Revolution and Religion in European Comparison

Revolution and Religion in European Comparison

Organisatoren
Martin Schulze Wessel, Daniel Schönpflug
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2003 - 06.12.2003
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Von
Christian Scharnefsky, Freie Universität Berlin

Revolution und Religion wurden – ausgehend von den Selbstdeutungen revolutionärer Akteure – lange Zeit als gegensätzliche Sphären angesehen. Emblematischer Ausdruck dieses dichotomischen Verhältnisses waren die Priesterverfolgungen in der Französischen und der Russischen Revolution. Auch wenn die frühen Deutungen der Französischen Revolution, etwa von Edgar Quinet oder Jules Michelet, bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Dichotomie hinterfragten, war die Revolutionsforschung des 20. Jahrhunderts lange Zeit völlig blind für die religiöse Dimension der fundamentalen Umbrüche in der Moderne, die vor allem als politisches und soziales, also als säkulares Geschehen gedeutet wurden. Erst mit der Entstehung einer Kulturgeschichte der Revolution, verbunden vor allem mit dem Namen Michel Vovelle, begann die französische Forschung das Ineinanderwirken von Religion und Revolution zu ergründen. Dies führte im Laufe der Jahre zu einer weitgehenden Umdeutung gängiger Revolutionskonzepte. Die Vorstellung, in den modernen Revolutionen werde eine religiös fundierte politische Ordnung durch eine säkulare ersetzt, war damit nicht mehr haltbar. Mit dem Ende der Sowjetunion und ihrer staatlich verordneten Geschichtsbilder begann diese Sicht auch in Rußland Fuß zu fassen.

Diese jüngeren Entwicklungen in der Revolutionshistoriographie bildeten den Ausgangspunkt der von Martin Schulze Wessel (München) und Daniel Schönpflug (Berlin) veranstalteten internationalen Tagung "Revolution and Religion in European Comparison", die vom 4. bis 6. Dezember 2003 im Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas stattfand. Ziel dieses Treffens von Forschern aus Frankreich, Rußland, USA und Deutschland war es, die in verschiedenen nationalen Kontexten gewonnenen Erkenntnisse über den Zusammenhang von Revolution und Religion vergleichend zusammenzubringen. Der thematische Schwerpunkt lag dabei auf der Französischen und der Russischen Revolution. Die Tagung wurde durch die großzügige Förderung der Fritz Thyssen Stiftung, der Deutsch-Französischen Hochschule und der Französischen Botschaft möglich gemacht.

Die Organisatoren legten in ihrem Einführungsreferat die Chancen und Grenzen einer europäisch vergleichenden Herangehensweise an das Thema dar. Auch wenn der Revolutionsvergleich im Allgemeinen ein gut etablierter Forschungszweig sei, könne ein vergleichender Blick auf Revolution und Religion 1789 und 1917 – abgesehen von Arno Mayers Studie "The Furies" – kaum auf Vorhandenem aufbauen. Ziel des Vergleiches sei einerseits das Herausarbeiten der jeweiligen religionsgeschichtlichen Spezifik von Französischer und Russischer Revolution und eventuell das Konstruieren von Typen, andererseits aber verallgemeinernd die Ermittlung der Rolle, welche die Religion – also das zentrale Deutungsmuster traditionaler Ordnungen – in den Umbrüchen zur Moderne spielte. Welche Konsequenzen das Fortwirken und die Transformation von Religion für die Moderne habe, sei nicht ohne einen differenzierten Blick auf die vorrevolutionäre Religion möglich. Nur so könne etwa gezeigt werden, daß sowohl der Macht- und Vereinheitlichungsanspruch der Staatsreligionen als auch der den Pluralismus befördernde religiöse Dissens in den Revolutionen kontinuiert und transformiert werden. Darüber hinaus stelle sich angesichts der Französischen und Russischen Revolution auch die Frage des Transfers. Gerade in Fragen der Religionspolitik müsse besonderes Augenmerk auf die Lern-, Imitations- und Aneignungsprozesse der russischen Revolutionäre gelegt werden. Drei Fragenkomplexe sollten dementsprechend die Tagung strukturieren: Erstens sollte nach den Prozessen langer Dauer - Säkularisierung, Delegitimierung von Staat und Kirche, religiöser Dissens - gefragt werden, welche Revolutionen vorbereiten. Zweitens stellte sich die Frage nach dem Stellenwert von Kirchen, Klerus und Religion in der Revolution. Drittens sollte die Frage aufgeworfen werden, in welchem Maße Strukturanalogien und Vermittlungen zwischen religiösen Weltentwürfen und Revolutionsideologien nachzuweisen sind. Rod Aya (Amsterdam) ergänzte die einführende erste Sektion der Konferenz durch eine Einführung in die rational choice theory als Erklärungsmuster für Revolutionen.

Die zweite Sektion (»Secularisation and Revolution«) eröffnete Claude Langlois (Paris) mit einem Einblick in die säkularisierenden Wirkungen der Französischen Revolution für Politik, Kirche und Gesellschaft in Frankreich. Dabei ging er insbesondere darauf ein, daß sich die Franzosen künftig als politische Staatsbürger (citoyens) und nicht in erster Linie über ihre Religion definieren sollten. Weitere Folgen der Revolution waren die Zivilverfassung des Klerus und die Einführung der Zivilehe. Säkulare Tendenzen, so Claude Langlois, habe es auch schon vor 1789 gegeben, die Revolution habe diesen Prozeß jedoch erheblich beschleunigt.

Gregory Freeze (Waltham, Massachusetts) lenkte den Blick auf Rußland und legte dar, daß dort vor der Revolution von 1917 weniger ein Säkularisierungsprozeß als vielmehr innerkirchliche Veränderungen eingesetzt hatten, die sich ihrerseits förderlich auf die Entwicklung hin zur Revolution auswirkten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sei eine zunehmende Entfremdung zwischen Thron und Altar zu beobachten gewesen. Neben dieser Krise in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat habe es auch eine Krise innerhalb der Orthodoxen Kirche gegeben, die sich vor allem im Konflikt zwischen der Amtskirche und innerkirchlichen Erneuerungsbewegungen zeigte. Hinzu kam die zunehmende Toleranz des Zaren gegenüber religiösen Minderheiten, die die dominierende Stellung der Orthodoxen Kirche bedrohte. So sei die Kirche in Rußland durchaus an politischen Veränderungen interessiert gewesen, obwohl sie selbstverständlich keine sozialistische Revolution anstrebte.

Etienne François (Berlin / Paris) hob in seinem Kommentar zur Sektion noch einmal hervor, welche starke Stellung die Kirchen in Frankreich und Rußland vor 1789 bzw. 1917 besaßen, daß aber auch schon vor der Revolution Wandlungen im religiösen Leben und innerhalb der kirchlichen Institutionen eingesetzt hatten. Dabei ging er besonders auf das gespannte Verhältnis zwischen den Amtskirchen und den religiösen Minderheiten ein und warf die Frage auf, welche Bedeutung die Erinnerung an ältere religiöse Konflikte in diesem Zusammenhang gehabt haben könnte. In der anschließenden Diskussion ging es dann vor allem darum, wie sich nach der Zurückdrängung der Großkirchen durch die Revolutionen von 1789 und 1917 die Glaubenspraxis in der Bevölkerung weiterentwickelt hatte. Während Claude Langlois die Auffassung vertrat, die "religiöse Energie" sei nach 1789 in Frankreich überwiegend in "politische Energie" übergegangen, wies Gregory Freeze nach, daß Religion für die russische Bevölkerung nach 1917 weiterhin eine bedeutende Rolle spielte, auch wenn eine öffentliche Religionsausübung nicht mehr möglich war. Insgesamt wurde in dieser Sektion deutlich, daß die einstige These, die Revolution sei eine Folge von Säkularisierungsprozessen und verstärke diese, als weitgehend widerlegt gelten kann.

Die dritte Sektion (»Mutual Delegitimisation of Church and State«) setzte die Debatte über das Verhältnis von Kirche und Staat fort. Sheryl Kroen (Gainesville, Florida) nahm dabei das 18. Jahrhundert zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, legte ihren thematischen Schwerpunkt jedoch auf die Zeit der Restauration (1814 – 1830). Sie untersuchte die Frage, ob es den aus dem Exil zurückgekehrten Bourbonen gelang, der Monarchie ihre göttliche Autorität wiederzugeben, die durch die Revolution zerstört worden war. Sheryl Kroen stellte fest, daß sich die Bourbonen zwar um eine Re-Sakralisierung des politischen Raumes bemühten, dabei aber gewisse durch die Erfahrung der Revolution gesteckte Grenzen anerkannten. Das zeigte sich nicht zuletzt in der ablehnenden Haltung des Königs gegenüber einer allzu eifrigen von den Jesuiten ausgehenden Missionsbewegung. Die Disziplinierung dieser gegenrevolutionären Missionare, die die alte christliche Ordnung wiederherstellen wollten, durch die Monarchie selbst trug langfristig sogar zur weiteren Säkularisierung des Staates und zur Schwächung der Kirche bei.

Sergej Firsov (Sankt Petersburg), der kurzfristig absagen mußte und dessen Referat deshalb verlesen wurde, bezog sich wiederum direkt auf die Jahre 1905 – 1917. Im Gegensatz zu Gregory Freeze ging Firsov nicht von einer Krise in den Beziehungen zwischen Thron und Altar aus, sondern zeichnete das Bild einer sehr engen Allianz. Deshalb habe der im Laufe der Entwicklung bis 1917 immer stärkere Autoritätsverlust des Zaren gleichzeitig auch zu einer Delegitimierung der Orthodoxen Kirche geführt.

Hartmut Kaelble (Berlin) bezog sich in seinem Kommentar deshalb vor allem auf Sheryl Kroen. Er hielt es für aussichtsreich, die Beziehungen zwischen Revolution und Religion in einer Langzeitperspektive zu betrachten und stellte die Frage, ob – angesichts der Ergebnisse von Sheryl Kroen – die Restauration in Frankreich nicht als der eigentliche Sieg des säkularen Staates gelten müsse. Diese Frage bildete auch einen Schwerpunkt in der Diskussion und wurde dahingehend beantwortet, daß man die Restauration zwar nicht als Sieg, aber doch als wichtigen Wendepunkt der Säkularisierung ansehen könne und daß man daher den revolutionären Bruch nicht überbewerten dürfe. Insgesamt wurde deutlich, daß die Krise des Ancien Régimes in Frankreich und Rußland ihre Ursprünge sowohl in der jeweils auf den anderen ausstrahlenden Schwäche der Institutionen, als auch in der Vervielfältigung der Konflikte zwischen beiden hat.

Die vierte Sektion (»Religious Groups as revolutionary actors«) widmete sich in mehreren Fallstudien der Rolle religiöser Gruppen in den Revolutionen von 1789 und 1917. Am Anfang standen die Überlegungen Dale van Kleys (Columbus, Ohio) zur Bedeutung der patriotischen Bewegungen im vorrevolutionären Frankreich und ihrem Bezug zur Religion. Für Dale van Kley hatten diese Bewegungen eine wichtige Brückenfunktion beim Übergang von einer religiös geprägten Politik zu einer Politik im Zeichen einer säkularen Ideologie.

Ein anderes Beispiel für religiöse Gruppen als revolutionäre Akteure sind dabei die sogenannten »Roten Priester«, die ihr Vorbild in den »Prêtres Rouges« der Französischen Revolution hatten. Diese »Roten Priester« standen im Mittelpunkt des Vortrags von Edward Roslof (Moskau). Dabei handelte es sich um eine Gruppe orthodoxer Priester, die nach dem Sieg der Revolution von 1917 den Versuch unternahmen, Bolschewismus und Christentum miteinander in Einklang zu bringen. Sie wollten zum einen die hierarchische Struktur der Kirche reformieren und zum anderen die Bolschewisten davon überzeugen, daß christliche Grundsätze und eine erneuerte Kirche auch ihren Platz in der neuen sozialistischen Ordnung haben müßten. Damit gerieten die »Roten Priester« zwischen alle Fronten, konnten aber in den 1920er Jahren innerhalb der Kirche einen gewissen Einfluß gewinnen.

Alexander Etkind (Sankt Petersburg) beschäftigte sich in seinem Vortrag anschließend mit der Rolle religiöser Sekten im Vorfeld der Russischen Revolutionen von 1905 und 1917. In der Vorstellung der späteren Revolutionäre waren die Mitglieder religiöser Sekten mögliche Verbündete im Kampf gegen die alte Ordnung, denn in ihren Augen war die Abwendung von der dominierenden Staatskirche zugleich auch ein Zeichen für die Abwendung von dem mit ihr eng verbundenen politischen System. So wurden die Sekten zum Thema umfangreicher ethnologischer und theoretischer Abhandlungen und Debatten. Bei den revolutionären Ereignissen 1905 und 1917 spielten sie als solche jedoch keine aktive Rolle. Alexander Etkind schloß daraus, daß die Bedeutung der religiösen Sekten nicht in ihrem konkreten Handeln lag, sondern in dem Bild, das die russischen Intellektuellen von ihnen hatten und in ihre Revolutionstheorien eingehen ließen.

Todd Weir (Berlin / Columbia) sah in seinem Kommentar die Gemeinsamkeiten der patriotischen Bewegungen in Frankreich und der religiösen Sekten in Rußland vor allem darin, daß hier der religiöse Dissens dem politischen vorausgehe, während im Fall der »Roten Priester« das Gegenteil der Fall sei. Diese Bemerkung eröffnete eine intensive Diskussion über den Vergleich zwischen den »Prêtres Rouges« von 1789 und den »Roten Priestern« von 1917. Dabei wurde nicht zuletzt deutlich, in welchem Maße das Vorbild der Französischen Revolution insgesamt auf die Theorie und Praxis der Russischen Revolution wirkte und welche Traditionslinien im Verhältnis von Revolution und Religion bestanden.

Die fünfte Sektion (»Revolutionary State and Revolutionary Church«) behandelte dann die Situation der Kirchen nach der Revolution. Bernard Plongeron (Paris) gab in seinem Vortrag einen Überblick über das Leben und Wirken des Abbé Grégoire (1750 – 1831), der sich nach der Verabschiedung der Zivilverfassung des Klerus im Juli 1790 um eine innerkirchliche Demokratisierung im Einklang mit den Prinzipien der Revolution bemühte. Dabei stand Grégoire vor dem Problem, daß der Papst die Zivilverfassung des Klerus ablehnte und alle Priester, die den Eid darauf ablegten, zu Schismatikern erklärte. Die katholische Kirche in Frankreich versuchte dennoch, treu zum Papst und zugleich loyal zur Republik zu bleiben und konnte dadurch schließlich auch ihren Weiterbestand sichern.

Michail Skarovskij (Sankt Petersburg) beschrieb das Parallelbeispiel der Russisch- Orthodoxen Kirche, die sich nach 1917 bemühte, sich gegenüber der Sowjetmacht zu behaupten. Dabei wurde deutlich, daß auch gemäßigtere Reformgruppen innerhalb der Kirche kaum Aussicht auf Erfolg hatten und sich dem Vorwurf ausgesetzt sahen, nur ein Instrument der Bolschewisten zu sein.

Matthias Middell (Leipzig) leitete seinen Kommentar damit ein, daß die zwei vorgestellten Fallbeispiele aus dem 18. und aus dem 20. Jahrhundert doch recht unterschiedlich seien und es nicht leicht sei, eine vergleichende Perspektive einzuführen. Einen möglichen Ansatz sah er aber in der Frage, wie "radikal" die Russische Revolution in ihrer Kirchenpolitik im Vergleich zur Französischen Revolution gewesen sei und welchen religiösen Hintergrund die führenden Revolutionäre selbst hatten. Hier scheint ein weiteres besonders geeignetes Feld für die Untersuchung von Erinnerungs- und Transferprozessen zu liegen. Die russischen Revlutionäre versuchten, aus den Fehlern ihrer französischen Vorgänger zu lernen. Dies könnte ein Grund für die außerordentliche Härte sein, mit der nach 1917 gegen die Kirche vorgegangen wurde.

Die sechste Sektion (»Revolutionary Cults«) nahm dann den quasireligiösen Charakter revolutionärer Kulte in den Blick. Jean-Claude Bonnet (Paris) stellte mit dem Kult um Marat die zweifellos ausgeprägteste Form der Verehrung eines Führers der Französischen Revolution vor. Der Kult um seine Person setzte mit der Ermordung Marats am 13. Juli 1793 ein, fand aber schon zwei Jahre später mit seinem Verstoß aus dem Panthéon wieder ein abruptes Ende. Dazwischen lag jedoch eine Phase, während der in ganz Frankreich regelmäßige Totenfeiern für ihn abgehalten und Marat-Büsten aufgestellt wurden. Die Verehrung eines Menschen, der sich selbst als »L’Ami du peuple« bezeichnet hatte, lag der Bevölkerung näher als etwa der abstrakte »Kult um die Vernunft« und um »Das Höchste Wesen«. Außerdem erlaubte es der Kult um Marat, religiöse Gefühle auszuleben, die zugleich ganz im Zeichen der Republik standen.

Benjamin Schenk (München) analysierte anschließend den Kult um Lenin im Sowjetrußland der 1920er Jahre. Lenin galt schon zu Lebzeiten als unbestrittener Führer der bolschewistischen Revolution und als Verkörperung der neuen Ordnung. Den Kult um seine eigene Person wehrte er jedoch ab. Gleichwohl wurde er nach seinem Tod Gegenstand einer quasireligiösen Verehrung, die ihr Zentrum im Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau hatte. Die Bolschewisten waren sich bewußt, daß mit dem Verschwinden Lenins die Legitimität ihres Regimes in Gefahr geriet, und so mußten sie sich seine Autorität auch über den Tod hinaus sichern. Obwohl der von den Bolschewisten geförderte Lenin-Kult in der Bevölkerung durchaus großen Anklang fand, verdrängte er dennoch die traditionelle orthodoxe Heiligenverehrung nicht, sondern ergänzte sie nur. Im Unterschied zur Anbetung von Heiligen konnte man von der Lenin-Verehrung ja keine göttliche Hilfe erwarten, da sich die bolschewistische Ideologie allein auf das Diesseits bezog. Allerdings war der Lenin-Kult die beste Möglichkeit, seine Loyalität gegenüber der neuen Ordnung zu demonstrieren.

Jutta Scherrer (Paris) zeigte sich in ihrem Kommentar überzeugt, daß gerade der revolutionäre Personenkult ein hervorragendes Feld für den Vergleich von Revolution und Religion in Frankreich und Rußland sei. Sie wies darauf hin, daß Marat und Lenin auf je eigene Weise schon selbst an ihrem Bild für die Zeitgenossen und die Nachwelt gearbeitet hatten. In der folgenden Diskussion wurde außerdem darauf hingewiesen, daß es zum Verständnis des Personenkults auch wichtig sei, die Hinrichtung des französischen Königs 1793 und die Ermordung des russischen Zaren 1917 in ihrer Bedeutung für die Legitimierung der neuen revolutionären Ordnung zu untersuchen. Auch hier war es offensichtlich, wie stark sich die russischen Revolutionäre an ihren französischen Vorbildern orientierten. Darüber hinaus wurde in der Diskussion darauf hingewiesen, daß die Personenkulte – als säkulare Wiederauflage der Königsverehrung einerseits und des Heiligenkults andererseits – ein besonderes Beispiel dafür seien, wie Politik religiöse Muster adaptierte und ihren Bedürfnissen anpaßte.

In der siebten und letzten Sektion ("Religion and Violence") wurde schließlich das Verhältnis von Religion, Revolution und revolutionärer Gewalt behandelt. Jean-Clément Martin (Paris) beschrieb in seinem Vortrag das Ausmaß an Gewalt in der Konfrontation zwischen den Vertretern der Revolution und der Kirche in Frankreich seit 1789. Diese Gewalt eskalierte etwa in der umstandslosen Hinrichtung von Frauen, deren einziges Vergehen darin bestand, die Messe eines revolutionsfeindlichen Priesters besucht zu haben. Dabei war nach Auffassung von Jean-Clément Martin die Ausübung von Gewalt jedoch keine im Verhältnis von Revolution und Religion von Anfang an angelegte Notwendigkeit. Sie sei auch nicht die zwangsläufige Folge einer auf einen radikalen Neuanfang zielenden Ideologie und Bewegung. Revolutionäre Gewalt sei vielmehr die Summe einer Reihe von nicht miteinander in Beziehung stehenden Einzelkonflikten, die sowohl vorrevolutionäre als auch revolutionäre, sowohl religiöse als auch politische, sowohl persönliche als auch zufällige Ursachen haben können. Er legte nahe, die Revolution nicht als einen "Block" (Clemenceau) zu sehen, sondern als ein kontingentes Ereignis, dessen Geschlossenheit und Sinnhaftigkeit erst rückblickende Betrachter postuliert hatten.

Sandra Dahlke (Hamburg) beschäftigte sich in ihrem Beitrag mit den bolschewistischen Kampagnen gegen die russisch-orthodoxe Kirche. Ausgehend von den Gewalttaten gegenüber Priestern und Gläubigen während des Bürgerkrieges untersuchte sie die veränderte Taktik der Sowjetmacht in den Jahren 1923 – 1928, die durch einen weitgehenden Verzicht auf gewaltsame Konfrontation gekennzeichnet war. Stattdessen wollten die Bolschewisten ideologische Bildungs- und Überzeugungsarbeit leisten und riefen zu diesem Zweck die »Liga der Gottlosen« ins Leben. Dieser Liga sollten möglichst viele Menschen beitreten, um dann im ganzen Land Propagandakampagnen gegen die Kirche und den christlichen Glauben durchzuführen und für die neue – atheistisch geprägte – sowjetische Gesellschaft zu werben. Diese Aktionen hatten jedoch kaum Erfolg, und so löste sich die »Liga der Gottlosen« in den 1930er Jahren wieder auf.

Julia Khmelevskaya (Chelyabinsk) nahm in ihrem Vortrag (den sie gemeinsam mit Igor Narsky erarbeitet hatte) eine andere Perspektive ein. Sie untersuchte nicht die Gewalt des bolschewistischen Staates gegen die Kirche, sondern analysierte in erster Linie die Art und Weise, in der Vertreter der Orthodoxen Kirche während des Bürgerkrieges 1918 – 1921 die Anwendung von Gewalt auf der Seite der Weißgardisten, also der Feinde der Revolution, gegen die Bolschewisten gerechtfertigt hatten. Sie warf die Frage auf, in welchem Maße religiöse oder pseudoreligiöse Argumente Gewalt und Widerstand gegen Verfolgung legitimieren können und gab damit Anstöße zur Diskussion.

Thomas Höpel (Leipzig) unterstrich in seinem Kommentar, daß die Kirche sowohl in Frankreich als auch in Rußland immer als Teil der Konterrevolution gesehen und deshalb häufig gewaltsamer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Er betonte jedoch in Übereinstimmung mit Jean-Clément Martin, daß im Gegensatz zu Rußland die Revolutionäre in Frankreich nicht von vornherein prinzipiell gegen die Kirche eingestellt und zu Gewaltaktionen entschlossen gewesen seien. Revolutionäre Gewalt sei nicht nur das Ergebnis bestimmter Umstände, sondern auch das Mittel extremistischer Gruppen innerhalb der revolutionären Bewegung. Den Schwerpunkt der anschließenden Debatte bildete die Frage, ob sich Gewalt im Rahmen einer Revolution gezielt planen lasse, ob sie einer "kumulativen Radikalisierung" unterliege oder ob sie überwiegend spontan entstehe und dann kaum zu kontrollieren sei. Es wurde zudem angeregt, das Problem von Revolution, Religion und Gewalt künftig auch einmal am Beispiel der Chinesischen Kulturrevolution zu untersuchen, wo sich bestimmte Aspekte möglicherweise noch deutlicher als in Frankreich oder Rußland zeigen würden.

Für die beiden Veranstalter Martin Schulze-Wessel und Daniel Schönpflug war es am Ende der dreitägigen Konferenz eine nicht geringe Herausforderung, die vielen behandelten Aspekte des Themas »Revolution und Religion im europäischen Vergleich« zu bündeln und in der Schlußdiskussion (»Transformation of Religion through Revolutions – a Means to Civil Society?«) unter der Frage nach den Beziehungen zwischen Revolution, Religion und Zivilgesellschaft zusammenzuführen. Ihnen gelang jedoch ein überzeugendes Fazit: Der Vergleich zwischen Frankreich und Rußland sei möglich, weil das zum Vergleichen nötige Minimum an Ähnlichkeiten existiere. Erstens gab es in beiden Ländern vor der Revolution sowohl eine starke Staatskirche, als auch innerkirchliche Erneuerungsbewegungen und religiösen Dissens; in beiden Ländern existierten Krisen im Verhältnis von Kirche und Staat, die mit dem Begriff Säkularisierung nur unzureichend beschrieben sind. Alle drei Phänomene trugen auf ihre Weise zur Destabilisierung des Ancien Régime bei und sorgten für die mentale und personelle Formierung einer revolutionären Bewegung. Zweitens lavierten beide Revolutionen zwischen radikal anti-klerikalen und kirchenreformerischen Positionen, die auf der Seite der Kirche ihr Echo in konterrevolutionären bzw. auf einen Neuanfang der Kirche zielenden Positionen fanden. Drittens hatten die revolutionären Ideologien in beiden Ländern selbst quasireligiösen Charakter, der sich am plakativsten in den revolutionären Kulten zeigte. Sowohl was die revolutionäre Kirchenpolitik angeht, als auch im Kontext der politischen Religionen waren die russischen Revolutionäre lernbegierige Schüler ihrer französischen Vorgänger.

Die im Vergleich herausgearbeiteten differenzierten Ergebnisse können zu zwei Thesen über die Bedeutung der Religion für die Moderne zusammengefaßt werden. Zum einen ist offensichtlich, daß das Bedürfnis nach Staatsreligionen mit den Revolutionen keineswegs beendet war. Daraus erklären sich sowohl die Versuche, die Kirchen zu revolutionieren als auch die Ansätze zur Schaffung revolutionärer Religionen. Solche Modi der Legitimierung scheinen besonders den Formen moderner Politik zu eigen, deren Veränderungsimpuls und deren Gegner besonders stark waren. Zum anderen ist deutlich, daß der politische Protest in der Moderne auf einer langen Geschichte des religiösen Protestes aufruht. Diese Transformation ist ein wichtiger Baustein für die Erklärung von Revolutionen. Sie erklärt aber auch, warum erfolgreiche Revolutionen zumeist nicht tolerant gegenüber Dissidenten waren. So ist die Entstehung einer Denkweise, die religiöse oder politische Pluralität zuläßt, eine nachrevolutionäre Entwicklung, die allerdings die traumatischen Erfahrungen von Revolutionen verarbeitet. Erst in der Befriedung revolutionärer Kämpfe kann die Zivilgesellschaft gedeihen.

Die Berliner Konferenz konnte freilich nur ein Anfang für die Beschäftigung mit diesen Fragen sein. Gerade deshalb werden künftige Forschungen aber auch mit Gewinn auf die Beiträge der Tagung zurückgreifen, die demnächst als Sammelband veröffentlicht werden sollen.

http://www.fu-berlin.de/zvge
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