Narrative der Humanwissenschaft

Narrative der Humanwissenschaft

Organisatoren
Graduiertenkolleg "Die Figur des Dritten", Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2005 - 11.06.2005
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Von
Felix Axster, SFB Medien und kulturelle Kommunikation, Universität Köln

Gleich zu Beginn der Konferenz "Narrative der Humanwissenschaft" des Konstanzer Graduiertenkollegs "Die Figur des Dritten" wurde das auffallende, an eine Punk-Ästhetik erinnernde Ankündigungsplakat thematisiert1: Sein Grußwort leitete Albrecht Koschorke, Sprecher des Kollegs, mit der ironischen Bemerkung ein, der weit aufgerissene Mund und die herausgestreckte Zunge, auf der zahlreiche Begriffe als Referenzfeld der Vortragsthemen in einer losen Reihung angeordnet waren, würden möglicherweise darauf hindeuten, dass den Graduierten des Kollegs die Thematik des Dritten zum Hals raushänge. In der Fokussierung der produktiven Verbindungslinien zwischen Konferenz- und Kolleginhalt dann generierte Koschorke anders gelagerte Assoziationsketten, die der Motivation der KonferenzorganisatorInnen Arne Höcker, Jeannie Moser und Philippe Weber wohl näher kamen. Koschorke stellte sowohl das Modell einer Figur des Dritten als auch den im Kontext einer kritischen Wissenschaftstheorie in Anschlag gebrachten Narrativbegriff als Interventionen vor, die auf eine Öffnung hindeuteten. Im Zuge dieser Öffnung geriete nicht nur die Komplizenschaft zwischen epistemologischem Interesse und literarischem Handwerk in den Blick; vielmehr stünden auch die Verfasstheit kulturellen Wissens und die aus diesem Wissen geronnenen Ordnungen zur Disposition.

Aus einer solchen Perspektive heraus liest sich die herausgestreckte Zunge auf dem Plakat wie ein Verweis auf eine ärztliche Untersuchung, das scheinbar eintätowierte Begriffsfeld auf der Zunge, gleichsam ein Ausschnitt humanwissenschaftlichen Wissens, wiederum wie ein Symptom einer Unterbrechung. Ein Patientenstatus ist angedeutet sowie die Notwendigkeit einer Diagnose, in der sich die Wissenschaft selbst objektiviert - als Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis- und Wissensproduktion, mit dem Verhältnis zwischen der Generierung wissenschaftlichen Wissens und den jeweiligen Formen seiner Darstellung sowie mit den Grenzen zwischen Wissenschaft und anderen Formen des Wissens bzw. mit den Austauschprozessen zwischen wissenschaftlichen und zum Beispiel literarischen Diskursen.

In diesem Sinne lassen sich die Konferenz und die hier verhandelten Inhalte dem "Projekt einer Geschichte des Wissens"2 zuordnen. Diese Geschichte von einer poetologischen Perspektive aus zu entwerfen, d.h. humanwissenschaftliches Wissen auf seine poetologischen Bedingungen hin zu untersuchen, ermögliche - so die OrganisatorInnen der Konferenz in ihrem call for paper - "eine Sichtweise auf die Konstitution von Wissensobjekten und Erkenntnisbereichen, die nicht losgelöst von ihren Darstellungsformen und Repräsentationsweisen betrachtet werden können". In drei Sektionen unterteilt exemplifizierten zwölf Vorträge sowie ein Abend- und ein Abschlussvortrag eine solche Sichtweise anhand verschiedenster Disziplinen und Wissensgebiete. Ein äußerst lohnenswertes Vorhaben, das insbesondere von Dichte in der thematischen Vielfalt gekennzeichnet war.

Philippe Weber, Historiker der Universität Zürich und Graduierter am Kolleg in Konstanz, führte in die erste Sektion "Schwellen der Wissenschaftlichkeit" ein. Dabei ging er der Frage nach, wie das Verhältnis von Wissenschaftlichkeit und Erzählung zu charakterisieren sei. In Abgrenzung zu einer puristischen Definition von Wissenschaft, in der Erzählungen als eine Form der Verunreinigung denunziert würden, konstatierte Weber, dass das Hervorbringen von Wissen und seine Formalisierung in Tabellen, Berichten und Protokollen immer auch auf Erzählungen als Kohärenz und Sinn stiftendes Darstellungselement angewiesen sei. Demnach wären Narrative weniger als Sündenfall, sondern als Voraussetzung von Wissenschaftlichkeit anzusehen. Ausgezeichnet durch eine Mannigfaltigkeit von Erzählweisen, durch beständige Neukombinationen einzelner Elemente sowie durch den Wechsel von Sprecherpositionen trage das Narrativ der besonderen Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und -tradierung, die durch ein komplexes Geflecht aus Bezugnahmen und Umschreibungen gekennzeichnet ist, Rechnung. In diesem Zusammenhang verwies Weber auch auf den Topos der bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckung bzw. der pionierhaften Leistung, der seine Wirkung gleichermaßen als Gründungsnarrativ wie als Handlungsanleitung für nachfolgende Generationen von WissenschaftlerInnen entfalte.

Die Genese einer der wirkmächtigsten und langlebigsten Erzählungen der europäischen Moderne zeichnete Michael Frank, Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz, in seinem Vortrag "Andere Völker, andere Zeiten. Das evolutionistische Narrativ der Humanwissenschaften und das Erbe des Kolonialismus" nach. Frank konzentrierte sich vor allem auf die mit Beginn der europäischen Expansion einsetzende Etablierung eines kolonialen Zeit-Raumes: Gemäß der Vorstellung, sie dort seien jetzt, wie wir hier früher waren, sei die als Entdeckung klassifizierte Reise durch den Raum gleichsam zu einer Zeitreise avanciert. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts dann habe diese spezifische Zeit-Raum-Konstellation einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen den europäischen Alteritätsdiskurs in Literatur, Philosophie, Anthropologie und schließlich Biologie und Psychoanalyse zu dominieren begonnen. Anhand von u.a. Rousseau, Melville, Darwin und Freud veranschaulichte Frank zahlreiche Variationen und Umschreibungen des evolutionistischen Narrativs. Im Variationspotential von Narrativen sah Frank denn auch die entscheidende methodische Innovation des Narrativbegriffs für eine Geschichte der Wissenschaften, die zwischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten vermitteln will. Diesbezüglich fokussierte er zwei miteinander verwobene Prozesse: die Überlappung von bzw. den Austausch zwischen literarischen und wissenschaftlichen Diskursen sowie die Transformation von Wissen in Wissenschaftlichkeit.

Um Überlappungen zwischen Diskursgenres und Schwellenräumen zwischen Wissenschaft und populären Formationen des Wissens ging es auch in dem Vortrag "Zur Poetologie des Sachbuchs. Die Friktionalität einer faktographischen Erzählform" von Andy Hahnemann, Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin. Hahnemann stellte das Sachbuch als hybrides Genre par excellence vor, das sich weder dem Roman noch der wissenschaftlichen Arbeit oder dem philosophischen Traktat als vermeintlich feststehenden Gattungen zuordnen lasse. Den Beginn der Karriere des Sachbuches datierte Hahnemann auf die zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Hier habe sich der geopolitische Diskurs zu einer Wissenschaft ausdifferenziert, die sich dem Leitbild einer wirkenden Wissenschaft verpflichtet sah. Hinsichtlich der Anforderungen einer solchen Konzeption von Wissenschaft - einerseits Einhalten akademischer Standards, andererseits Rezeption durch breite Teile der Bevölkerung - erwies sich das Sachbuch als adäquate und zugleich paradoxe Darstellungsform. Zudem konstatierte Hahnemann, dass sich die wissenschaftstheoretische Forschung trotz der bis heute andauernden Popularität des Popularisierungsgenres Sachbuch bisher kaum mit dessen Wirkungen und Funktionen beschäftigt habe.

Mit der narrativen Dimension des klinisch-psychiatrischen Wissens befasste sich die Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerin Michaela Ralser in ihrem Vortrag "Was der Fall ist, ist noch keine Fallgeschichte. Die klinisch-psychiatrische Fallgeschichte um 1900 als ausgezeichnetes Medium gesund/kranker Subjektbildung". Ausgehend von Sigmund Freuds Bemerkung, seine Krankengeschichten würden sich wie Novellen lesen, ging Ralser der Frage nach, ob die Karriere der klinischen Psychiatrie und später der Psychoanalyse auch auf die spezifische Poetik der Fallgeschichte zurückzuführen sei. Als charakteristisch für die Fallgeschichte bezeichnete Ralser sowohl das Phänomen der doppelten Autorschaft, also das Überschreiben einer autobiographischen Binnen- durch eine wissenschaftliche Rahmenerzählung, als auch das hohe Maß an Fiktionalität, dass im Genre selbst reflektiert worden sei. Ungeahnte Publizität entfaltend, stehe die Fallgeschichte am Kreuzungspunkt äußerst wirksamer Macht/Wissen-Relationen. Zudem verweise die Fallgeschichte auf eine grundlegende Grammatik der Klinik sowie der modernen Wissenschaften, in der die Herstellung von Normalität und Subjektivität sowie die Aufspaltung in sprechende und gesprochene Individuen stets aneinander gekoppelt gewesen seien.

Die narrative Struktur von Fallgeschichten war auch Gegenstand des Vortrags der Züricher Historikerin Marietta Meier über "Die Konstruktion von Wissen durch psychochirurgische Fallgeschichten". Am Beispiel der Leukotomie, ein 1935 entwickelter operativer Eingriff ins Gehirn, mit dem gewisse Krankheitssymptome wie Depression, Schizophrenie oder Epilepsie beseitigt werden sollen, veranschaulichte Meier, wie mittels Fallgeschichten aus einzelnen PatientInnen und ihren heterogenen und multiplen Lebens- und Krankheitsverläufen "Leukotomie-Fälle" gemacht wurden. Dabei stand ein Vergleich zwischen der Krankenakte und der Fallgeschichte im Vordergrund. Meier stellte die Krankenakte als eine Konstruktion erster Ordnung vor, die vor allem durch Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit geprägt sei. Die publizierte Fallgeschichte gründe meist auf der Krankenakte, sei nun aber durch die Isolierung von verstreuten Phänomenen und ihre Einbindung in eine kohärente Erzählung bestimmt. Folglich sei die Fallgeschichte eine Konstruktion zweiter Ordnung, die sich durch eine allgemeine Tendenz zur Homogenisierung, zur Chronologisierung sowie zur Teleologisierung auszeichne. Durch solche narrativen Umformungen entstünden Texte, die den Anforderungen von Wissenschaftlichkeit genügen würden.

Nach der Mittagspause führte Jeannie Moser, Literaturwissenschaftlerin und Graduierte am Kolleg in Konstanz, in die zweite Sektion "Poetologien/Rhetoriken des Wissens" ein. Moser skizzierte kompakt die wissenschaftstheoretischen Stränge und Positionen, die sich in den letzten Jahren im Feld einer Wissensgeschichte herausgebildet haben. Ausgehend von der Prämisse, dass Objekte des Wissens, auf die sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse richtet, erst mit der Beschreibung ihrer Eigenschaften Form und Bedeutung annehmen, komme der poetologischen, der narrativen und der rhetorischen Verfasstheit des Wissens zentrale Bedeutung zu. Sprachliche Repräsentation sei in diesem Sinne nicht als ein Akt der Stellvertretung zu verstehen, sondern als ein Prozess der Sichtbarmachung und poetischen Schöpfung, da die Entstehung von Wissensobjekten mit der Kreation und Konfiguration von Zeichen, Symbolen und Erzählungen verbunden sei. Um der bisweilen ausweglos erscheinenden Dichotomie von Realität und Fiktionalität bzw. von Naturalismus und Konstruktivismus zu entgehen, skizzierte Moser einen an Bruno Latours Hybridbegriff angelehnten dritten Weg: Die Eigenschaft eines wissenschaftlichen Objektes, gleichzeitig naturgegeben und kulturell verfertigt, faktisch und symbolisch aufgeladen zu sein, erweise sich aus einer solchen Perspektive heraus nicht als kontradiktisch, sondern als komplementär.

Mit der Rhetorik von Subjekt- und Autonomievorstellungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts befasste sich Caroline Welsh vom Berliner Zentrum für Literaturforschung in ihrem Vortrag "Die Figur der Stimmung in den Wissenschaften vom Menschen". Vor der Folie des so genannten Sympathiemodells als einer älteren Konzeption von der Verfasstheit des Menschen, in dem der menschliche Leib mit einem Musikinstrument analogisiert und Leben als eine durch äußere Reize ausgelöste Schwingungsreaktion vorgestellt wurde, konturierte Welsh das in Abgrenzung zum Sympathiemodell entstandene so genannte Stimmungsmodell, das in unterschiedlichsten Disziplinen und Wissensbereichen eine prominente Stellung einnahm. Anhand verschiedener Textstellen u.a. bei Kant, Lessing und Schiller veranschaulichte Welsh, wie Leben nicht mehr bloß innerhalb der Dimension der Reaktion gedacht wurde, sondern die Reaktion selbst als beweiskräftige Äußerung eines autonomen Kerns, einer Lebensstimmung, figurierte. Der Figur der Stimmung korrespondiere folglich die Vorstellung eines selbsttätigen Subjektes, dessen Körper von außen kaum mehr affizierbar ist.

Oliver Simons, Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin, beschäftigte sich in seinem Vortrag "Nach Euklid. Poetologien des Raumes um 1900" mit dem Einsatz von philosophischen Raummetaphern, in denen epochale Zäsuren und epistemische Transformationen zur Anschauung gebracht werden. Am Beispiel von Edmund Husserl machte Simons deutlich, wie die Diagnose einer Krise der Moderne gleichsam als Effekt einer Abkehr von der euklidischen Geometrie dargestellt wurde. Zudem thematisierte Simons den Stellenwert von räumlichen Parametern und Metaphern im Denken von Foucault. Die von Foucault in Die Ordnung der Dinge vorgenommene Analogisierung der Episteme der Renaissance, der Klassik und des 19. Jahrhunderts mit jeweils verschiedenen geometrischen Figuren dokumentiere den Versuch, Wissensformen und -ordnungen topographisch fassen zu wollen. Somit stellte Simons auch Foucaults eigene poetologische Strategien zur Diskussion. In diesem Zusammenhang stellte Simons die Frage, ob die vor allem in den letzten Jahren zu verzeichnende breite Rezeption von Foucaults Heterotopie-Modell, das als eine neue Raumtheorie zur Überwindung der klassischen humanwissenschaftlichen Raumordnungen doch eigentlich recht unausgearbeitet sei, möglicherweise auf eben jene poetologische Strategie der Analogisierung von Raum und Denken bzw. Sein zurückzuführen sei.

Jörn Etzold, Mitglied des Graduiertenkollegs "Mediale Historiographien" der Universitäten Erfurt, Weimar und Jena, wiederum befasste sich in seinem Beitrag "Marx' Erzählung vom so genannten Ursprung" mit den ambivalenten und widersprüchlichen Ursprungslogiken im Werk von Karl Marx. Im Mittelpunkt stand dabei die Figur des Proletariats als eines äußerst wirkmächtigen Narrativs der Humanwissenschaften. Etzold wies darauf hin, dass das Proletariat bei Marx eigentlich gestalt- und identitätslos, also defiguriert sei, da es keine Partikularinteressen habe und als Produkt des Kapitalismus über keine Genealogie verfüge. In der Erzählung von der "so genannten ursprünglichen Akkumulation" sowie im Kommunistischen Manifest hingegen greife Marx selbst auf eine Ursprungslogik zurück: Das Proletariat werde hier in Form gesetzt, in historischer Perspektive als vertriebene und enteignete Landbevölkerung, in politischer Perspektive als organisierte Klasse, determiniert durch ein teleologisches Geschichtsmodell. In diesem Sinne - so resümierte Etzold - hole Marx in seinem Versuch, die Nicht-Erzählbarkeit des Gestalt- und Geschichtslosen zu überwinden, die Logik von Ursprung, Ausfahrt und Heimkehr, die jeder Erzählung zugrunde liege, wieder ein.

In seinem Vortrag "Experimentalisierung des Verhaltens. Zur Figur des Tieres als Wissenschaftsobjekt" ging Benjamin Bühler, Literaturwissenschaftler an der Universität Basel, der narrativen Dimension der Verhaltensforschung nach. Ausgehend von Jakob von Uexkülls Umwelt-Lehre und deren zentrale These, dass das Tier als Subjekt eine "organische Ganzheit" sei, verwies Bühler auf eine Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Wende innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verhalten: In Abgrenzung zu einer anthropomorphistischen Tierpsychologie hätten sich Ansätze etabliert, die das Verhalten von Tieren und Menschen experimentell untersuchten. Der Figur des Tieres sei als Versuchs- und Wissensobjekt von nun an zentrale Bedeutung zugemessen worden. Zwar sollte es als Substitut für den Menschen benutzt werden, keineswegs aber sollte es Substitut für den Menschen werden. Bühler betonte nun, dass sich die Figur des Tieres in diesem Zusammenhang keineswegs als klar umgrenzter und kontrollierbarer Gegenstand erwiesen habe. Anhand der Übertragung von Uexkülls Tier-Subjekt-Theorie auf die Politik, deren Effekt die Entstehung des bio-politischen Modells der Staatsbiologie war, veranschaulichte Bühler vielmehr, wie die spezifische rhetorische Logik, die Tiere als Wissenschaftsobjekte herstellt, immer wieder dazu geführt habe, dass Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier unterminiert wurden.

Der Vortrag von Rüdiger Campe, Professor für deutsche Literatur an der Johns Hopkins University in Baltimore, historisierte einen Verdacht, an dem sich die Diskussionen der Tagung regelmäßig abarbeitete: Ist die Erzählung nicht eine unwissenschaftliche Darstellungsform? Gemäß Campe entstand diese Problemstellung nicht um das angebliche Schwellenjahr 1800 herum, sondern um 1700, als Jakob Bernoulli aus der Verbindung von Antoine Arnauds Klosterschriften und der Spieltheorie die Wahrscheinlichkeitstheorie entwickelte. Hier wurde "das Ereignis" in eine nicht-narrative Darstellungsform eingebunden und den scheinbar täuschenden Erzählungen gegenübergestellt. Ausgehend von dieser historischen Konstellation führte Campe aus, dass Narrative immer dann in Erscheinung treten würden, wenn es zwischen singulärem Ereignis und allgemeinem Gesetz zu vermitteln gelte. Diese Verknüpfung von Vermittlung und Narrativ veranschaulichte Campe dann durch einen Exkurs zu Heinrich von Kleists Erzählung "Penthesilea".

Am zweiten Tag führte Arne Höcker, Literaturwissenschaftler und Graduierter am Kolleg in Konstanz, in die dritte und letzte Sektion "Die Figur des Dritten" ein. Höcker betonte das Potenzial jener Figur des Dritten, die gleichermaßen als Störer und Unterbrecher sowie als Konstituent und Stabilisator gesellschaftlicher Ordnungen auftreten könne. In wissenschafts- und forschungstheoretischer Perspektive eröffne sich somit die Möglichkeit, Strukturen funktionaler Ordnung und ihre Friktionen in den Blick zu nehmen. Hinsichtlich der Sektionsvorträge fokussierte Höcker zudem das Gutachten als eine seit dem 19. Jahrhundert privilegierte Form der Erfassung, Bestimmung und Erzeugung von Identität. Es stelle sich die Frage, ob der Sachverständige, der als Experte das Gutachten verfasst, in dem Modell eines Dritten veranschaulicht werden kann. Als Mittler zwischen der Institution des Rechts und dem Individuum erscheine der Gutachter wie ein Künstler, der seine künstlerische Fähigkeit, im Kopf eines Täters lesen zu können, der Justiz zur Verfügung stellt. Abschließend resümierte Höcker, dass das Gutachten als Textsorte seit dem 19. Jahrhundert für eine Transformation des Wissens sowie für eine neue Ordnung des Diskurses einstehe: Denn das Gutachten verweise auf das humanwissenschaftliche Narrativ der Individualisierung, auf die große Erzählung der Verschiebung von der Tat zum Täter.

Silke Hermann, Literaturwissenschaftlerin und Graduierte am Kolleg in Konstanz) befasste sich in ihrem Vortrag "Eunuchi Conjugium. Die Capaunen-Heirath - ein historisches Narrativ über das rechte (Heirats-)Geschlecht, oder wessen Geschlecht rechtens ist" mit einem Gutachtenkonvolut aus dem 17. Jahrhundert. Mehrere Sachverständige theologischer, medizinischer und juristischer Fakultäten aus Jena, Königsberg und Greifswald traten hier in einen ca. hundert Jahre andauernden Disput ein, um die Frage der Rechtmäßigkeit der Eheschließung zwischen dem Sängerkastraten Bartholomeo de Sorlisi und Elisabeth Landwer zu erörtern. Herrmann ging es vor allem um weit über den Kastraten selbst hinaus reichende Vorstellungen über Männlichkeit sowie über die Ehe- und Geschlechterordnung, die in den Stellungnahmen der Beteiligten verhandelt und konturiert wurden. Den Kastraten stellte Herrmann in diesem Zusammenhang als eine paradoxe und gleichsam produktive Figur vor: Als anerkannter, wohlhabender und der politischen Macht nahe stehender Akteur eigentlich hyperpotent, habe der Kastrat die negative Folie gebildet, vor der ein fruchtbarer Samen als Kriterium für Männlichkeit sowie die Fortpflanzung als wesentliches Ziel der Ehe definiert werden konnten.

Um Gutachten und Prozesse der Subjektivierung ging es auch in dem Vortrag "Ordnungen des Selbst. Voraussetzungen von Mündigkeit in psychiatrischen Gutachten um 1900" der Züricher Historikerin Brigitta Bernet. Bernet verwies auf den Bedeutungsgehalt von Mündigkeit in der Frühen Neuzeit, als der Begriff den Auszug aus dem Haus des Vaters bezeichnete. Seit der Aufklärung dann sei Mündigkeit zunehmend mit Spracherwerb und -kompetenz assoziiert worden. Ende des 19. Jahrhunderts schließlich habe sich das psychiatrische Untersuchungsgebiet der Sprachstörung formiert. Angelehnt an Judith Butlers Projekt einer Konstitutionsgeschichte des Selbst sowie an Louis Althussers Konzept der Anrufung ging Bernet der Frage nach, welche neuen Ausschlüsse und Subjektivitätstypen hier produziert worden sind. Dabei veranschaulichte sie, wie gerade psychiatrische Gutachten dazu beigetragen haben, soziale Normen des Sprachverhaltens zu definieren. So gesehen gehe dem Status der Mündigkeit als Subjektwerdung eine Unterwerfung voraus, deren Matrix von den neuen Verbindlichkeiten der Sprache gebildet worden sei.

Der Literaturwissenschaftler Ulrich Meurer aus München verfolgte in seinem Vortrag "Identitätsspeicherung von der biographischen Skizze zur phrenologischen Fotoserie am Beispiel Kants" den Übergang von einer biographischen Narrativik hin zu vermeintlich objektiveren Klassifizierungs- und Identifizierungsnarrativen im Kontext der zunehmend empirisch verfahrenden Humanwissenschaften im 19. Jahrhundert. Dabei stellte er die literarisch-biographischen Charakterisierungen Kants sowie die später einsetzenden phrenologischen Lektüren seines Schädels als unterschiedliche Methoden und Zeugeninstanzen vor, die an der Herstellung jeweils spezifischer Konzepte von Identität beteiligt seien. Im Zusammenhang mit der Phrenologie kam Meurer auch auf die Bedeutung der Fotografie zu sprechen: Nicht nur habe die Fotografie der Physiognomie einen Szientifizierungsschub ermöglicht; vielmehr sei die fotografische Narration, indem sie den Kopf als ein Ensemble von Zeichen vervielfältige und atomisiere, selbst als Technologie der Identitätskonstruktion zu dechiffrieren.

Auch der Vortrag "Polemik des Wissens. Raoul Hausmann liest Albert Einstein" von Arndt Niebisch, Literaturwissenschaftler an der Johns Hopkins University in Baltimore, handelte von der Physiognomie. Allerdings kam hier ein dadaistisches Statement aus den frühen dreißiger Jahren zur Sprache, in dem eine polemische Kritik sowohl an Einsteins Relativitätstheorie als auch an physiognomischen Erklärungsmodellen zusammenfallen. Ausgehend von Hausmanns 1931 veröffentlichtem Text Trommelfeuer der Wissenschaft, in dem der Autor die Gesellschaft der späten Weimarer Republik durch Einsteins Körper hindurch lesbar zu machen versucht, stellte Niebisch die Polemik als eine Praxis vor, die Narrative angreift, ohne jedoch ein neues Narrativ zu etablieren. In diesem Sinne konstituiere sich Polemisierung als eine dritte Position, die sich in das Feld zwischen wissenschaftlichen Diskursen und alltäglichem Sprechen einschreibe.

Nach einer kurzen Pause erörterte Marianne Schuller, Professorin für Literatur an der Universität Hamburg, in ihrem Abschlussvortrag die spezifische Poetik der Psychoanalyse. Zwei Texte von Freud standen hier im Mittelpunkt: die 1900 erschienene Traumdeutung sowie das 1920 veröffentlichte Jenseits des Lustprinzips. Ausgehend von diesen beiden Arbeiten, an denen sich die Bewegung der Ablösung des Ödipus-Mythos durch den Mythos des Todestriebes nachvollziehen lasse, entwarf Schuller ein Bild des Freudschen Denkens, das die eigenen Parameter und Grundannahmen stets zu hinterfragen und zu modifizieren bereit gewesen sei. Hinsichtlich des narrativen Gehalts der Psychoanalyse betonte Schuller, dass Erzählungen und Fiktion bei Freud nicht als Unfall im Prozess der Theoriebildung, nicht als ihr Anderes oder Äußerliches figurierten, sondern als Möglichkeitsbedingung der Disziplin. Denn erst das Anerkennen des fiktionalen Gehalts jeglicher Erzählung habe Freud in den Stand gesetzt, die Klagen der Kranken nicht zu entkräftigen, sondern zu hören und somit das Unbewusste zu entdecken.

In gewisser Hinsicht knüpfte Schullers Vortrag an eine Reihe von Fragen an, die wie ein roter Faden die angeregten und konzentrierten Diskussionen während der Tagung durchzogen: Welche Konsequenzen sollten aus der Einsicht in den narrativen Gehalt von Wissenschaft hinsichtlich der eigenen Praxis gezogen werden? Anhand welcher Kriterien lassen sich "gute" von "schlechten" Narrativen unterscheiden? Wie könnte zum Beispiel zwischen dem evolutionistischen Narrativ einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das tief in die Kolonisierung der außereuropäischen Welt eingeschrieben war, und der Marx'schen Erzählung vom Klassenkampf, die eine Praxis der Teilhabe und Mitbestimmung eines großen Teils der Bevölkerung in den entstehenden westlichen Industriestaaten anleiten wollte, differenziert werden, ohne auf normative Bestimmungen zurückgreifen zu müssen? Am Beispiel Freuds skizzierte Schuller eine Dynamik der andauernden Ablösung von Mythen, die gleichsam eine Geschichte ohne Anfang und Ende sei. Folglich gehe es nicht darum, den Mythos als Mythos zu entlarven oder ein utopisches Jenseits des Mythos zu entwerfen. Vielmehr sei entscheidend, ob Erzählungen über die Kraft und das Potenzial verfügen, Fragen in die Welt zu bringen, oder ob sie einfach nur Lösungsansätze generieren wollen. Die Tagung selbst jedenfalls erwies sich als eine äußerst inspirierende Erzählung. Sie hat zahlreiche produktive Fragen aufgeworfen, in denen sich auch das Reflektieren der eigenen kulturwissenschaftlichen Praxis als Erbe der Humanwissenschaften widerspiegelte. So kann man gespannt sein auf die Publikation, in der die Beiträge der Tagung publiziert werden. Der Band erscheint im Frühjahr 2006 bei transcript.

Anmerkungen:
1 Dieser Bericht ist bereits erschienen auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (http://www.ahf-muenchen.de/).
2 Joseph Vogl: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16, hier S. 7.


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