontexten sich solche kommunikative Einheit hergestellt haben könnte. Das frühneuzeitliche Europa der Humanisten repräsentierte, wie gesagt, geografisch wie sozialständisch sicher nur eine schmale europäische Teilöffentlichkeit - genauso wie das Europa der Aristokraten und das der Diplomaten oder das der aufgeklärten literati, der Pioniere des europäischen Unternehmertums und der "Berufsrevolutionäre" des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch kann man aus guten Gründen bezweifeln, dass der in den 1960er-Jahren begonnene Prozess der europäischen Integration gleichsam natürlich auf die Herstellung einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft zulief. Zu sehr war die Frühgeschichte der (west-)europäischen Integration durch die Bedürfnisse nach einer Konsolidierung oder, wie Alan Milward es genannt hat, "Rettung" des Nationalstaats in Anpassung an veränderte globale Rahmenbedingungen angeleitet. An der nationalen Begrenzung politischer Öffentlichkeiten hat sich dadurch entsprechend wenig geändert - auch und gerade nicht nach der EU-Osterweiterung.

3. Dennoch hat es Sinn, nach dem Phänomen "europäischer Öffentlichkeit" zu fragen. Dafür spricht zum einen die Tatsache, dass es in der europäischen Geschichte sehr wohl Momente gegeben hat, in denen große Ereignisse emphatisch als gemeinsame europäische Erfahrungen wahrgenommen wurden - und in denen entsprechend europäische Kommunikation stattfand, wenn auch zeitlich wie räumlich begrenzt und kontextuell gebunden. Solche Ereignisse waren die Reformation oder der Dreißigjährige Krieg, natürlich die Französische Revolution und die Umwälzungen der napoleonischen Zeit, die Revolutionen von 1848, aber auch die Umbrüche von 1968, 1980 (Solidarnosc) und 1989/90. Zum andern: Wenngleich die nationalen Diskurse über Europa weitgehend segmentiert blieben (und weiterhin bleiben), gab und gibt es indirekte Wechselwirkungen zwischen diesen Diskursen. Die Karriere, die das Projekt des Regionalismus in Europa (zunächst EU-Europa) seit dem späten 20. Jahrhundert gemacht hat, ist ein guter Beleg dafür. Dass zum Beispiel die Autonomiebewegung der Katalanen politisch so erfolgreich war, lässt sich wesentlich auf den geschickten Umgang mit dem zurückführen, was in der gegebenen Situation europäisch verhandelbar war: Anstatt auf das inzwischen weitgehend geächtete Konzept des Nationalen zu setzen (geächtet, soweit es um "neue Nationalismen" geht), schaltete sich die katalanische Bewegung konsequent in die Prozesse der Neuverhandlung des Regionalen in Europa ein - und gewann Legitimität im Kontext der transnationalen Verständigung über ein "Europa der (kleinen) Vaterländer". Nicht zuletzt spricht für eine systematische Beschäftigung mit europäischer Öffentlichkeit die Tatsache, dass die national segmentierten Diskurse über Europäizität in Verbindung mit Fragen der Exklusion des "Nicht-Europäischen" doch immer wieder gemeinsame Nenner haben. So findet sich im europäisch vielstimmigen Raisonnement gegen einen EU-Beitritt der Türkei erneut eine Gemeinschaft des europäisch-christlichen Abendlandes zusammen, die wohl primär um die Verteidigung einer "Wohlfahrtszone Europa" besorgt ist, dabei auf alte Antemurale-Konzepte zurückgreift - und auf dieser Ebene auch explizite wie implizite Konflikte in Bezug auf die Verständigung über das europäisch Gemeinsame durchaus zu überbrücken vermag. Wer mit wem und warum in und über Europa kommuniziert hat, ist also für Historiker eine spannende Frage.

Spezifisch an der Geschichte Europas sei, so haben Historiker verschiedentlich konstatiert, dass es sich um eine Geschichte von Nationen handele. In welchen Richtungen die Aussage sofort relativiert werden muss, liegt auf der Hand. Es gab und gibt natürlich auch andere als national verfasste, und sich national definierende, Gemeinwesen in Europa. Auch war und ist das Nationale kein Monopol der Europäer. Dennoch lohnt die Frage, ob es so etwas wie nachhaltige territoriale Organisationsmuster in der europäischen Geschichte (wenn auch vielleicht nicht nur in dieser) gibt - Organisationsmuster, die durch einen Pluralsimus mittel- und kleinräumiger Territorien geprägt scheinen. So gilt sicher, dass imperial-dynastische oder andere transnationale Ordnungen in Europa eine begrenzte "Halbwertzeit" hatten und immer wieder durch (behauptetermaßen oder real) "ursprünglichere", kleinerräumige Wir-Konzepte herausgefordert und abgelöst wurden. Ferner lässt sich beobachten, dass praktisch allen in Europa erfolgreichen Entwürfen von territorialer Identität - nationalen wie regionalen - die Berufung auf kulturelle (also ethnische, sprachliche, konfessionelle, habituelle) Gemeinschaft eigen war sowie dass die Vision von kultureller Homogenität, und sei es auch nur in Bezug auf einzelne gemeinschaftsbildende Faktoren, bei der Abgrenzung zwischen territorialen Einheiten eine zentrale Rolle spielte. In der Gegenwart belegen dies nicht nur die neuen, post-kommunistischen Nationalismen in Ost- und Südosteuropa, sondern genauso die anhaltenden Konflikte im europäischen Westen - um Korsika, Nordirland und das Baskenland oder in Belgien und dem norditalienischen "Padanien". Keines dieser Konfliktszenarien und keines der darin verfochtenen Identitätsprojekte ist "archaischer", also weniger legitim, als das andere.

Diese Botschaft kann man optimistisch, aber auch pessimistisch interpretieren. Die optimistische Deutung, von der Romantik bis in die Gegenwart immer wieder präsentiert, wäre, dass Europa historisch eine besondere Sensibilität für kulturelle Vielfalt und damit auch für territorialen Pluralismus entwickelt habe - gewissermaßen eine Kultur des rationalen Managements von Diversität auf engem Raum. Eine eher pessimistische Deutung legen jedoch Entwicklungen in Richtung einer brachialen Durchsetzung von "Leitkulturen" im eigenen Territorium nahe, wie wir sie, eher überraschend, jetzt zum Beispiel in Dänemark oder den Niederlanden beobachten: Der Preis, den europäische National- oder Regionalgesellschaften für die Anerkennung eines transnationalen kulturellen Pluralismus offenbar immer häufiger einfordern, ist die Freiheit zur Intoleranz auf dem eigenen Territorium.

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