Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die ”allgemeine” Geschichte

Von
Claudia Kraft, Universität Wien

Infolge des Zusammenbruchs des „Ostblocks“ sahen sich die mit osteuropäischer Geschichte beschäftigten Forscher genötigt, ihre Forschungsthemen und Konzepte zu überdenken und haben in diesem Zusammenhang wiederholt den Konstruktionscharakter von Raumkategorien problematisiert. Räume existieren – so die Autorin – wie die Kategorie Geschlecht nicht a priori, sondern werden diskursiv hergestellt. Diese Einsicht gilt freilich nicht nur für Ost- bzw. Ostmitteleuropa: Vielmehr kann anhand der Analysekategorien Raum und Geschlecht sichtbar gemacht werden, wie unreflektierte (außerwissenschaftliche) Vorannahmen in historischen Konzepten wirksam sind.

In den letzten Jahren wurde die Disziplin der osteuropäischen Geschichte im deutschsprachigen Raum durch die Beobachtung, dass ihr durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ der einstmals klar umrissene Forschungsgegenstand abhanden gekommen sei, dazu herausgefordert, eine innerfachliche Selbstverständigungsdebatte zu führen. Nicht zuletzt die Beiträge, die sich in diesem Themenschwerpunkt explizit mit dem heuristischen Wert einer Analyseeinheit Osteuropäischer bzw. Ostmitteleuropäischer Geschichte beschäftigen, zeigen auf, dass diese Selbstverständigungsdebatte in einen größeren Diskussionszusammenhang gestellt werden kann: Die Frage nach der Bedeutung und Analysekraft historischer Raumkategorien stellt sich für eine Fachdisziplin, die sich seit ihrem Entstehen mit unterschiedlichen Begründungsmustern als Regionalwissenschaft versteht, sehr viel unmittelbarer als für Disziplinen, bei denen die Kategorie „Raum“ zumindest explizit keine Rolle spielt. Die scheinbare Krise, in die das Fach Osteuropäische Geschichte nach 1989 hineingeraten war, bewirkte eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit der Kategorie Raum bzw. Geschichtsregion(en), die belegt, dass das Fach keine altmodische Regionalwissenschaft mit zweifelhaften forschungshistorischen Wurzeln ist, der als politiknahe Form der „Feindbeobachtung“ nach der „Rückkehr nach Europa“ großer Teile des ehemaligen „Ostblocks“ ihr Gegenstand abhanden gekommen war. Vielmehr bietet sich die Osteuropäische Geschichte an, sensibilisiert durch die eigene Fachgeschichte, generell den Konstruktcharakter von Raumkategorien sowie die „Wechselwirkungen von Vorgestelltem und Vorgefundenem“ (Stefan Troebst) zu problematisieren und unhinterfragte geschichtsregionale Zuschreibungen in Frage zu stellen. Durch die Sensibilität für die Zuschneidung ihres Forschungsgegenstandes, die nicht zuletzt auf einer relationalen Beziehung zu einer nur selten hinterfragten spezifischen Vorstellung von „allgemeiner“ europäischer Geschichte basiert, kann die Osteuropäische Geschichte sehr viel dazu beitragen, diese „allgemeine Geschichte“ zu dezentrieren und aufzuzeigen, dass „Europa“ wohl eine nicht immer reflektierte, dabei aber ungemein reich mit teilweise stark wertgebundenen Vorannahmen belastete geschichtsregionale Konstruktion ist, die in ihrer Wirkungs- und Definitionsmacht weit über ein wie auch immer geografisch definiertes Europa hinausweist.

Im Folgenden möchte ich dafür plädieren, dieses Potential, das einer kritischen Reflexion impliziter Raumvorstellungen inne wohnt, mit der Kategorie Geschlecht zu koppeln, die ebenfalls geeignet ist, die „allgemeine Geschichte“ zu dezentrieren, um deren unhinterfragte forschungsleitende Prämissen offen zu legen. Geschlechtergeschichte untersucht Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen und betont dabei die Bedeutung der Relationalität spezifischer Geschlechterbilder, ohne davon auszugehen, dass es Geschlechterrollen a priori, quasi ohne das Handeln historischer Akteure und die Zuschreibungen durch historisch wandelbare Diskurse gibt. In ihrem erkenntnisbringenden Potential gleicht sie damit dem Einsatz einer reflektiert eingesetzten Kategorie Raum: Räume werden diskursiv hergestellt, wirken auf die soziale Praxis zurück und stellen damit durchaus geschichtsmächtige Handlungsräume dar – aber sie existieren nicht a priori.

In der Debatte um die Europäizität Osteuropas bzw. Ostmitteleuropas wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Europa vor allem als relationale Kategorie gedacht wurde und wird. Von mehr oder weniger explizit hinterfragten Europavorstellungen hänge ab, welche Regionen in- bzw. exkludiert werden. Dabei falle auf, dass das europäische Zentrum essentialisiert werde, wohingegen die Debatten über Osteuropa bzw. Ostmitteleuropa als vorgestellter Raum, Strukturraum oder Handlungsraum sehr wohl Sensibilität dafür beweisen, wie durch Diskurse Räume erst hergestellt werden. Hier drängt sich eine Parallele zum Verhältnis zwischen „allgemeiner“ und Geschlechtergeschichte auf: erst durch die Analyse der relationalen Beziehungen, durch die sich das so genannte Allgemeine als solches etabliert, kann einer essentialistischen Sichtweise entgegengewirkt werden, in der unreflektierte Zuschreibungen durch Geschlechterdichotomien perpetuiert werden. Genauso wie das östliche Europa also als eine Herausforderung an eine vergleichende Geschichte Europas (Jürgen Kocka) verstanden werden kann, wird die so genannte Allgemeine Geschichte durch die Geschlechtergeschichte herausgefordert.

Forschungen, die das Konzept des mental mapping aufgegriffen haben, haben herausgearbeitet, dass Europa das „Andere“ braucht, um sich selbst als „Zivilisation“ zu beschreiben. Besonders problematisch erscheint dabei die Stellung Osteuropas bzw. Ostmitteleuropas. Man hat es in gewisser Weise mit Semiperipherien zu tun, das heißt mit Regionen, die durchaus – wenn auch marginalisiert und mit Einschränkungen – zum (west-)europäischen/nordatlantischen Zentrum gezählt wurden und werden bzw. sich sehr stark in einer relationalen Beziehung zu diesem Zentrum definieren. Hier wird also die Kategorie der Relationalität besonders wichtig: Die Region ist nicht essentiell anders, sondern kann (und muss sich nur) angleichen, um in den Genuss des Gütesiegels der Europäizität zu gelangen. Damit ist noch nichts über die historische Gewordenheit des Zentrums und dessen historische Spezifik gesagt, aber auf jeden Fall der Topos der Rückständigkeit für die Beschreibung der Semiperipherie festgeschrieben. Eine Parallele zu kontextunabhängigen männlichen Akteuren, die das Allgemeine verkörpern, und weiblichen Akteuren, deren Andersartigkeit erst die Vorstellung von Allgemeinheit der ersteren möglich macht, ist rasch gezogen: Historische Emanzipationskonzepte, die die Andersartigkeit der Frau zunächst voraussetzen und diese durch Angleichung an das Allgemeine als zumindest partiell überwindbar erscheinen lassen, zeigen, dass neben den Kategorien Raum und Geschlecht eine weitere unseren historischen Wahrnehmungshorizont dominiert. Historische Akteure werden wie Räume in einen linearen Prozess versetzt, der sich im Kollektivsingular der Geschichte abspielt; in dieser einen Geschichte wird ein Zentrum und dessen Akteure ausgemacht. Die Relationalitätsbeziehungen zwischen dem Zentrum und der Peripherie bzw. dem abstrakten Akteur und dem Anderen sind dabei ungemein persistent: Der Bezug auf die Norm, die durch „Europa“ verkörpert wird, bleibt selbst dann bestehen, wenn sich etwa Russland (oder in geringerem Maße ostmitteleuropäische Regionen wie etwa Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit) sich durch Alteritätsdiskurse von „Europa“ abgrenzen wollen. Ähnliches kann über explizit alternative Weiblichkeitskonzeptionen gesagt werden, die ihre Inhalte aus dem Bezug auf vorgestellte Männlichkeitsmuster generieren (etwa in der Gegenüberstellung von „friedliebender Mütterlichkeit“ und „männlicher Aggression“).

Nachstehend soll kurz an einigen Forschungsfeldern der neuzeitlichen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert aufgezeigt werden, inwieweit eine geschlechtersensible Ostmitteleuropa-Forschung ihren Beitrag zur doppelten Dezentrierung des europäischen Zentrums leisten kann. Dabei soll das Hauptaugenmerk auf die Frage gerichtet werden, wie viel (außerwissenschaftliche) Normativität und unreflektierte Vorannahmen in Konzepten der allgemeinen Geschichte transportiert werden und wie diese durch die Beachtung der Analysekategorien Raum und Geschlecht sichtbar gemacht werden können. Zunächst wird hierzu die von Westeuropa ausgehende Aufklärung in den Blick genommen. In ihr wurden auf der einen Seite ein universales Menschenbild und universale Freiheitskonzepte formuliert. Andererseits wurde diese Universalität durch die exkludierende Bezugnahme auf Osteuropa bzw. außereuropäische Regionen gebrochen, dessen Exklusion erst zur Konstituierung des als „Zivilisation“ gedachten „Europas“ beitrug. In ähnlicher Weise war die Exklusion der Frauen aus einer sich gegen den Staat etablierenden politischen Öffentlichkeit Voraussetzung für die Konstruktion des politischen Staatsbürgers, der in dieser Öffentlichkeit Themen verhandelte, welche in der Privatsphäre, der nun die Frau eindeutig zugeordnet wurde, nichts zu suchen hatten. In beiden Fällen kann man beobachten, wie zur Formulierung des Universalen bzw. Allgemeinen die Ausdeutung des „Anderen“ konstitutive Bedeutung erhielt. Die Kategorie Geschlecht erweist hierbei ihre analytische Schärfe, da sie nicht zuletzt auf die Offenlegung gesellschaftlicher Machtverhältnisse gerichtet ist, bei denen über Zuschreibung von Geschlechterrollen Hierarchisierungen herstellt werden. Die Schaffung solcher Machtverhältnisse ist dabei sowohl innergesellschaftlich bei der Herstellung weiblich bzw. männlich konnotierter Handlungsräume zu beobachten, wie transnational, wenn wir unseren Blick auf Osteuropadiskurse seit der Aufklärung richten.

Eine Geschlechtergeschichte des östlichen Europas kann nun diesen Befund durch eine Analyse der Kategorien von Öffentlichkeit und Privatheit genauer dokumentieren und damit die Konstruiertheit eines anscheinend allgemeinen Konzepts aufgeklärter politischer Öffentlichkeit in Frage stellen. Dazu ist es nötig, die Geschichte Osteuropas nicht nur als eine Angleichungs- bzw. Defizitsgeschichte zu schreiben bzw. die Rolle des westeuropäischen citoyens, der seine Rolle in der politischen Öffentlichkeit wahrnimmt, nicht als die einzig mögliche bei der Ausbildung politischer Öffentlichkeiten zu begreifen. Hierbei wäre zu fragen, welche Rolle welchen Akteur/innen in welchen Räumen zugeschrieben und wie Geschlechterrollen bestimmten Räumen eingeschrieben werden. Die Akteure und Foren der Öffentlichkeit in ostmitteleuropäischen Adelsgesellschaften sahen gerade aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive anders aus als jene in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft des westlichen Europas. Dort war das Ideal des Staatsbürgers anscheinend abstrakt definiert, aber durch Zuschreibungen wie etwa der Kopplung von politischen Rechten an den Militärdienst oder durch die den entstehenden bürgerlichen Gesetzbüchern eingeschriebenen Geschlechterordnungen eindeutig männlich markiert. Damit wurde ein Teil der weiblichen Bevölkerung aus der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen, der sie noch einige Jahre zuvor angehört hatte.

Wie aber gestalteten sich diese Sphären aus, wenn etwa wie im polnischen Fall in der Zeit vor der fremdnationalen Überschichtung, ein starker Zentralstaat gegen den sich eine (bürgerliche) Öffentlichkeit hätte konstituieren müssen, nicht existiert hatte und nach dem Verlust der Unabhängigkeit die Gegenüberstellung Staat – Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit – Privatheit eine zusätzliche Brechung erfuhr? Welche Handlungsräume standen den Akteur/innen in einem Gemeinwesen offen, das noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein keine strikte Trennung zwischen politischer Öffentlichkeit und familiärer Privatheit kannte, da die Adelsfamilie, der Adelshof als Orte politischer Aushandlungsprozesse von großer Bedeutung waren? Die Ausbildung eines Konzepts des Staatsbürgers verlief also aus geschlechterhistorischer Perspektive durchaus abweichend vom westlichen Muster; Defizite können nur ausgemacht werden, wenn von einer unreflektierten Norm des Staatsbürgers westeuropäischer Prägung ausgegangen wird.

Zugleich kann aber festgestellt werden, dass sich bestimmte Strategien der Rollenzuweisung im Nationsbildungsprozess in Ost und West sehr ähnlich entwickelten: Für das 19. Jahrhundert trifft man in fast allen Regionen Europas auf die Festlegung von Frauen auf die Rolle der biologischen bzw. kulturellen „Reproduzentinnen“ der Nation und damit auf ihre anscheinend „natürliche“ Bindung an Haus und Familie. Diese Zuschreibungen wurden nicht zuletzt durch vorgeblich allgemeine, geschlechtsneutrale Gesetzbücher befestigt, die im Zuge der Zentralisierung und Verrechtlichung im modernen Staatsbildungsprozess in ganz Europa (und darüber hinaus) zur Anwendung kamen und damit einen Transfer von Geschlechterrollen einleiteten. Diese Zuschreibung erwies sich als ausgesprochen wirkungsmächtig. Blickt man auf die europaweit entstehende Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass die Solidarisierung von Frauen, die für die gleichen Ziele eintraten – wie etwa Wahlrecht oder Bildungschancen –, oft durch ethnische und andere Fragmentierungen verhindert wurde (so etwa im Falle der polnischen und ukrainischen Frauenbewegungen). Die Überlagerung des Identitätsmusters Geschlecht etwa durch die Majorisierung der Frauenbewegung durch osteuropäische Nationalbewegungen zeigt die Kontextgebundenheit und Wandelbarkeit solcher Identitätsmuster an. Damit liefert gerade die Geschichte Osteuropas ein weiteres Indiz dafür, dass nichts falscher wäre, als die Kategorie Geschlecht zur Essentialisierung der Identität der jeweiligen Akteur/innen zu benutzen, sondern dass die Forschung jeweils situativ Kategorien wie etwa Klasse, Geschlecht oder Ethnizität zu gewichten hat. Dies bei der Betrachtung der ethnisch, kulturell und konfessionell fragmentierten Landschaft Mittel- und Osteuropas von vornherein immer mitdenken zu müssen, scheint ein weiterer heuristischer Vorteil gegenüber einer sehr viel homogener gedachten „allgemeinen“ Geschichte zu sein.

Blickt man auf die europäische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, so fällt auf, dass aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive die Blocktrennung sehr viel weniger undurchlässig erscheint, als es die Beschreibung des „Ostblocks“ durch die „allgemeine“ Geschichte vermuten lässt. Dies sei knapp am Transfer des sowohl politischen als auch wissenschaftlichen Konzepts der Zivilgesellschaft erläutert. Wie Wolfgang Schmale erneut in diesem Themenschwerpunkt überzeugend dargelegt hat, war die westeuropäische Integration nach 1945 durch eine starke Wertorientierung geprägt. Schmale konstatiert dazu eine überraschende Nähe zu den Entwicklungen innerhalb osteuropäischer Dissidentenkreise. In dieser Perspektive begann die „Osterweiterung“ bereits im KSZE-Prozess in den 1970er-Jahren. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs definierte sich Europa vor allem durch den Begriff der „Identität“ der mit den Phänomenen Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Schutz der Menschenrechte in Verbindung gebracht wurde: Diese Kategorien sind aber keineswegs „universal“, sondern in ihrer Bedeutung für die beiden Geschlechter in unterschiedlichen Handlungskontexten durchaus unterschiedlich geprägt. Die universale Menschenrechtsrhetorik der osteuropäischen Oppositionsbewegungen brachte frauenpolitische Anliegen zum Verstummen und diskreditiert diese bis heute, da nun eine politische Öffentlichkeit etabliert wurde, die vorgab allgemeine Rechte zu befördern, aber nicht darüber reflektierte, dass anscheinend allgemeinen Begriffen weiterhin bestimmte Geschlechterbilder eingeschrieben waren. Die Relationalität dieser Begriffe wird etwa bei der jeweiligen Konstruktion von sozialer Gerechtigkeit durch unterschiedliche Gleichheitsvorstellungen in Ost und West deutlich. Sie weisen Männern und Frauen einen jeweils anderen Platz in der Gesellschaft zu. Betrachtet man die aktuellen politischen Diskurse in den neuen EU-Mitgliedstaaten so fällt auf, dass das Konzept der Zivilgesellschaft mitnichten geschlechtsneutral bzw. universal verstanden wird, sondern sehr stark eine Identitätspolitik in den Mittelpunkt rückt, die mit den Kategorien Geschlecht oder Ethnie verbundene Identitäten zu gesellschaftlichen Platzanweisern werden lässt.

Gerade der Kategorie Geschlecht kommt dabei erneut eine ausgesprochen wichtige Funktion für die Hierarchisierung gesellschaftlicher Rollen zu, wie etwa Debatten über die Bewertung und das historische Erbe der staatsozialistischen Epoche demonstrieren. Die vergangene Epoche wird diskursiv als etwas Fremdes und Unnatürliches bestimmt: das negativ konnotierte „Sowjetmatriarchat“ oder die doppelte Fremdheit des ostdeutschen Teilstaates, die etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Jahr 1992 durch den Satz „Nichts war für die DDR so typisch wie die DDR-Frau“ auf den Punkt gebracht wurde, sind dafür sprechende Beispiele. Gesellschaftliche und politische Umbruchsprozesse werden so in das jeweilige Selbstbild durch die Verwendung von hierarchisierenden Geschlechterbildern integriert. Doch nicht nur aktuelle politische Debatten über die Periode des Staatssozialismus arbeiten mit spezifischen Geschlechterbildern; auch Forschungskonzepte wie etwa das der „Fürsorgediktatur“, das die Spezifik staatssozialistischer Wohlfahrtsstaatlichkeit in einem autoritären Umfeld beschreibt, reflektieren häufig zu wenig, inwieweit Geschlechterrollen einer Analyse staatlicher Sozialpolitik eingeschrieben sind und deren Bewertung determinieren.

Das reflexive Potential einer Osteuropäischen Geschichte, die die Kategorie Geschlecht zum Instrument der historischen Analyse macht, ist unzweifelhaft gegeben. Dabei befinden sich sowohl die Osteuropäische als auch die Geschlechtergeschichte, was ihre fachliche Institutionalisierung angeht, in einer nicht ganz unproblematischen Situation: Wird auf einer institutionell abgegrenzten Verankerung beharrt, kann eine Ghettoisierung drohen. Integriert man sie in die „allgemeine Geschichte“, droht vielleicht ein Verschwinden bzw. zumindest eine zu schwache disziplinspezifische Profilierung. Die Kategorie Geschlecht sollte jeder Forschende berücksichtigen. Nicht jeder Historiker muss ein Osteuropaspezialist sein, aber jeder sollte über den Konstruktcharakter von Raumvorstellungen und angeblich „allgemeinen“ Konzepten reflektieren. Wenn Weiblichkeitsdiskurse und Raumvorstellungen nur reproduziert werden, sind das auf jeden Fall Argumente gegen eine zu starke Institutionalisierung.

Neben der fachlichen Institutionalisierung bleibt wichtig, dass sich die Geschichte Osteuropas durch Forschungen zu Vergleich und Transfer über ihre wie auch immer definierten regionalhistorischen Fachgrenzen hinaus profiliert – nur so können neue, nicht essentialistische Kategorien entwickelt werden, die den Allgemeinheitsanspruch einer nicht regional „vorbelasteten“ Geschichte in Frage stellen. Somit bleibt die Osteuropäische Geschichte auf der Forschungsagenda, denn das Zentrum kann nur durch die Untersuchung der Zentrums-Peripherie-Diskurse herausgefordert werden. Dabei sollte Osteuropa oder Ostmitteleuropa tatsächlich als Diskurs- und Strukturraum begriffen und immer wieder neu definiert werden. Wenn dabei zeitweise die „Grenzen Osteuropas“ aufgehoben oder neu bestimmt werden, sehe ich das nicht als Bestandsgefahr unseres Faches, sondern als selbstbewussten Umgang mit Kategorien und Zuschreibungen, den wir uns als Forschende ruhig zutrauen können.

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte wie die Osteuropäische Geschichte bleiben wichtig, will man den Zusammenhang zwischen der realhistorischen Grundlage und dem historischen Konstruktivismus verstehen (Jürgen Kocka). Sowohl Frauen als Frauen bekamen und bekommen in der Gesellschaft einen bestimmten Platz zugewiesen als auch Osteuropa in Europa. Die historische Forschung muss einen Zusammenhang herstellen zwischen den multiplen Erfahrungen einerseits und den Identitätszuschreibungen durch wirkungsmächtige Kategorien andererseits. Tagtäglich wird im universitären Alltag deutlich, dass diskursive Zuschreibungen in ganz realen Formen der Macht- und Ressourcenverteilung münden: Die Stellung der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Osteuropäischen Geschichte an deutschen Universitäten ist trotz ihres jeweiligen heuristischen Potentials keineswegs komfortabel.

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