HT 2004: Zeitverständnis und Herrschaftsakzeptanz im 20. Jahrhundert

HT 2004: Zeitverständnis und Herrschaftsakzeptanz im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Martin Sabrow
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2004 -
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Von
Christopher Görlich, Potsdam

Der Historikertag in Kiel stand ganz im Zeichen des Raumes. In einer sehr gut besuchten Sektion wandte sich Martin Sabrow, zur Zeit stellvertretender Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hingegen der Zeit-Kategorie zu. Einleitend verwies Sabrow, der vor allem über die Legitimation der deutschen Diktaturen arbeitet, auf das breite Panorama unterschiedlicher Zeitvorstellungen, die im Laufe der Geschichte zu beobachten sind. Schon die Zeit habe ihre eigene Zeit, wie seit Einstein bekannt ist; auch Menschen und Organe leben mit ihren spezifischen Zeiten. Viel zu wenig Beachtung fände in der Geschichtswissenschaft jedoch die Tatsache, dass auch Gesellschaften eigene Zeitvorstellungen und unterschiedliche Zeitwahrnehmungen hervorbringen. Die Zeitwahrnehmung spiele dabei gerade für die politische Ordnung eine Rolle, die es noch zu entdecken gilt, konstatierte Sabrow. Denn welche Bedeutung das jeweilige Zeitverständnis für die Herrschaft selbst, ihre Akzeptanz und die Stabilität der Gesellschaft entfalte, sei weitgehend ungeklärt. Sabrow steckte mit seinen Ausführungen ein weites Feld ab, das sechs Referenten zu erschließen suchten.

Ausgehend vom Diktum Ernst Blochs – „Nicht alle sind im selben Jetzt da“ – wandte sich Martin Geyer (München), der über „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Weimarer Republik“ sprach, den „fragmentierten Zeitstilen“ zu, durch die die Weimarer Republik gekennzeichnet sei. In der Revolution habe es ein verbreitetes Bewusstsein des revolutionären Aufbruchs gegeben, das das Alte überwinden wollte; neue Städte, neue Menschen, neue Lebensgemeinschaften sollten geschaffen werden. Die politische Reaktion hingegen wollte die „Zeit zurückdrehen“ und so erlebte die Weimarer Republik einen Kampf zwischen unterschiedlichen Zeitauffassungen, der sich u.a. im politischen Vokabular der Republik mit Worten über die „Fortschrittlichen“ und die „Zurückgebliebenen“ sowie in der vehementen Diskussion um den Generationenbegriff ausdrückte. Gleichwohl mangelte es nicht an Tendenzen, die unterschiedlichen Zeitauffassungen zu vereinheitlichen. So wurde erst in der Weimarer Republik die landesweit einheitliche Zeit, die Normalzeit, verstärkt propagiert und verbreitet. Uhren selbst wurden zu Symbol des Fortschrittes und gaben das Versprechen der Integration einer heterogenen Gesellschaft. Doch scheiterte die Weimarer Republik bei der Suche nach einer gemeinsamen Vergangenheit.

Georg Wagner-Kyora (Hannover) untersuchte „Gegenwartsdiagnosen und Zukunftserwartungen im westdeutschen Wideraufbaudiskurs auf kommunaler Ebene“ am Beispiel des Braunschweiger Stadtschlosses. In den vierzig Jahren zwischen dem Abriss in den sechziger Jahren und gegenwärtig beschlossenen rekonstruierenden Wiederaufbau hat sich offensichtlich die Wahrnehmung historische Baudenkmäler verändert, die maßgeblich vom jeweiligen Zeitverständnis der Akteure geprägt ist.

1960 besiegelte die alleinregierende SPD im Stadtrat den Abriss. Die Abneigungen gegen das im Schloss repräsentierte Herzogtum, vor allem aber die Belastung des Gebäudes als SS-Führerschule, die mit ihrem 9jährigen Bestehen alle anderen Epochen überwölbte, gaben den Ausschlag für die Abrissentscheidung. Dass das Schloss auch eine durchaus bedeutende Stätte revolutionärer Kämpfe gewesen war, blieb völlig ausgeblendet. Diese historischen Argumente flossen jedoch nur am Rande in die öffentliche Diskussion um den Abriss des Schlosses ein. Viel entscheidender waren Gegenwartsperspektiven und Zukunftserwartungen, wollte man doch mit dem Neubau einer Stadthalle an der Stelle des Schlosses der Stadt Braunschweig ein neues kulturelles Zentrum schaffen, worin wiederum eine spezifische Form des Zeitverständnisses zum Ausdruck kommt.

Alexander Schmidt-Gernig (Düsseldorf) und Albrecht Wiesener (Potsdam) erörterten sodann Zukunftsvorstellungen in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei sich Alexander Schmidt-Gernig mit der „Globalisierung der Zeit“ in der bundesdeutschen Zukunftsforschung in den sechziger und siebziger Jahren befasste, während Albrecht Wiesener die „Zukunft im Planquadrat“ und die im Städtebau der DDR zum Ausdruck kommende Zukunftserwartung thematisierte.

Eine regelrechte Zukunftsbegeisterung herrschte, als die Zukunftsforschung in den sechziger und siebziger Jahren in der Bundesrepublik vorangetrieben wurde, so Schmidt-Gernig. Man glaubte, in der Gegenwart den größten gesellschaftlich-technischen Umbruch seit der Erfindung des Ackerbaus mitzuerleben. Moderne Großbauten entstanden, die Transportgeschwindigkeiten nahmen behände zu und die Wissenschaft nahm ein immer größeres Ausmaß an. Man hoffte auf Kybernetik, mit der die Prozesse durch Rückkopplung kontrolliert werden sollten, und damit auf Lernprozesse, die zur Herrschaft nach rationalen Geschichtspunkten führen sollte.

So wurden auch die weltweiten Raum- und Zeitbezüge neu gedeutet. Die kommunikative Globalisierung des Raumes und der Zeit aufgrund der neuen Transport- und Informationstechnologien gingen eine enge Kopplung mit der neuen Erfahrung von Zeitlichkeit ein, die die weltweite Ungleichzeitigkeit deutlicher als je zuvor erfahrbar machte. Der entstehende Zukunftsdiskurs war somit geprägt von der Forderung, die Zukunft zu globalisieren.

Albrecht Wiesener legte den Fokus seiner Überlegungen zum Städtebau in der DDR auf die „kluge Synthese zwischen Heute und Morgen“, die Franziska Linkerhand in Brigitte Reimanns gleichnamigen Roman vergeblich zu finden suchte. Wiesener setzte die Entwicklung des DDR-Städtebaus und den gesellschaftlichen Diskurs über die „sozialistische Stadt der Zukunft“ miteinander in Beziehung.

Ein markantes Beispiel, das Wiesener anführte, stellte das kriegszerstörte Rathaus in Halle dar: Der Wiederaufbau des Rathauses wurde abgelehnt, denn eine neue Zeit bräuchte kein altes Rathaus; man sagte, das Rathaus sei zerstört worden, weil die Macht des Bürgertums zerstört worden sei. Mit der neuen Zeit sollte auch eine neue Ordnung einkehren. Weit über die Aspekte des Wiederaufbaus und der Wohnraumplanung hinaus wuchs damit den städtebaulichen Ambitionen eine große gesellschaftliche Bedeutung zu; seit Ende der 50er-Jahre wurde mit der Industrialisierung und Typisierung der Städtebau zum Versprechen des besseren zukünftigen Lebens, zum sozialistischen Zukunftsprojekt.

Diese Zukunftsvision des Städtebaus als konkreter Utopie wich jedoch in den siebziger Jahren einer auf Masse angelegten Wohnraumpolitik, die der Zahl neuer Wohnungen weit mehr Beachtung schenkte als ihrer Verschönerung. Die Zukunftsentwürfe verschwanden.

Rainer Gries (Wien) näherte sich den Fragestellungen der Sektion im Vergleich der DDR und Österreich. Gries ging allerdings weit über seinen Titel „Die Geschichte des Übermorgen. Zeitnarrative in der DDR und in Österreich“ hinaus, in dem er den Zeitnarrativen Raumnarrative gegenüberstellte. „Und der Zukunft zugewandt“, heißt es in der Nationalhymne der DDR. „Land der Berge“ heißt es indes in der Hymne Österreichs. Während in der DDR das Zeitnarrativ mit Ausrichtung auf die Zukunft vorherrschte und das Versprechen auf eine lichte Zukunft ein integraler Bestandteil des Gründungsmythos der DDR war, dominierte in Österreich das ein Raumnarrativ, das sich auf die schöne, idyllische Landschaft bezog. Die Vergangenheit konnte somit ebenso überwunden werden, wie eine österreichische Identität entstand. Die raumgebundene Meisterzählung sprach von der Harmonie des Lebens, vom kleinen, aber schönen Land voller Idylle und Unschuld.

Dergleichen starke Raumbezüge seien in der DDR kaum zu finden, konstatierte Gries, denn die DDR konnte sich schwerlich als natürliches, staatliches Gebilde darstellen. Es war der sozialistische Aufbau, der zukünftige Idylle und das Schlaraffenland versprach, die keinen Ort mehr außer dem sozialistischen Staat mehr bedürften.

Den Reigen der Vorträge schloss Martin Sabrow ab, der die Untersuchung des Zeitverständnisses für den Diktaturvergleich zu nutzen suchte. Vor allem fokussierte Sabrow dabei auf die Fragen, ob der Untergang beider deutschen Diktaturen in Bezug zu ihren unterschiedlichen Zeitvorstellungen gesetzt werden kann.

Sabrow hob den Geschwindigkeitskult hervor, der im italienischen Faschismus genauso wie im Nationalsozialismus zu finden sei, der sich aber auch durch organische Formen der Fortbewegung deutlich von der Hast, Hektik und Unrast der Weimarer Republik abgrenzen wollte, wie nicht zuletzt die scheinbar organisch in die Landschaft hineingebauten Autobahnen suggerieren, bei denen die schönere Streckenführung der kürzesten Verbindung vorgezogen wurde. Der Sozialismus hingegen habe vielmehr auf Geschwindigkeit als Rationalität gesetzt, wie sich in der steten Forderung nach Erhöhung des Produktionstempos zeigt. Somit sei im Sozialismus der Takt, im Nationalsozialismus aber der Rhythmus entscheidend gewesen.

Nach diesen Ausführungen zur Geschwindigkeit wandte sich Sabrow der Kodierung historischer Zeit zu. Das Jahr 1933 sei im Nationalsozialismus als Rückkehr zu einem früheren, besseren Zustand bewertet worden, wie die Kennzeichnung der Vorgänge des Jahres 1933 als „Wiedergeburt“ und „Wiederaufstieg“ andeutet. Offenbar erstrebte der Nationalsozialismus eine Fusion vom Gewesenen und Kommenden, die den Ausgleich zwischen Natur und Technik versprach und die großen Veränderungen der 30er-Jahre für die Bevölkerung ertragbar machen sollte. Der Sozialismus hingegen war ganz der Zukunft zugewandt, wie schon andere Referate gezeigt hatten. Die sozialistische Zukunftserwartung beinhaltete damit nicht das Verschmelzen mit der Vergangenheit wie der Nationalsozialismus es forderte, sondern hoffte auf die Gestaltbarkeit der Zukunft.

Massive Folgen zeigten die Zusammenhänge für die Legitimation der beiden deutschen Diktaturen und ihren Untergang, wie Sabrow abschließend ausführte: Im 2. Weltkrieg sei der Zukunftshorizont drastisch geschrumpft, da das Zeitverständnis aber an der Vergangenheit orientiert war, flüchtete man sich in den Glauben an die Ewigkeit. Und so wird leichter erklärbar, warum sich das NS-Regime bis in die letzten Kriegstage auf großen Zuspruch stützen konnte.

Am Ende der DDR hingegen schwand nicht nur die Zukunftsperspektive, vielmehr entpuppte sich die Gegenwart als stillstehend und langweilig, auch die späte Entdeckung des Erbe-Traditions-Paradigmas konnte der DDR kein stabiles Fundament mehr verschaffen.

Die Sektion zeigte in durchgehend gelungenen und anregenden Vorträgen mit oftmals überraschenden Ergebnissen, dass das Zeitverständnis gesellschaftlicher Ordnungen bisher zu Unrecht viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Die äußerst heterogenen Untersuchungsgegenstände waren dabei kein Nachteil, sondern bewiesen vielmehr die große Tragweite der Fragestellungen, die auf das Problem der Zeitwahrnehmung zielen.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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Deutsch
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