HT 2006: Geschlecht als Medium von Geschichtserzählung

HT 2006: Geschlecht als Medium von Geschichtserzählung

Organisatoren
Ulrike Gleixner, Technische Universität Berlin/Universität Basel; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2006 - 22.09.2006
Von
Bea Lundt, Universität Flensburg/Humboldt-Universität Berlin

Während sich eine ganze Reihe von Einzelbeiträgen auf dem Historikertag 2006 geschlechtergeschichtlichen Aspekten widmete, war diese Sektion die einzige, die ein gemeinsames, auf die Kategorie „Gender“ gerichtetes Thema durch verschiedene Epochen hindurch, vom 12. bis in das 20. Jahrhundert, verfolgte. Die Problemstellung des Panels richtete sich auf durchaus grundlegende Fragen zum Selbstverständnis des Faches Geschichte, wobei sie sowohl inhaltliche als auch methodische Phänomene fokussierte. Zentrale Paradigmen der Disziplin entstanden im 19. Jahrhundert, jener Zeit, in der eine Polarisierung der Geschlechterwelten in Öffentlichkeit und Privatheit das Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit prägte und fest-schrieb. Dieses dichotomisierende Bild reproduzierte sich auch innerhalb des klassischen fachspezifischen Kanons an Quellen: Ein Großteil dieses Bestandes ist von Männern geschrieben und dokumentiert maskulines Handeln innerhalb von typischen Männerwelten. Ein besonderes Interesse der Genderforschung richtete sich daher auf die Frage nach der Konstruktion von Geschlecht bei der Herausbildung der Historiografie (z.B. Angelika Epple) und förderte zahlreiche Zeugnisse weiblichen Schreibens zutage. Zur Zeit widmet sich ein Forschungsprojekt, das von Claudia Ulbrich und Angelika Schaser geleitet wird, dem (auto-)biografischen Schreiben von Frauen.

Die Diskussion über jene Prozesse und Strukturen innerhalb des menschlichen Gedächtnisses, die bei der Entstehung und Tradierung von historischem Wissen wirksam werden, hat das Interesse nun in besonderer Weise auf die kollektiven Geschichtsbilder gerichtet. In ihnen werden vielfältige Symboliken und Imaginationen wirksam, die Aussagen über Geschlecht enthalten. Selektiv kommt es zu einer Festschreibung von „Orten“ und Topoi der Erinnerung. Die Gesetzmäßigkeiten dieser Auswahl, die Geschlechterentwürfe des bürgerlichen Zeitalters favorisiert, gilt es zu prüfen, stehen sie doch oft in Widerspruch zu historischen Praktiken. Damit öffnet sich der Blick für bisher vernachlässigte narrative Quellengattungen, in denen insbesondere auch solche Vorstellungswelten ihren Niederschlag finden, die nicht in den Staatskanzleien aktenkundig niedergelegt wurden. Hier setzte die Fragestellung der Sektion ein: Populäre Erzählungen, Romane, bildliche Darstellungen tradieren kulturelles Wissen und Deutungen. Sie repräsentieren Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit und sind mit dem verbreiteten Wissen über Geschlecht in der Geschichte auf unterschiedliche Weise verknüpft; ja, durch ihren großen Verbreitungsradius können sie auch auf besondere Weise die geschlechtsspezifischen Identitätsbildungen prägen und bestimmte Vorstellungen von Relevanz und Akzeptanz produzieren. Geschlecht ist ein „Medium“ von Geschichtserzählung, über das historischer Sinn konstruiert wird.

Ulrike Gleixner erläuterte in ihrer Einleitung die für die Sektion leitende Hypothese: Geschlechtersymboliken und -metaphern werden in Geschichtserzählungen eingesetzt, um Authentizität und Überzeugung zu erzielen. Diese Implementierung kann ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen: So erfolgt sie explizit und interessegeleitet im Sinne von konkreten Erinnerungspolitiken. Oder es werden in den Erzählungen bestimmte Räume für geschlechterspezifisches Handeln implizit und nicht-intentional definiert. Bei der Tradierung bestimmter Erzählungen über große Zeiträume ergeben sich nun häufig zunächst überraschende Bruchstellen und Veränderungen. Um die Aussagen der Texte plausibel zu erhalten, werden die entsprechenden Geschlechterkonzepte dem jeweiligen zentralen Genderdiskurs angepasst. Populäre Erzähltraditionen reagieren dabei oft elastisch auf neue Herausforderungen. Die polar konstruierten, die Vielfalt der Realität engführenden, mythifizierenden Geschlechterentwürfe geschichtswissenschaftlicher Erzählungen werden oft durch solche populären Erzähltraditionen in Frage gestellt, erweitert und korrigiert. Bilder von Geschichte und Geschlecht stehen also in einem spannungsvollen dialektischen Verhältnis. Ein fundamentaler Gegensatz zwischen einer rein analytisch wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und populären Texten ist in Bezug auf Geschlecht nicht haltbar. Auch wissenschaftliche Geschichtsschreibung greift auf die weiträumig kursierenden Geschlechterentwürfe zurück. Gerade im Spiegel von populären Überlieferungstraditionen im historischen Wandel lassen sich scheinbar überzeitliche Geschlechterkonzeptionen überprüfen, dekonstruieren und entmythifizieren. Geschlecht muss – so die weiterführende Überlegung der Sektion – systematisch in die Konzeptionen historischen Wandels eingearbeitet werden; bislang blenden Epochenbegriffe Geschlecht als strukturelle Größe fast vollständig aus. Diese Mechanismen, mittels derer Geschlecht zum „Medium“ von Geschichtserzählung wird, galt es an verschiedenen Beispielen herauszuarbeiten.

Ausgehend von methodischen Überlegungen zu der Notwendigkeit, die „notorische Ahistorizität der Narratologie“ (Ansgar und Vera Nünning) zu überwinden und an einem neuen Verständnis vom „Mythischen“ anzuknüpfen, stellte Bea Lundt (Berlin/Flensburg) in ihrem Beitrag „Feengeschichten – die Geschichte der Fee? Vom Gendering des Wunderbaren in der Exempelliteratur des Mittelalters“ Vorstellungen über Gender im Mittelalter in Frage, die in der Geschichtswissenschaft kursieren: die Leugnung eines weiblichen Anteils innerhalb der Überlieferung (Duby), die Erklärungskraft des Dualismus Eva – Maria zur Kennzeichnung der Leitbilder für Weiblichkeit, vor allem die an dem Vorbild der Evagestalt festgemachte These von der „Dämonisierung der Frau“, weiterhin die angeblich völlige Dominanz christlich-klerikaler Moral und Geschlechterdidaxe in der Exempelliteratur. Am Beispiel der Gestalt der „Fee“ zeigte sie auf, wie erst im Prozess der Rezeption die Einpassung der Frauengestalten in ein neuzeitliches duales Schema erfolgte. Die ersten lateinischen Textzeugen aus klerikaler Feder (Geoffrey of Monmouth, Gervasius von Tilbury) wie auch eine keltisch und arabisch inspirierte altfranzösische Lesart der Marie de France zeigen noch eine Vielfalt von Weiblichkeitsentwürfen, die Frauen parallel zu männlichen Leitfiguren setzten und ihre Unabhängigkeit, Intellektualität, ihr geplantes systematisches Handeln im Sinne einer sinnvollen, „professionellen“ Berufsarbeit hervorhoben. Das „Wunderbare“ der Feenfigur, etwa ihre Fähigkeit zum Gestaltwandel oder zum Ortswechsel, wird nicht verdammt und abgewehrt, sondern als (be-)wundernswert dargestellt: „Mirandum est, non detestandum“.

Im 12. und frühen 13. Jahrhundert, so deutete Lundt diesen Befund, gab es eine gewisse Offenheit für unterschiedliche kulturelle und religiöse Traditionen, die beim Übergang des Erzählplots in andere Genretraditionen, etwa den volkssprachigen höfischen Roman, überformt und enggeführt wurden. Eine Schlüsselfunktion haben freilich erst die Übersetzer und Herausgeber dieser Werke aus dem 19. Jahrhundert erfüllt: Sie forcierten in ihren Kommentaren eine polare Festlegung der weiblichen Geschlechterentwürfe als Heilige oder Hexe, die für die Zwischenwelt der Feengestalt keinen Platz lässt. Dabei spielen nicht nur Rückprojektionen moderner Vorstellungen in das Mittelalter, sondern auch die nationalstaatlich differierenden Definitionen von Geschlechtercharakteren eine Rolle: Die Fee wird als „französischer“ Frauentyp aus dem Fundus der „deutschen“ Erzähltraditionen ausgegrenzt und damit auch ihr Angebot für ein historisch vorstellbares und pädagogisch nutzbares Weiblichkeitsmodell getilgt (Grimmsche Märchen). Und das nicht nur im 19. Jahrhundert. Die unabhängig ihre Geliebten selber wählende Melsusinengestalt gilt als „beziehungsunfähig, ja frigide“, so zitierte Bea Lundt abschließend unter der Heiterkeit des Publikums aus dem umfangreichen Werk „MittelalterMythen“, erschienen 2001.

Es galt lange die Vorstellung, der aktive Umgang mit Fahnen obliege ausschließlich Männern, wobei Fahnen eine mit Heldentum und Ruhm assoziierte Welt männlicher Kraft symbolisierten. Der Sieg wurde als heilige Sache und Gottesurteil für den Gerechten legitimiert. Marion Kobelt-Groch (Hamburg) präsentierte in ihrem Vortrag „Geschlecht und Symbol: Frauen tragen die Fahne voran“ Beispiele dafür, dass sich in der Frühen Neuzeit durchaus auch Frauen aktiv in gewaltsame Auseinandersetzungen einmischten, dabei auch nach der Fahne griffen und mit diesem Handeln die bestehenden Geschlechtergrenzen überschritten. Innerhalb der verschiedenen narrativen Überlieferungen von diesen Aktionen aber wurde dieser Zusammenhang, so ihre zentrale These, bearbeitet und dabei so umgedeutet, dass die realen Akte weiblichen Widerstandes „letztlich ihre Sprengkraft verloren und sich mühelos mit bestehenden Geschlechterkonstruktionen in Einklang bringen ließen.“

Am Beispiel einer Leichenpredigt, in der eine Verstorbene mit einer „schönen Triumph-Fahne“ in der Hand gewürdigt wurde, zeigte Kobelt-Groch, welchen Vorbildern solche Zuweisungen folgten: Das Bild von der Fahne charakterisiert hier einen vorbildlich vertrauensvoll geführten Todeskampf. Eine solche indirekte Beziehung ist auch für den Fahnenkult typisch, den Frauen praktizieren durften. Bildliche Darstellungen von fahnenschwingenden Frauen erfüllten oft eine allegorische Funktion. Zwar fehlt das Gemälde von Eugène Delacroix „ Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“ (1830), in dem er eine Szene der Überlegenheit weiblicher Macht visualisierte, in keinem Schulbuch. Doch handelt es sich um ein „symbolisches Schlachtfeld“, auf dem die barbusige Frauengestalt dahinstürmt, sie selber sei als dunkelhäutig schmutzige Dirne erkennbar. Keineswegs also könne die Abbildung so verstanden werden, dass reine Weiblichkeit etwas mit dem erfolgreichen Kampf zu tun habe.

Doch gab es durchaus Fälle gesellschaftlich-historischer Praxis, bei denen Frauen die ihnen gesetzten Grenzen deutlich überschritten und aktiv Kriegshandlungen begingen. Dies gilt etwa für Telse von Dithmarschen, die im Jahre 1500 in der Schlacht von Hemmingstedt gegen den dänischen König den Bauern vorangeeilt sei und sie, ähnlich der Jungfrau von Orleans, zum Siege geführt haben soll. Während die Historiografie sie zu einer rein fiktiven Sagengestalt erklärt hat, hält sich ihr Mythos vor allem in lokalen Geschichten. Auffallend sind die Mechanismen, mit denen diese Frauengestalt in der Überlieferung entweder ganz getilgt oder ihre Sache diffamiert wurde. Sie begegnet freilich auch als heilige Jungfrau, wobei sie zugleich entsexualisiert wird. Umgekehrt begegnet sie aber auch gezielt entkleidet und erotisiert als Objekt männlicher Schaulust. In jedem Fall wird weiblicher Patriotismus zum Ausnahmefall, der damit das Fortbestehen der männlichen Konnotierung der Fahne sichern soll. Kobelt-Groch belegte ihre Ausführungen mit bildlichen Darstellungen.

Die ersten beiden Beiträge präsentierten Beispiele für Überlieferungen, deren Frauenbilder nicht mit dem dominanten Geschlechterbild kompatibel waren, deren Botschaft daher im Rezeptionsprozess eng geführt und dabei eines Teiles der subversiven Kraft ihres Inhaltes beraubt wurde. Der Vortrag von Ulrike Gleixner (Basel/Berlin) „Geschichtsbilder und Geschlecht: Warum Fontanes Effi Briest zur historischen Quelle avancierte“ zeigte demgegenüber den umgekehrten Prozess, nämlich, wie ein literarisches Konzept von Weiblichkeit so gut einem gerade im Bürgertum verbreiteten Bild von adligen Geschlechterwelten entsprach, dass die offensichtliche Fiktion nicht erkannt wurde und der Roman mit zunehmendem Abstand zur Entstehungszeit immer deutlicher zur historischen Quelle avancierte. Bis heute gehört Theodor Fontanes „Effi Briest“ zum Kanon der verpflichtenden Texte, die im Deutschunterricht der Oberstufe gelesen werden. In der Regel wird in den Unterrichtsmodellen auf die „sozialgeschichtliche“ Bedeutung des Buches hingewiesen, das als „Illustration einer historischen Epoche“ auch in die Literaturlexika einging.

Die Erzählung Fontanes beruhte in der Tat auf einem historischen Vorfall. Bei dem Berliner Gesellschaftsskandal aus dem Jahre 1888 jedoch führte die Ehebrecherin nach ihrer Scheidung ein aktives berufliches und privates Leben und starb erst im Alter von 99 Jahren. Ulrike Gleixner arbeitete diffizil heraus, wie Fontane diese Affäre umdeutete, wobei er sie „ästhetisch verklärte“ und mit einer völlig neuen Sinnstruktur versah. Die Kennzeichen seiner adligen Charaktere waren ganz untypisch für eine Adelsidentität Ende des 19. Jahrhunderts. Der hohe Altersunterschied zwischen den Partnern ist eher für die Frühe Neuzeit typisch; die Ehe war für den weiblichen Adel der Zeit nicht so zwingend, die Scheidung nicht so bedrohlich, wie Fontane es in sein Opus einschrieb. Der innere Konflikt des Ehemannes im Roman entspricht ganz einer bürgerlichen Subjektivität; auch das harmonisierende Ideal „häuslicher Glückseligkeit“ entfaltet sich eher in der Stube eines behäbigen Bildungsbürgers. Obwohl die ganze Handlung also, so fasste Gleixner zusammen, „der Komplexität des Problems der Ehescheidung im Kaiserreich“, in keiner Weise gerecht wird, avancierte „Effi Briest“ sofort zum größten Erfolg des Autors. Das primär bürgerliche Lesepublikum sah offenbar in diesem Buch eigene Vorstellungen vom adligen Geschlechtermodell in idealer Weise erfüllt. Die verzerrende Lesart des Bürgers Fontane auf ein reales Adelsschicksal wurde zu einem „Erinnerungsort für das inhumane Preußentum“. Und diese Zuweisung faszinierte nicht nur die Zeitgenossen Fontanes. Mit wachsendem zeitlichen Abstand zu der Entstehungszeit wurde die polare Geschlechterkonstruktion in Natur-Frau und Kultur-Mann keinesfalls durchschaut, sondern immer mehr zum historischen Abbild erklärt. Und dies gilt für die populäre, schulische und teilweise auch wissenschaftliche Rezeption gleichermaßen.

Das Thema „Effi Briest“ forderte viele der Zuhörerinnen zu Diskussionsbeiträgen heraus. Die meisten bestätigten einen emotionalen, identifikatorischen Einsatz der Lektüre in ihrer Schulzeit. Die Botschaft des Romans sei gerade nicht distanzierend als abschreckend fremde Adelsmoral einer fernen Zeit verstanden worden, sondern im Gegenteil als Lehrstück für bürgerliche Mädchen, die Normen und Wertsysteme der Gesellschaft zu respektieren. Die Behandlung des Stoffes habe ein Bewusstsein erzeugt, ähnlich der Titelheldin überzeitlich zu einem alternativlos lustfeindlichen Opferdasein verurteilt zu sein: „Wir lasen das und bis zum Abitur waren wir doch alle wie Effi!“, erklärte eine Diskutantin. Andere bestätigten freilich auch einen kritischeren Umgang mit dem Inhalt in der Gegenwart. Es bestand Einigkeit, dass der Kanon an Schullektüren historisch kritisch überprüft werden müsse.

Der letzte Beitrag „Geschlecht und Geschichte als Vermittler neuer Gesellschaftskonzepte: Populäre Erzählungen aus Galizien (Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert)“ zeigte, wie Erzählstrategien neue Gesellschaftskonzepte vermitteln können. Dietlind Hüchtker (Leipzig) ging dabei von der Überlegung aus, dass die Frauenbewegung eine „Neukonzeptionalisierung kulturellen Wissens“ vornahm, die, so ihre These, „aus einer reziproken Konstruktion von Geschlechter- und Geschichtsbildern“ resultierte. Als typisches Medium der internen Verständigung setzten viele frauenpolisch aktive Frauen populäre Erzählungen ein. Diese berichteten über Not und Elend, über Generationenkonflikte und Emanzipationsziele, das heißt, sie konstruierten Erfahrung als Gemeinsamkeit eines Kollektivs „Frauen“. Damit schufen sie zugleich eine Art Metaerzählung, die als historisches Wissen wahrgenommen werden konnte und aus der sich zugleich Entwürfe für die Zukunft ergaben. In Analogie zu dem Begriff des autobiografischen (Philippe Lejeune) oder historiografischen (Angelika Epple) Paktes geht sie von einem „politischen Pakt“ aus, den die Autorin ihren meist ebenfalls frauenbewegten Leserinnen anbot, eine Art Vertrag, der auf dem Wissen aller Beteiligten beruhte, die Texte in einen politischem Kontext zu überführen. In der Verbindung eines vorausgesetzten Kollektivs „Frauen“ mit dem Versprechen von Gesellschaftsreform sieht Hüchtker ein Beispiel für ein Politikverständnis, das heute oftmals „identity politics“ genannt wird.

An drei Beispielen aus Galizien belegte Hüchtker ihre Annahmen. Die Autorinnen waren Aktivistinnen der Frauenpolitik, kamen aber aus unterschiedlichen politischen Kontexten: dem Zionismus, der ukrainischen Frauenbewegung, der polnischen Frauen- und Bauernbewegung. Gerade kleine Prosastücke, die in politischen Zeitschriften und Textsammlungen, aber auch als selbständige Broschüre erschienen, erwiesen sich für sie als geeignet, ein Kollektiv „Frauen“ zu konzipieren, das sich auf Erfahrungen von Unterdrückung und Benachteiligung berief, um eine bessere Zukunft zu entwerfen. Hüchtker arbeitete an ihren Textbeispielen aus der Zeitspanne vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts literarische Erzählweisen heraus und zeigte ihre konkrete Verbindung mit der politischen Praxis der drei Frauen. Die Geschlechterbilder innerhalb der Narrationen sind in jedem Fall funktional und legitimieren ein Konzept: die jüdische Nation, die emanzipative Generationenfolge, die Heldin. Bemerkenswert ist, dass sich in allen Beispielen jeweils mehrere Erzählformen vermischten, das Verhältnis von Geschlecht, Erfahrung, Geschichte und Politik also in jeweils anderer Weise hergestellt wurde.

Die Beobachtung, dass gerade populäre Genretraditionen keine statischen Größen sein müssen, wie es die Aufzählung verbindlicher Kennzeichen für Erzählgattungen in den Lehrwerken vermuten lässt, sondern dass es sich um dynamische Mischformen aus Bestandteilen ganz unterschiedlicher Provenienz handelt, die selber einem Wandel unterliegen, verband diesen Beitrag etwa mit dem ersten der Sektion, in dem ebenfalls eine Kombination verschiedener Überlieferungen innerhalb der Exempelsammlungen des 12. Jahrhunderts aufgezeigt wurde.

Die lebendige Diskussion zu allen vier Beiträgen richtete sich immer wieder auf die Frage nach dem Verhältnis der in den Quellen dargestellten Geschlechterkonzeptionen zu der historischen Realität und Praxis. Sie wies damit auf jenes noch weitgehend unbeackerte weite Forschungsfeld, in dem es gilt, Vorstellungswelten und Visionen, die sich in Narrationen ausdrücken, mit der gesellschaftlichen Praxis der Geschlechter enger zu verschränken, um der kulturellen, religiösen, sozialen, sexuellen Vielfalt besser gerecht zu werden, in der das Phänomen Geschlecht sich herausbildet und realisiert.

Allerdings wurde auch die tiefe Verankerung dualer Geschlechtermodelle in den Köpfen von Historikern offenbar. Schon nach dem ersten Beitrag wurde aus dem Plenum nachdrücklich die Frage gestellt, ob die Vortragende denn nun der Meinung sei, dass die Frau unterdrückt worden sei oder nicht? Die Entwicklung der historischen Genderforschung geht seit nunmehr mindestens zwanzig Jahren diffizile Wege und verfolgt ein solches Paradigma nicht mehr. Besser als jeder Vortrag es gekonnt hätte, zeigte dieser Diskussionsbeitrag die Beharrungskraft und Orientierungsfunktion jener großen Geschichtserzählung, die offenbar noch immer auch auf die Genderforschung projiziert wird.

http://www.uni-konstanz.de/historikertag/
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