Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa - Kulturgeschichte als Area Studies

Von
Philipp Ther, Universität Wien

In seinem Beitrag vergleicht Philipp Ther die geschichtswissenschaftlichen Raumkonzeptionen Zentraleuropa und Ostmitteleuropa. Das Konzept Ostmitteleuropa, das gerade in der deutschen Forschung weiter vorherrschend bleibt, resultiert für ihn hauptsächlich aus strukturgeschichtlichen Fragestellungen. Darin liege aber sein Nachteil, da dies zu einer mangelnden zeitlichen Differenzierung und zu einer überzogenen räumliche Abgrenzung führe sowie eine thematische Engführung auf strukturgeschichtliche Ansätze einschließe. Das Konzept Zentraleuropa habe dagegen den Vorteil, dass es besonderes die Kommunikation und Interaktion zwischen verschiedenen Regionen betrachtet und dadurch zeigt, wie kulturelle Räume durch „cultural encounters“, Austauschprozesse, Akkulturation, aber auch Krisen und Konflikte geprägt werden. Die so konstituierten Räume können sich überschneiden und verändern sich je nach Periode.

Zwei Raumkategorien im Vergleich

Der größere zeitliche Abstand zum „kurzen“ 20. Jahrhundert und zur Wende von 1989/91 legt es nahe, sich neue Gedanken zur historischen Geografie Europas zu machen. In Deutschland bestimmt immer noch der Kalte Krieg die subdisziplinäre Ordnung der Geschichtswissenschaft. Östlich des Böhmerwaldes und der Oder beginnt die Zuständigkeit der Osteuropäischen Geschichte, der die Geschichte Ostmitteleuropas untergeordnet ist. Westlich davon befasst man sich mit allgemeiner oder auch europäischer Geschichte. Wer sich mit Osteuropa beschäftigt, gilt gemeinhin als Spezialist, auch wenn er romanische Sprachen beherrscht und sich in der Geschichte Westeuropas auskennt, wer sich dagegen auf den westlichen Teil Europas beschränkt, betreibt europäische Geschichte und ist damit selbstverständlich ein Universalist. Natürlich gibt es inzwischen etliche Institutionen und Projekte, die diese Spaltung zu überwinden versuchen, darunter die Förderinitiative „Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas“ der VolkswagenStiftung und das Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas. Aber die akademischen Milieus und die daraus hervorgehenden Karrierewege, die Foren und Themen der Debatten sind nach wie vor getrennt.

Mit der Raumkategorie Ostmitteleuropa könnte man versuchen, eine Brücke zwischen west- und osteuropäischer Geschichte zu schlagen. Nach der maßgeblichen Definition von Klaus Zernack schließt diese historische Strukturregion zwischen Deutschland und Russland die ostelbischen Gebiete mit ein. Doch in der Wissenschaftspraxis, die in den 1990er-Jahren durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geprägt wurde, müssen sich die Institutionen, die sich mit Ostmitteleuropa beschäftigen, in der modernen Geschichte auf das Gebiet Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns beschränken. Umgekehrt scheuten sich das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und andere zeithistorische Institutionen lange Zeit vor Grenzüberschreitungen in Richtung Osten. Projektanträge, die in Richtung polnische oder tschechische Geschichte gingen, wurden wiederholt abgelehnt. Die Forschungsförderung ist jedoch nur ein Indikator grundsätzlicher wissenschaftspolitischer Einstellungen. Ostmitteleuropa ist in den Augen der meisten deutschen Historiker/innen, zumal jener, die sich mit Europa beschäftigen, doch nur ein Teil des Ostens, dem man getrost den Spezialisten überlassen kann. Wenn man es etwas polemisch formulieren möchte, war im Jahrzehnt nach der Wende das wissenschaftspolitische Interesse an geografisch definierten Ziergärten offenbar größer als die Förderung von Konkurrenz. Dies ist bedauerlich, denn wie fruchtbar wäre in der DDR-Forschung beispielsweise eine Forschungsrichtung gewesen, die das Land aus einer ostmitteleuropäischen Perspektive bzw. nach 1989 als Transformationsland betrachtet. Auch eine deutsche Geschichte des langen 19. Jahrhunderts würde unter Einbeziehung ihrer polnischen, böhmischen und österreichischen Anteile anders aussehen als in der ethnonationalen Verkürzung, die die Meistererzählungen der Nachkriegszeit geprägt hat. Jenseits dieser abstrakten Ebene wäre es für den Schulunterricht nicht schädlich, wenn die Deutschen mehr über ihre östlichen Nachbarn lernen würden. Doch der Ostmitteleuropabegriff hat leider nur begrenzt zu einer Öffnung der allgemeinen Geschichte beigetragen, unter anderem weil er als eine Spezialisierung innerhalb der ohnehin schon speziellen Osteuropageschichte angesehen wurde.

Aus diesen Dilemmata könnte eine Raumkategorie heraushelfen, die in westeuropäischen Sprachen schon lange gängig ist: Central Europe, Europe Centrale oder Europa Centrale. Die einschlägige englischsprachige Zeitschrift „Central European History“ vereint seit Jahrzehnten Forschungen über deutschsprachige und ostmitteleuropäische Länder. In der französischen Zeitschrift „Cultures d´Europe Centrale“ publizieren neben Historiker/innen Germanist/innen und Slawist/innen. Auch die Central European University in Budapest ist auf die postkommunistischen Länder ausgerichtet, ohne deshalb eine europäische Perspektive zu vernachlässigen.

Die Raumkategorie Zentraleuropa besitzt den Vorzug, dass sie im Unterschied zum Ostmitteleuropabegriff nicht auf einem strukturgeschichtlichen Fundament beruht, sondern vor allem auf kulturhistorischen Grundlagen. Der folgende Essay stellt die beiden Raumkategorien gegenüber, interessiert sich aber zugleich für Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten der Ergänzung. Es geht dabei über Zentraleuropa hinaus um eine neuartige Begründung von Area Studies, wobei wissenschaftstheoretische Fragen und die Organisation der Lehre voneinander zu trennen sind. Area Studies vereinen per se das Studium mehrerer Länder, Sprachen und Kulturen und bieten somit eine Chance, das vielfach geforderte „transnationale“ Forschungsparadigma mit Bodenhaftung anzuwenden.

In der deutschsprachigen Forschung hat vor allem der österreichische Kulturhistoriker Moritz Csáky den Begriff Zentraleuropa fruchtbar gemacht. Leider wurde er in der Bundesrepublik noch nicht angemessen rezipiert, was daran liegen mag, dass die großen Länder Europas generell zu selten auf die kleineren schauen. Csáky hat die Raumkategorie Zentraleuropa nie für den Titel einer Monografie genutzt, aber sie findet sich in den Überschriften einiger Aufsätze und zahlreicher Kapitel und Unterkapitel seiner Bücher, vor allem jenem über die Wiener Operette. Zudem lag das Raumkonzept dem bis 2005 bestehenden Spezialforschungsbereich an der Universität Graz mit dem Titel „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“ zugrunde, der im Internet umfassend dokumentiert ist.

Warum hat sich der Begriff Zentraleuropa unter deutschen Historiker/innen und Kulturwissenschaftler/innen bislang kaum durchgesetzt? Eigentlich ist dies erstaunlich, denn gemeinhin werden Begriffe aus dem Englischen in Deutschland bereitwillig und rasch rezipiert. Ein wissenschaftsimmanenter Grund liegt sicher in der Dominanz des Ostmitteleuropabegriffs und der sinnlosen politikwissenschaftlichen Variante Mittelosteuropa. Eine wichtigere und auf den ersten Blick wissenschaftsferne Ursache der mangelnden Rezeption ist indes die Fortwirkung der mental maps des Kalten Krieges. Die Bundesrepublik versteht sich aufgrund ihrer alten Westbindung und ihrer Rolle als Gründungsland der Europäischen Gemeinschaft als ein Bestandteil Westeuropas. Dies hat sich auch durch den Beitritt der Fünf Neuen Länder von 1990 nicht geändert, obwohl die vergrößerte Bundesrepublik damit in die Mitte des neuen Europas rückte. Auch die Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 hat bislang keinen Wandel der eigenen geografischen Zuordnung ausgelöst. Die ungebrochene Westorientierung der Deutschen korrespondiert mit der „Verostung“ der östlichen Nachbarn Deutschlands, die in der öffentlichen Meinung und in der Wissenschaft nach wie vor einem imaginierten und stereotypisierten „Osten“ zugeschlagen werden.

In Deutschland bedeutet osteuropäische Geschichte nach wie vor primär russische Geschichte. Das bringt für die Forschung über Zentraleuropa und auch für die europäische Geschichte Nachteile mit sich. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die Geschichte Böhmens im 19. Jahrhundert nicht eher im Kontext der deutschen Länder und vor allem des Habsburgerreiches als in einem künstlichen Zusammenhang mit Russland untersucht werden sollte. Ähnliches gilt für das Habsburgerreich, das quer zur Teilung des Kontinents in europäische und osteuropäische Geschichte liegt. Es gibt kein Staatengebilde, das in seinen Strukturen und Problemen der heutigen EU so ähnelt wie das Habsburgerreich. Vor allem der letztlich gescheiterte, aber facettenreiche Umgang mit der Herausforderung der Multiethnizität könnte für das heutige Europa lehrreich sein. Doch durch die mental maps des Kalten Krieges und die starke Konzentration der Osteuropäischen Geschichte auf die Sowjetunion und Russland sind Länder, die sich einer eindeutigen Zuordnung nach West- oder Osteuropa entziehen, vernachlässigt worden. Dies ist längst kein Wahrnehmungsproblem mehr, sondern ein strukturelles Defizit. Es gibt in Deutschland keinen Lehrstuhl, der sich explizit mit der Geschichte der Habsburgermonarchie beschäftigt oder die Rolle Österreichs im Kalten Krieg näher betrachten würde. Und der Horizont der allgemeinen Geschichte endet nach wie vor vielfach im Zonenrandgebiet. Es gibt in Deutschland keinen Lehrstuhlinhaber für europäische oder allgemeine Geschichte, der sich näher mit der modernen Geschichte der Tschechen befasst, die doch immerhin bis 1866 dem Deutschen Bund angehörten. Dies ist auch schwer möglich, solange westslawische Sprachen als schwer erlernbare Exotika gelten. Zynismus oder zu große Ungeduld wären indes fehl am Platze. Aufgrund der starren Stellenstrukturen an den Universitäten ist es vermutlich unvermeidbar, dass sich geopolitische Veränderungen im akademischen Leben erst mit großer Verzögerung bemerkbar machen. Außerdem gibt es unter Student/innen seit Jahren einen großen Aufbruch, viele lernen slawische Sprachen, ohne Osteuropaspezialisten werden zu wollen.

Die Raumkategorie Ostmitteleuropa

Die Feststellung erheblicher Unterschiede der Länder und Regionen, die innerhalb der osteuropäischen Geschichte behandelt werden, ist nicht neu. Der nötigen Differenzierung von Russland bzw. seit 1917 der Sowjetunion trägt unter anderem der Begriff „Ostmitteleuropa“ Rechnung. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums und die nachfolgende Erweiterung der EU haben der Forschung über diese historische Region seit 1989 zu einem mächtigen Aufschwung verholfen. Das Herder-Institut in Marburg wurde von der deutschnationalen Ostforschung emanzipiert, außerdem das Geisteswissenschaftliche Zentrum für Geschichte und Kultur in Leipzig (GWZO) neu gegründet. Das GWZO beschäftigt in seinen Projekten über 40 wissenschaftliche Mitarbeiter – dies verdeutlicht die Dimension dieses Aufschwungs.

Dem Ostmitteleuropabegriff liegt wie erwähnt eine primär strukturgeschichtliche Definition zugrunde. Fasst man Klaus Zernack, Jenõ Szucs, Oskar Halecki und andere Autor/innen in einigen Sätzen zusammen, so ergeben sich folgende epochenübergreifend wirksame Strukturen: In Ostmitteleuropa entwickelte sich in der Frühen Neuzeit eine „zweite Leibeigenschaft“, die den Adel nachhaltig stärkte, dagegen freie Bauern und das Bürgertum schwächte. Dies habe zu einer verspäteten Industrialisierung, agrarischen Prägung und Rückständigkeit beigetragen, die bis ins 20. Jahrhundert fortwirkte. Eine zweite, immer wieder betonte Charakteristik Ostmitteleuropas liegt in der speziellen Relevanz des Nationalen. Nach den genannten Autoren erfolgte die Gründung der ostmitteleuropäischen Staaten und die Gesellschaftsbildung bereits im Mittelalter unter nationalen Vorzeichen. In der Neuzeit bildeten sich moderne Nationalbewegungen, die wegen der imperialen Fremdherrschaft starken Zulauf hatten und aufgrund der Multiethnizität der Großregion miteinander in Konflikt gerieten. Eine dritte, immer wieder genannte Gemeinsamkeit Ostmitteleuropas ist dessen westliche Prägung, zum Beispiel durch das Magdeburger Recht, nach dem zahlreiche Städte gegründet wurden, und die Christianisierung von Rom aus. In der älteren Forschung wurde außerdem die Rolle der Deutschen als Kulturträger betont, inzwischen hat man die imperiale und kolonialistische Schlagseite dieses Diskurses jedoch erkannt. Bis heute werden die Strukturen Ostmitteleuropas häufig als defizitär erfasst, als rückständig, verzerrt, verspätet etc. bezeichnet. Hierin liegt eine Parallelität zur Sonderwegsdebatte der 1980er-Jahre in Deutschland, denn auch dort wurden die Strukturen des Deutschen Reiches und der deutschen Gesellschaft als exzeptionell und defizitär erfasst. Viel spricht daher dafür, die deutsche und die ostmitteleuropäische Historiografiegeschichte innerhalb eines Raumes zusammenzufassen und näher zu vergleichen.

Einige der strukturellen Merkmale, die hier aus Platzgründen nur grob nachgezeichnet werden konnten, sind inzwischen modifiziert worden. Die Behauptung der Rückständigkeit wird mit Blick auf andere europäische Peripherien relativiert. Man kann für die Frühe Neuzeit oder die Industrialisierung nicht ernsthaft behaupten, dass Böhmen rückständig gewesen sei. Der böhmische Ausnahmefall, der die strukturelle Eingrenzung Ostmitteleuropas stets überdehnt hat, relativiert sich indes, wenn man Böhmen im Rahmen Zentraleuropas untersucht und zum Beispiel Sachsen als Vergleichsfall betrachtet. Die gewerbliche Entwicklung und die Industrialisierung in Sachsen und Böhmen waren miteinander verbunden, nur ist dies bisher wegen der Grenzziehung zwischen deutscher und tschechischer und damit auch allgemeiner und ost(mittel)europäischer Geschichte kaum erforscht. Die Leistungen des Adels bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung wurden in diversen Forschungsprojekten von Michael G. Müller herausgearbeitet. Und es ist mittlerweile auch klar, dass ein gemessen an Frankreich oder England schwaches Bürgertum einen europäischen Normalfall darstellt. Zudem übernahmen andere Schichten und soziale Gruppen in Ostmitteleuropa Funktionen des Bürgertums. Bei den scheinbar unlösbaren Nationalitätenkonflikten hat unter anderem Gerald Stourzh die Ausgleichsversuche im Rahmen des Habsburgerreiches aufgezeigt. Auch die Tschechoslowakei war keineswegs ein Staat, der an seinen Minderheitenproblemen scheitern musste, sondern eine der stabilsten Demokratien Europas – nach Jan Køen wahrscheinlich sogar zu stabil und daher der Herausforderung des Nationalsozialismus nicht gewachsen. Im Lichte dieser jüngeren Forschungen relativiert sich die von Szucs empathisch vorgetragene Sicht auf die Defizite und die Rückständigkeit Ostmitteleuropas.

Dieser fortgeschrittene Wissensstand beseitigt jedoch nicht das grundsätzliche Problem jeder strukturgeschichtlichen Definition von Großregionen. Die Forschung vermag die strukturellen Vorannahmen zu verfeinern und eventuell zu widerlegen, aber sie bewegt sich in ihrem strukturgeschichtlichen Spektrum. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum kulturhistorische Fragestellungen innerhalb der Ostmitteleuropaforschung lange Zeit weniger verfolgt und die postcolonial studies trotz ihrer offensichtlichen Relevanz für die Region spät rezipiert wurden

Ein weiteres Problem ist, ob die genannten Strukturen epochenübergreifend wirksam waren. Besteht zum Beispiel zwischen den nur von kleinen Eliten getragenen mittelalterlichen Nationskonzepten, die der Legitimation von Staatsgründungen dienten, und den national-emanzipativen Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts wirklich ein engerer Zusammenhang? War die Multiethnizität Ostmitteleuropas tatsächlich durch die Siedlungsbewegungen des Mittelalters vorgegeben oder entstand sie unter den Bedingungen der Moderne auf neue Weise? Ähnliche Fragen stellen sich im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gibt es wirklich eine Kontinuität der Rückständigkeit, oder kann man nicht sogar behaupten, dass einige Regionen in bestimmten Phasen auf gesamteuropäischer Ebene Vorreiter waren? Man könnte hier neben Böhmen auch an die Erdölindustrie in Ostgalizien denken. Die in der früheren Forschung verbreitete longue-durée-Perspektive auf Ostmitteleuropa hat dabei geholfen, diese Geschichtsregion zu begründen und neben einer räumlichen auf einer zeitlichen Achse der Geschichte zu verankern. Doch aus der Sicht der Postmoderne stellt sich die Frage, ob zu viele Kontinuitätslinien konstruiert wurden.

Ein weiteres Problem strukturhistorisch begründeter Area Studies ist die strikte Grenzziehung nach außen, die schon deshalb eine wichtige Rolle spielt, weil sie den regionalen Zuschnitt der Forschungen rechtfertigt. Man findet daher in der deutschen Ostmitteleuropaforschung nur wenige Projekte oder Arbeiten, die Vergleiche nach außen wagen. Befasst man sich beispielsweise näher mit der katalanischen Geschichte, dann werden etliche Parallelen mit Ostmitteleuropa deutlich. Auch die Katalanen waren von imperialer Fremdherrschaft und lange wirksamen feudalen Strukturen geprägt, entwickelten erst relativ spät eine eigenständige und kulturell geprägte Nationalbewegung, mussten ihre Sprache „wiederentdecken“ und litten wie andere „kleine“ Nationen unter Überfremdungsängsten. Ähnlich wie die Tschechen entfalteten sie um die Jahrhundertwende eine kulturelle Produktivität, die durch Gabriel Pere in den 1990er-Jahren in der zehnbändigen Buchreihe História de la cultura catalana dokumentiert wurde. Strukturgeschichtlich betrachtet könnte man Katalonien Ostmitteleuropa zuschlagen. Ähnliches gilt für das ebenfalls adelig bestimmte, lange Zeit agrarisch geprägte und schließlich von einem ethnischen Nationalismus infizierte Veneto, das mit Ostmitteleuropa von 1797 bis 1866 zusätzlich durch die Herrschaft der Habsburger verbunden war. Das geografisch weit entfernte Irland weist manche Parallelen zu Polen auf, darunter die konfessionelle Bindung und Frontstellung der Nationalbewegung, der lange Kampf gegen ein Imperium und gegen wirtschaftliche Rückständigkeit, die in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts überwunden wurde.

Ein Problem der Abgrenzung – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen – existiert auch gegenüber Russland. Tschechische, polnische und ungarische Autor/innen haben großen Wert darauf gelegt, Ostmitteleuropa oder Zentraleuropa gegenüber Russland und den ostslawischen Kulturen abzugrenzen. Milan Kunderas bahnbrechender Aufsatz über Zentraleuropa aus dem Jahr 1983 – er benutzt übrigens diesen Terminus und nicht „Mitteleuropa“ wie in der späteren „Mitteleuropadebatte“ – enthält zahlreiche antirussische Stereotypen. Russland, aber auch die Balkanländer werden als kulturell vorgeprägte Zentren der Despotie verunglimpft. Diese Abgrenzung ist aufgrund der tschechischen Erfahrung von 1968 verständlich, wäre aber gerade im Falle des östlichen Polens nur schwer durch soziale Parameter zu begründen. Die Feudalherrschaft und die damit verbundenen Probleme waren in Polen ähnlich drückend wie in Russland selbst. Gleichwohl spielte die Abgrenzung von Moskau und dem Sowjetimperium auch bei dem aus Polen stammenden Historiker Oskar Halecki eine zentrale Rolle.

Eine strikte Abgrenzung zwischen Ostmitteleuropa und Osteuropa erscheint vor allem im Falle der Ukraine als problematisch. Dies hat zuletzt die Orangene Revolution belegt, die man als einen Indikator dafür ansehen kann, dass die postsowjetische Ukraine ein Teil Zentraleuropas ist oder jedenfalls sein möchte. Doch neben diesem gegenwartsbezogenen Argument gibt es etliche historische Gründe, die die gängige geografische Zuordnung der Ukraine zu Osteuropa im engeren Sinne bzw. zu einem postsowjetischen Raum als ergänzungsbedürftig erscheinen lassen. In der Frühen Neuzeit war die Ukraine über Polen vermittelt ebenfalls vom Barock und der Aufklärung geprägt. Die Nationalbewegung war durch das polnische Beispiel und die Habsburger inspiriert und weist aufgrund des Fehlens eines eigenen Adels oder anderer sozialer Eliten Ähnlichkeiten zum slowakischen Fall auf. Die Griechisch-Katholische Kirche ist eine genuine Mischform zwischen westlichem und östlichem Christentum. Schließlich steht in Odessa ein Opernhaus, das vom Wiener Büro Helmer und Fellner entworfen wurde und diese Stadt in einen Zusammenhang mit Zürich, Hamburg, Wien, Prag, Budapest und anderen zentraleuropäischen Kulturmetropolen bringt. Das Attribut zentraleuropäisch erscheint hier allein deshalb als angebracht, weil man Zürich oder Hamburg nicht en passant Ostmitteleuropa zuschlagen kann.

Zusammenfassend wurden drei Einwände gegen die bisherige Anwendung des Ostmitteleuropabegriffs vorgebracht: die enge Festlegung auf strukturhistorische Themengebiete, eine im Detail nicht haltbare longue-durée-Perspektive; oder in anderen Worten: eine mangelnde Differenzierung auf einer zeitlichen Achse, dagegen eine überzogene Abgrenzung in räumlicher Hinsicht. Diese Kritik impliziert nicht, dass man vom Ostmitteleuropabegriff lassen sollte. Die Forschungslandschaft ist seit 1989 enorm gewachsen und hat Resultate hervorgebracht, die auch im Ausland auf großes Interesse stoßen und Anerkennung finden. Die Ostmitteleuropaforschung hat wesentlich zur wissenschaftlichen Kooperation mit den neuen EU-Mitgliedsländern und damit zum Zusammenwachsen Europas beigetragen. Schließlich ist die Ebene der Lehre nicht zu vernachlässigen. Seit der Wende wurde eine Generation von Nachwuchswissenschaftlern herangebildet, die über ausgezeichnete sprachliche und kulturelle Kompetenzen verfügen. Es gibt mithin viel bessere Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Geschichte Ostmitteleuropas als 1989. Während es in der alten Bundesrepublik nicht einmal ein überzeugendes Tschechisch-Lehrbuch gab, sprechen inzwischen unzählige deutsche Universitätsabsolventen tschechisch, polnisch oder andere slawische Sprachen. Vor allem die Universitäten in Leipzig, Berlin und Frankfurt an der Oder tragen in diesem Bereich zur Profilierung der ostdeutschen Länder innerhalb der Bundesrepublik bei.

Der Begriff Zentraleuropa

Wie unterscheidet sich die Forschung über Zentraleuropa von jener über Ostmitteleuropa? Auf den ersten Blick überwiegen Gemeinsamkeiten, denn die von Moritz Csáky ausgearbeitete Definition Zentraleuropas nimmt einige strukturgeschichtliche Merkmale auf. Vor allem die Multiethnizität der Großregion wird immer wieder betont. Unter Bezug auf die Habsburgermonarchie hebt Csáky die imperiale Prägung Zentraleuropas hervor, die assymetrische Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationen und Ethnien der Region und ihren Kulturen verursachte. Unter anderem wegen dieser Assymetrie wurde der Ansatz der postcolonial studies in einem 2003 erschienenen Sammelband mit dem Titel „Habsburg postkolonial“ fruchtbar gemacht.

Während der Begriff Ostmitteleuropa wie erwähnt auf einer strukturgeschichtlichen Definition beruht, hebt Csáky die Bedeutung der Kommunikation hervor. Im Anschluss an Braudel definiert er Zentraleuropa als einen kulturellen Raum, der durch cultural encounters, Austauschprozesse, Akkulturation, jedoch auch Krisen und Konflikte geprägt war. Dieser Schwerpunkt auf Kommunikation und Interaktion hat mehrere Vorteile: Zusätzlich zu abstrakten Strukturen lassen sich Akteure in den Blick nehmen, die Zentraleuropa prägten und möglicherweise ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu dieser Region entwickelten. Bei Austauschprozessen entstehen Kulturgüter im breiten, anthropologischen Sinne, d.h. die bisherige, meist sozial- oder politikhistorische Ostmitteleuropaforschung wird in Richtung Kulturgeschichte erweitert. Darauf aufbauend verwenden Csáky und seine Schüler postmoderne Konzepte wie Hybridität und zeigen dessen Fruchtbarkeit für Zentraleuropa auf.

Das auf Kommunikation und Interaktion gestützte Konzept ermöglicht den Verzicht auf harte äußere Grenzziehungen. Dies ist gerade auf kulturgeschichtlicher Ebene ratsam, denn in der Literatur und der Geistesgeschichte sind beispielsweise die zahlreichen Bezüge aus Deutschland nach Zentraleuropa zu beachten. Dagegen wurden in der Musik italienische Vorbilder rezipiert, während z.B. der Panslavismus auf östliche Verbindungen verweist. Moritz Csáky hat die multiplen Einflüsse auf die Kultur des Habsburgerreiches in seinem sinnenfrohen Portrait der Wiener Küche zusammengefasst, wobei er auf abstrakter Ebene zwischen einer von außen vermittelten, exogenen Pluralität und der endogenen Pluralität Zentraleuropas unterscheidet.

Die Unterscheidung zwischen externen und internen Kulturtransfers zeigt, dass sich das Problem der Abgrenzung nach außen auch in kulturhistorisch fundierten Area Studies stellt. Aber die Blickrichtung ist eine andere als in traditionellen Area Studies. Während in der Strukturgeschichte endogene Strukturen vorausgesetzt werden, geht es in der Kulturtransferforschung von vornherein um kulturelle Austauschbeziehungen, der Blick richtet sich also nach außen und nicht primär nach innen, in die Strukturregion.

In der österreichischen Zentraleuropaforschung ist bislang allerdings noch nicht abschließend geklärt, wo innen und außen liegen. Häufig wird Zentraleuropa mit dem Habsburgerreich gleichgesetzt. Dagegen sprechen nicht nur die intensiven kulturellen Verbindungen im deutschsprachigen Raum, sondern auch der kulturelle Austausch zwischen den verschiedenen Teilungsgebieten Polens. Die Betonung der imperialen Herrschaft als Charakteristikum Zentraleuropas bei Csáky liefert ein Argument für eine Erweiterung des Konzepts auf das Deutsche Reich und die westlichen Gebiete des Zarenreiches. Dagegen wird man die Frage einer gemeinsamen Identität eher skeptisch beurteilen müssen. Zwar identifizierten sich manche Einwohner der Donaumonarchie mit dem Kaiser und anderen Symbolen des Habsburgerreiches, aber ein ex post eingebrachter Begriff wie Zentraleuropa kann vor hundert Jahren keine Identitäten bestimmt haben.

In der bisherigen Fokussierung der österreichischen Zentaleuropastudien auf das Habsburgerreich liegt jedoch zugleich eine Chance. Da die deutsche Ostmitteleuropaforschung sich überwiegend mit Polen, dem Baltikum, Böhmen sowie den Beziehungen zu diesen Ländern, aber weniger mit dem gesamten Habsburgerreich befasst hat, würden sich die bisherigen Arbeiten beider Forschungsrichtungen gut ergänzen. Die Ostmitteleuropaforschung könnte unabhängig von der Frage, ob man in Deutschland von Zentraleuropa spricht, von der lebhaften Rezeption postmoderner Ansätze und Begriffe in den Publikationen des Grazer SFB und der von Csáky geleiteten Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften profitieren. Die dort aufgenommenen postcolonial studies sind keine Modeerscheinung, sondern wären geeignet, traditionskritisch über die Rolle der Deutschen in Zentraleuropa zu reflektieren. Diese Rolle spiegelt sich nicht zuletzt in dem Begriff „Mitteleuropa“, mit dem ein durch Deutschland und die deutsche Kultur beherrschte Einflusszone gemeint war.

In der Analyse Zentraleuropas als kulturellem Raum liegt zudem ein Potential für den Ansatz der Transfergeschichte. Die von Csáky analysierten Austauschprozesse beruhten auf Netzwerken, bei denen man die Existenz von Kulturtransfers voraussetzen kann. Bei deren Analyse kann es auf die Dauer nicht mehr um den Transfer von Kulturgütern für sich gehen, sondern um die Intensität und Richtung des Austausches und dessen Institutionalisierung. Auf diese Weise würde sich Zentraleuropa zu mehr als einem Gegenstand der Forschung entwickeln, es wäre in Ansätzen bereits ein Forschungskonzept, das einen neuen Blick auf die Geschichte historischer Regionen öffnet. Zudem gibt es dafür eine empirische Grundlage, denn die innere und äußere Vernetzung Zentraleuropas hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dramatisch zugenommen.

Konsequenzen für eine europäische Geschichte

Derartige kulturgeschichtlich fundierte Area Studies über Zentraleuropa würden mit jüngeren Entwicklungen in der Geschichte Westeuropas korrespondieren. Das von Michael Werner entworfene Konzept der histoire croisée und die neue Buchserie „Deutsch-französische Geschichte“ ergeben im Endeffekt eine westeuropäische Geschichte bzw. westmitteleuropäische Area Studies. Werner tritt dafür ein, die deutsche und die französische Geschichte gemeinsam zu betrachten, miteinander zu kreuzen – dies bedeutet das Wort croiser wörtlich übersetzt. Er begründet diese Forderung mit den unzähligen Kulturtransfers zwischen Deutschland und Frankreich, die es schwer machten, die Geschichte dieser beiden Länder voneinander zu trennen. Dieses Argument überzeugt, zudem gibt es für Deutschland und Frankreich inzwischen einen umfassenden Bestand an Literatur, der die Verflochtenheit der Geschichte beider Länder belegt. Dazu zählen unter anderem die Publikationen von Michel Espagne, neben Werner der Mitbegründer der Pariser Schule der Transfergeschichte, die von Matthias Middell begründete „Deutsch-französische Kulturbibliothek“ in Leipzig, ferner Bücher von Hartmut Kaelble, Etienne François sowie etlichen Doktoranden und Habilitanden der genannten Historiker.

Der Ansatz der histoire croisée beruht auf einer langjährigen und äußerst intensiven internationalen Methodendebatte über den Vergleich und den Ansatz der Transfergeschichte. Dagegen beschränkten sich die aufgeregte Debatte über den Osteuropabegriff Ende der 1990er-Jahre und die immer wieder kehrenden Aufsätze über Ostmitteleuropa bislang weitgehend auf Spezialisten dieser Region. Dies dürfte auch ein Grund gewesen, warum zum Beispiel eine Festschrift für Ferdinand Seibt aus dem Jahr 1992, die das Begriffspaar Ostmittel- und Westmitteleuropa stark zu machen suchte, wenig rezipiert wurde. Aber in jüngster Zeit konnte das Interesse von Europahistoriker/innen wie zum Beispiel Wolfgang Schmale gewonnen werden, der einen Aufsatz über Ostmitteleuropa verfasst hat.

Die Forschungen über Zentraleuropa könnten gerade für die histoire croisée und die Debatte um transnationale Geschichte von Interesse sein. Während Werner und Espagne immer noch in hohem Maße auf den Nationalstaat und nationale Kulturen rekurrieren, ist die Relativierung staatlicher und gesellschaftlicher Grenzen, die Herausarbeitung kultureller Transfers in der deutschsprachigen Forschung über Zentraleuropa und Ostmitteleuropa schon lange ein Thema. Das Problem der Multiethnizität, das für Paris oder Berlin wenig erforscht wurde, aus tagespolitischen Gründen aber neuerdings große Aufmerksamkeit genießt, ist für Städte wie Prag, Lemberg oder Budapest in vielen Detailstudien analysiert worden. Auch die Hybridität von Kulturen ist im Grunde keine neue Erkenntnis, sondern in Zentraleuropa eine Alltagserfahrung bis in die Zwischenkriegszeit. Die Tragik dieses Teils Europas liegt darin, dass es den verschiedenen Ideologien des 20. Jahrhunderts gelungen ist, diese Pluralität an den Pranger zu stellen, für eigene Zwecke zu nutzen und schließlich auszumerzen.

Führt man die Gedanken von Michael Werner bzw. die parallele Konzeption einer west- und einer zentraleuropäischen (oder einer westmittel- und ostmitteleuropäischen) Geschichte weiter, dann könnte sich eine neuartige Fundierung der europäischen Geschichte ergeben. Europäische Geschichte ließe sich in drei oder vier Großräume oder Regionen unterteilen, Westeuropa, Zentraleuropa, Osteuropa im engeren Sinne sowie in Anlehnung an Braudel Südeuropa. Mit dieser Konzeption verschiedener transnationaler Geschichtsräume könnte erreicht werden, dass europäische Geschichte nicht mehr auf eine Kombination von Nationalgeschichten reduziert würde. Zudem könnten für Westeuropa die zahlreichen Beziehungen über den Atlantik, für Südeuropa zur islamischen Welt und in Osteuropa nach Asien berücksichtigt werden. Wie es bereits in einem Themenheft der Leipziger Zeitschrift „Comparativ“ aus dem Jahr 2004 angemahnt wird, wäre eine derartig geordnete europäische Geschichte nicht eurozentrisch. Diese Neuordnung würde sich außerdem gut für die Lehre eignen und könnte zur Vermittlung spezifischer Sprach- und Kulturkompetenzen genutzt werden.

Sofern diese verschiedenen Area Studies auf Kommunikation und Interaktion gestützt werden, bestünde auch kein Problem der Ausschließlichkeit. Kulturhistorisch begründete Räume können sich überschneiden, sie verändern außerdem je nach Periode ihre Position. Es wäre außerdem höchst reizvoll, bestimmte Orte, Institutionen oder soziale Gruppen aus der Perspektive verschiedener Area Studies zu analysieren. Dies würde nicht zuletzt eine neue und produktive Konkurrenzsituation erzeugen. Ferner könnten kulturhistorisch fundierte Area Studies zu einer raumübergreifenden europäischen Geschichte beitragen. Der Weg von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa führt letztlich nach Europa – und daher vorerst auf dieses Themenportal.

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