Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Hannah Arendt 1906-2006, Teil II

Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? Hannah Arendt 1906-2006, Teil II

Organisatoren
Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Hannah Arendt-Zentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und dem Zentrum für Philosophie der Justus-Liebig-Universität Giessen
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2006 - 07.10.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefanie Rosenmüller; Marianne Zepp, Heinrich Böll Stiftung

Die Konferenz „Verborgene Tradition - Unzeitgemäße Aktualität?“ aus Anlass des 100. Geburtstags von Hannah Arendt fragte in ihrem zweiten Teil nach der Aktualität der politischen Philosophie Hannah Arendts. Damit legte die Tagung, ausgerichtet vom 5. bis 7. Oktober in Berlin von der Heinrich Böll Stiftung zusammen mit den Universitäten Gießen und Oldenburg, den Schwerpunkt auf Fragen nach der Geltung der Menschenrechte, nach den Grenzen des Nationalstaates und der Mundialisierung von Politik in Zeiten einer sich globalisierenden Welt und nach den transformatorischen Herausforderungen an Institutionen, um sie für die Demokratie tauglich zu erhalten.
Am ersten Tagungsmorgen wurde Arendts eigener Weg vor allem als Abwendung von zeitgenössisch anderen Konzeptionen sichtbar: gegen eine apolitische Utopie, gegen eine vorpersonale Daseinkonzeption, gegen Nostalgie, aber auch gegen aufklärerische Vernunftorientierung und gegen Identitätskonzepte. Vor diesem Hintergrund galt der Morgen des zweiten Tagungstages zunächst der philosophischen Interpretation und erweiterten Relektüre der Arendtschen "Vita activa" mit zwei Vorträgen, die ihre philosophische Konzeption und deren Erweiterbarkeit ausloteten. In den nachfolgenden drei Diskussionsrunden wurde der Aktualität des Arendtschen Denkens anhand dreier Problemstellungen nachgegangen: mit vier Vorträgen zur Menschenrechtsfrage, einem Podium zur Frage nach der Verfasstheit des Politischen am Beispiel des Republikanismus und der Abschlussdiskussion zur Frage nach den Orten des Politischen angesichts der Globalisierung.

Ingeborg Nordmann, bis 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dresdner Hannah-Arendt-Institut und u.a. Mitherausgeberin des Arendt-Denktagebuchs, eröffnete den zweiten Tagungsteil mit dem Vortrag „Die Vita activa ist mehr als nur Praktische Philosophie“.
Arendt verwende, so Nordmann, philosophische Begriffe, um sie zu dekomponieren und gleichsam in einer zeitlosen „Kristallisation“ verschiedener historischer Momente neu zusammenzusetzen. Während Arendt oft als Aristotelikerin gesehen werde, die die Trennung von poiesis und praxis übertrieben habe, zeigte Nordmanns Lesart der Arendt-Montagen das Gegenteil. Wie Heidegger habe Arendt gesehen, dass Aristoteles’ praktische Philosophie nicht ausbaufähig sei. In Vita activa greife sie auf das Resumé ihres Varnhagen-Buches zurück, nachdem die aporetische Lebenssituation Rahel Varnhagens, ihre „Groundlessness“, zugleich als Widerstand gegen einen identitätstheoretischen Anspruch zu interpretieren sei. Um die aristotelische phronesis, für Arendt als Vorläuferin von Kants Urteilskraft verwendet, aus der Umklammerung der poiesis, des planerischen Herstellens, zu befreien, würden, so die nächste Montage, Homer und Thukydides, insbesondere die Grabrede des Perikles, von Arendt zu Aristoteles hinzugestellt, sodass mit Homer gestützt, der Gedanke Aristoteles’ („denn nur was allen glaub- und meinungswürdig erscheint, nennen wir Sein“) nunmehr von Arendt als eine Pluralität und Freiheit gleichermaßen aussprechende Einsicht in das Politische entwickelt werden kann.
Wenn Arendt jedoch in Vita activa kein planbares Programm vom richtigen Handeln entwickeln wollte, was vermittele die Vita activa dann? Nach Nordmann liegt die Antwort in den Arendtschen Aporien, die um die Frage des Nicht-Gelingens kreisen. Die Vita activa müsse man demnach weniger als richtige Begründung von Politik oder zur Sicherstellung richtigen Handelns lesen, sondern eher mit dem Ziel, die Gleichzeitigkeit von Ermöglichung und Verunmöglichung des Handelns vor einer aporetischen Erstarrung zu bewahren.

Rahel Jaeggi, politische Philosophin an der Universität Frankfurt a. M., begann ihren Vortrag „Die im Dunkeln sieht man nicht: Arendts Theorie der Politisierung“ mit der Eröffnung, Arendts öffentliche Resonanz sei schon aktueller gewesen. Für die Wiederkehr der sozialen Frage in der nationalen und internationalen Politik finde sich wegen der in ihrer Theorie strikt vorgenommenen Trennung von Arbeit und Handeln bzw. von „Brot und Politik“ bei Arendt scheinbar wenig Unterstützung. Jaeggi schlug dagegen eine erweiterte Interpretation der Vita activa vor, die weniger eine „Theorie der Politik" als eine „Theorie der Politisierung" sei. Das Politische sei dann gerade nicht vorgegeben, sondern ein prekäres Verhältnis. Die Grenzziehung zwischen Politischem und Nicht- oder Vorpolitischem sei nicht konstant, sondern selbst Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen: Hier sei Arendts Unterscheidung zwischen Arbeiten und Handeln anzusiedeln. Politisch oder sozial seien dann nicht per se bestimmte Gegenstandsbereiche, sondern eine bestimmte Weise der Thematisierung von Fragen, die das gemeinsame Zusammenleben betreffen. Damit könne jeder Themenbereich in einem Akt öffentlicher Aneignung politisiert werden.
Der Sinn der Dichotomie des Sozialen und Politischen bei Arendt liege deshalb in einer Abwehr vom naturalistischen Verständnis politischer Fragen - auch wenn bei Arendt selbst Ansätze der Renaturalisierung des Sozialen zu finden seien - ebenso wie in einer Abwehr technischer Vorstellung Lösungsvorstellungen politischer Fragen und Konflikte.

Peg Birmingham, Philosophin an der DePaul University, eröffnete das erste Podium zum Thema „Groundlessness. Dissidenz und Menschenrechte“ mit der These einer natalistischen Begründung der Menschenrechte bei Arendt: The Anarchistic Event of Natality: The Ontological Foundation of Human Rights.
Sie untersuchte die Frage, ob Arendts „postmetaphysisches“ Denken ohne substanziellen Grund eine normative Basis für das „Recht auf Rechte“ bereitstellen könne, die die politische Inklusion und Teilnahme der Flüchtlinge, Staatenlosen und Rechtlosen erlaube, ohne auf eine Basis von gemeinsamen Werten zurückzukommen.
Für Arendt liege das Prinzip der Humanität, das die Menschenrechte begründe, im Prinzip des Anfangs, in dem anarchischen Ereignis der Natalität, das ein ontologisches Ereignis darstelle. Jedoch sei Arendts Ontologie keine essentialistische Ordnung. Rechte, argumentiere Arendt, etablieren Grenzen und Limitierungen, während Prinzipien Quellen des Handelns und den gemeinsamen Grund, in dem Gesetze verankert seien, darstellen. Prinzipien des Handelns schreiben keine Ziele vor, und anders als partikulare Motive sei die Geltung eines Prinzips nach Arendt immer universell.
Arendt weise mit Augustinus darauf hin, dass Natalität zudem etwas „Gegebenes“ sei. Nach Birmingham lässt dies an den politischen Status des Flüchtlings denken, der unqualifiziert, das heißt ohne weitere Notwendigkeit einer politischen Identität, das Recht habe, zum politischen Raum zu gehören. Am Ende ihrer Imperialismusanalyse habe Arendt festgestellt, dass der moderne westliche Staat, durch die homogene Macht des „Volkes“ konstituiert, seine Mitglieder zu bloßen Existenzen reduziere, nicht nur, um sie von den Staatsgrenzen, sondern ganz von der Erde ausstoßen zu können. Hellsichtig prognostizierte Arendt 1963 den Genozid als die dominierende Gewalt der zeitgenössischen Welt.

Stefan Gosepath, Professor an der Universität Gießen und Mitveranstalter der Konferenz, verteidigte in seiner Replik „Menschenrechte und das 'Recht, Rechte zu haben' bei Hannah Arendt und heute“ gegen Arendt eine liberale Konzeption von Menschenrechten. Arendts „einziges Menschenrecht", das Recht, zu einer politischen Gemeinschaft zu gehören, habe zentrale Schwierigkeiten: Es sei widersprüchlich konzipiert. Arendts Ausweg einer bürgerschaftlichen, und nicht moralischen oder ethnischen Begründung, behaupte zudem im Unterschied zur liberalen Konzeption den Vorrang der öffentlichen kollektiven Selbstgesetzgebung der Staatsbürger. Nach der liberalen Konzeption gehen jedoch die Grundrechte den Partizipationsrechten voraus und seien moralisch legitimiert. Nur dann könnten sie als Schranken den Spielraum des Gesetzgebers eingrenzen. Mit einer moralischen Begründung der Volkssouveränität verliere auch Arendts Kritik an den abstrakten und weltlosen Menschenrechten an Stichhaltigkeit. Sie treffe empirisch auf die heutigen, politisch zu verstehenden Menschenrechte auch nicht mehr zu. Inzwischen habe man sich auf einen transkulturell geteilten minimalen Konsens ähnlich dem „overlapping consensus" (Rawls) einigen können, mit dem die Durchsetzung von Menschenrechten möglich werde, selbst wenn über die richtige Begründung weiterhin Dissenz herrschen sollte. Deshalb seien die Menschenrechte keineswegs mehr leer und wirkungslos und ihre Sicherung auch nicht mehr auf Staatsbürger begrenzt.

Etienne Balibar, Université de Paris-Nanterre, verknüpfte daraufhin die beiden Bestandteile des Podiumtitels „Menschenrechte und Dissidenz“ und bestritt die Herleitbarkeit des Rechts: „Deconstructing the Human as Human Institution. A Reflection on the Coherence of Hannah Arendt’s Practical Philosophy“.
Nach Balibar forciert Arendt die Idee einer Politik der Menschenrechte bis zu dem Punkt, dass die Dissidenz, als ziviler Widerstand verstanden, zum Kriterium einer rechtlichen Institution werde, die es möglich mache, Gegenseitigkeit erst zu etablieren. Arendt verorte so paradoxerweise ein Prinzip der Anarchie mitten in der arché (Anfang und Herrschaft). Deshalb sei die „Groundlessness" bei Arendt nicht nur eine logische Position, sondern auch eine praktische. Das beinhalte ein zutiefst antinomisches Element bzw. eine gewaltsame Kombination des Politischen mit dem Unpolitischen und eine Dialektik im Sinne einer Einheit von Gegensätzen.
Arendt zeige mit dem „Arendt Theorem“ in Teil II ihres Totalitarismusbuches eine typische Argumentationsfigur der reductio ad absurdum, nach der das Begründungsverhältnis von Menschen- und Bürgerrechten umgekehrt werden müsse. Der Grund sei im Begriff der Rechte enthalten, denn sie seien nicht Qualitäten von individuellen Subjekten. Nach Arendt gelte: Unabhängig von der Institution der Gemeinschaft „gebe“ es schlicht keine Menschen - dies nicht im Sinn einer organischen Gemeinschaft oder anderen naturalistischen Mythen, sondern im Sinne einer Reziprozität von Handlungen.
Arendts Vorstellung von „Isonomie“ übersetzte Balibar mit „gleicher Freiheit" und interpretierte sie als Institution, in der sich Individuen wechselseitig Rechte zusprechen und sich so die konkrete Figur eines Arendtschen „Rechts auf Rechte“ garantieren. Erst aus Gleichheit resultiere Freiheit, die beide eine „zweite Natur“ herstellen, ohne dass ihr eine Natur vorausgehe. Dafür spreche Arendts Aufgriff des Bürgers, den sie nicht von Aristoteles, sondern von Herodot („neither command nor obey") übernehme. Während nach Aristoteles in der arché ein Prinzip von Autorität gegeben sein müsse, sei Otane, der Mythos des Prinzen bei Herodot, ein Anarchist. Damit schliesse Arendt erneut einen Begriff von Antinomie in die Konstruktion des Politischen ein. Ohne die Möglichkeit der Dissidenz könne es keine legitime Institution des Gehorsams geben.

Volker Gerhardt, Humboldt Universität zu Berlin, schloss die Runde mit einer gemäßigt optimistischen Sicht auf die Menschenrechte ab und bestärkte die von Gosepath ausgeführte liberale Kritik an Arendt. Arendt könne man, so Gerhardt, sowohl politisch als auch literarisch lesen. Man werde dann den Befund machen, dass sie eine Nostalgikerin sei. Bei Arendt gebe es daneben auch normative Einschübe, wenn sie die Bedeutung politischer Bewegungen emphatisch belege und Kommunikation hoch bewerte. Hier gebe es einen anti-institutionellen Effekt, doch Arendt denke letztendlich institutionell, wenn sie den israelischen Gerichtshof im Eichmann-Text anerkenne.
Nach Gerhardt sind positive Sanktionen ebenso wie moralische Begründungen notwendig. Sie seien in dem bereits erwähnten „overlapping consensus" denkbar oder als Möglichkeit der Verständigung, die selbst als Teil von Befehlen noch vorausgesetzt werden müsse. Arendt gehe im Übrigen selbst in ihrem kommunikativen Ansatz, der eine Erwartung zum Handeln einschließe, von einer Begründungserwartung aus. Ein weiterer Einwand gegen Arendt sei in ihrer späten Kant-Rezeption die einseitige Favorisierung der Urteilskraft, die eine Schwäche ihres Konzepts ausmache. Gerhardt vertrat damit gegen Arendt eine kantische Vernunft-betonte Position.

Das zweite Panel mit dem Titel „Individuum – Gemeinschaft – Institution“ widmete sich daraufhin dem Aspekt einer aktuellen Debatte über den Republikanismus.

Der Beitrag von Jean Cohen, Columbia University New York, betitelt: „Rights and Sovereignty: Thinking With and Against Hannah Arendt“, stellte zunächst eine Ausweitung der Menschenrechtsfrage und eine Brücke zur Abschlussdiskussion vor. Da die USA als Supermacht mit einem absoluten Konzept von Souveränität ihr Recht der imperialen Machtausübung begründe, geht es nun nach Cohen darum, das Konzept von Souveränität sowohl vor wiederbelebten absolutistischen Interpretationen zu schützen, als auch die ihm inhärente Selbstbeschränkung und die Idee der Nicht-Intervention vor ihren Kritikern - inklusive Hannah Arendt - zu retten. Arendts Arbeit zu Souveränität und Menschenrechten sei instruktiv, aber lückenhaft. Denn Arendt sah die solipsistische Freiheit des Souveräns als antithetisch zur Freiheit an. Die Gleichsetzung der Souveränität mit dem Willen hindere Arendt aber daran, den Dualismus im Konzept der Souveränität selbst zu sehen. Souveränität als Institution und Diskurs sei faktisch und symbolisch aber immer dual gegeben als voluntas und ratio, Fakt und Norm, Willkür und Recht. Externe Souveränität beinhalte zudem stets politische und rechtliche Beziehungen, und ohne Einheit, die durch den souveränen Staat gesichert werde, habe politische Freiheit keinen Rahmen. Es gebe deshalb nicht die Wahl zwischen einem westfälischen System von Staaten ohne Souveränität oder einer kosmopolitischen Weltregierung ohne politische Autonomie, beruhend auf Gerechtigkeit und Rechten, sondern die zwischen einem neuen souveränen Regime, basierend auf dem Zwillingssystem von souveräner Gleichheit und Menschenrechten oder einer imperialen Hegemonie.

Rainer Forst, Universität Frankfurt a. M., erläuterte in seinem Beitrag das Stichwort des zweiten Podiums „Neuer Republikanismus", das von Margaret Canovan stammt. Arendt habe auf das Übel des totalitären Staates antworten müssen, in der politische Freiheit ein prekäres Gut war. Insofern könne man bei Arendt von einem negativen, „rettenden Republikanismus" sprechen, einem „republicanism of fear". Arendt dachte Geschichte als Katastrophe und nicht als Fortschritt. Vor diesem Hintergrund habe Arendt rettende Kräfte versammeln wollen. Forst machte zudem neun positiv beschriebene Dimensionen des Politischen bei Arendt aus: die dramaturgische Dimension des authentischen politischen Raumes, die heroische, die zeitliche der Erinnerungswürdigkeit, die historische und die Dimension der Selbstentbergung, die objektivistische Dimension des Inter-Esse, d.h. dem gemeinsamen Anliegen, die erkenntnistheoretische Dimension, die Dimension von Versprechen und Verzeihen, die Politik ermögliche, und die institutionelle Dimension in ihrer Bedeutung für die Dauer des öffentlichen Raumes. Politik sei dort, wo die Verhältnisse aufbrechen. Einschränkend müsse gesagt werden, dass Arendt in ihrer elitär gedachten Rätedemokratie die sozialen Bedingungen nicht reflektiert habe.

Otto Kallscheuer, freier Publizist und der nächste Redner zur Frage des Republikanismus, stimmte dem „republicanism of fear" zu und führte aus, Arendt verwende in ihrer Kritik der Arbeitsgesellschaft einen aporetischen Naturbegriff, denn Natürliches entberge sich bei ihr erst im "politischen Zwischen". Sie habe keine normative Theorie entwickelt, sondern eine normativ gehaltvolle Vision politischer Existenz, bei der sie auf Exempel setze. Generell habe Arendt keine Theorie des Republikanismus entwickelt und da Konsistenz einer Theorie kein Kriterium für sie gewesen sei, eher eine „existencial coherence". In den verschiedenen Facetten von existenzialistischem Republikanismus und libertärer Demokratie, von romantischem Republikanismus und realistischem Urteilen, von movimentistischen und konstitutionellen Ansätzen, von Orientierung an Öffentlichkeit und anti-diskursiven Regungen, sei Arendt Ekklektizistin gewesen. Kallscheuer sprach damit Arendt einen genuinen Zugriff auf das Thema Politik ab.

Auf diese Weise erhielt die Diskussion eine unterhaltsame Note und die Fachdiskussion wich einem breiteren Diskussionsrahmen. Mit der Frage, ob ein „Republikanismus der Furcht“ noch sinnvoll sei, wurde eine Überleitung zum Abschlusspodium hergestellt, bei dem das Spannungsverhältnis zwischen republikanischem Anspruch der Teilhabe und Repräsentation und Globalisierung diskutiert wurde.

Benjamin Barber eröffnete die Diskussion mit einem kritischen Bezug auf die aktuelle amerikanische Politik. Er vertrat die Position, dass Terror eine Erscheinungsform von Globalisierung darstelle.
Es gebe verschiedene Definitionen von Terrorismus und Totalitarismus, doch Amerika als Gegenmodell habe seit Guantanamo seine Unschuld verloren. Vielmehr müsse Globalisierung - und damit auch die Position der USA in der Welt - mit Weltmarkt und globaler Vermarktung zusammen gesehen werden. Die Erweiterung der Privatisierung, eine Folge des internationalen Kapitalismus, etabliere ein planetares Heim für den oikos, die Kategorie des Haushalts. Arendts Argument der Trennung von öffentlicher Politik und privatem Haushalt müsse auf die globale Ebene transformiert werden. Man brauche eine Dramatisierung der Globalisierung und ihrer politischen und sozialen Folgen und eine Entdramatisierung der Debatte um den militanten Islamismus.

Micha Brumlik, Publizist und Erziehungswissenschaftler an der Universität Frankfurt a. M., argumentierte im Anschluß an Forsts Sentenz zum „republicanism of fear“, dass Angstverstärkung nicht zum republikanischen Engagement beitrage. Die res publica sei nicht dasselbe wie die societas civilis und nicht dasselbe wie die Zivilgesellschaft. Zur Weltgesellschaft heute sei entgegen Barber der Weltmarkt nur als ein Aspekt zu gewichten. Arendts Konzepte zum Verstehen der Weltgesellschaft seien jedoch nicht sehr ergiebig, weil es bei Arendt kein Sensorium für die soziale Verfasstheit gebe. Arendt habe übrigens das „Recht auf Rechte" übernommen oder zum zweiten Mal erfunden: Schon nach Hegel sei Recht „daseiende Freiheit". Doch bei Hegel komme vor der Weltrepublik die Frage nach der Welt-Rechtsstaatlichkeit. Deshalb könne man nur innenpolitisch dem Republikanismus huldigen. Desweiteren seien Selbstmordattentate zwar kein Totalitarismus, auch wenn die Konzepte totalitär seien. Die realen Gefahren solle man jedoch nicht verkennen. Der Unterschied zum Totalitarismus liege darin, dass es keine staatsbildenden Intentionen gebe.

Gertrude Lübbe-Wolff, Bundesverfassungsrichterin in Karlsruhe, führte aus, Arendts Begriff der Politik habe sich an der überschaubaren griechischen polis orientiert. Beim Thema Globalisierung gingen nach Lübbe-Wolff vor allem zwei Dinge zusammen: erstens der Machtzuwachs der Exekutive und zweitens das Auseinanderfallen von Markt und Staat. Beides zusammen führe zu einem Demokratiedilemma.
Die auswärtige Gewalt sei traditionell Sache der Exekutive und innerstaatlich durch das Parlament gebilligt. In der EU werde das Parlament bekanntlich nur angehört. Hier gebe es einen bedenklichen Machtzuwachs der Exekutive zu verzeichnen, deren Änderung mit dem vorläufigen Scheitern der Verfassung der EU in Frage gestellt sei. Die Bürger sollten ihre Mitwirkung anmahnen.
Auch beim Verhältnis von Markt und Staat gebe es einen Verlust an Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Das Maß der möglichen Selbstbestimmung werde kleiner, je größer das Kollektiv werde. Das Gebot der Demokratie müsse generell sein, den Entwicklungen Grenzen und Rahmen zu setzen. Dies sei vor allem in drei Dimensionen notwendig: in der Direktive der Ausübenden Gewalt, zweitens sei das Prinzip der Subsidiarität zu stärken, drittens bestehe eine Konfusion in der Abgrenzung zwischen Privatem und Öffentlichkeit. Zur Frage einer Weltregierung sei dann zu überlegen, wie kollektive selbstbestimmte Akteure zu denken wären. Gefolgert aus dem Demokratiedilemma seien als Gegengewichte sowohl die Macht der Meinung als auch die Macht der Bürger als Konsumenten zu stärken. Dafür seien vor allem globale Kommunikationsstrukturen offen zu halten.
Nach Oliver Marchart, Universität Basel, hat Arendt Politik anders interpretiert als die Tradition: Ein Skandal bestehe darin, dass laut Arendt Politik Spass mache: „acting is fun“. Üblich sei es, Politik als Bürde zu sehen und nicht als „public happiness". Anders als Forst sah Marchart deshalb eine Ambivalenz in Arendts Republikanismus, weil Arendt mit diesem Begriff von öffentlichem Glück einen optimistischen Zug in ihrer Theorie entwickelt habe, der in Arendts Prinzip der Natalität gegründet sei. Selbst totalitäre Herrschaft könne die Fähigkeit des Neu-Beginnens nicht völlig auslöschen. Mit Arendt gehe es um eine Form des Handelns gegen das Denken eines Thatcherism, der „keine Alternative“ zum Neoliberalismus sah. Der Gegenslogan laute: „Eine andere Welt ist möglich". Arendt gebe dazu eine wichtige Inspiration, weil die Welt bei ihr nicht als ein abgeschlossener, auswegloser Globus gedacht wurde. Die Welt als mundus hingegen habe bei Arendt einen performativen Sinn und die Öffentlichkeit keinen objektiven Raum, sondern entstehe mit immer mehr Alternativen „zwischen“ uns. Die öffentlichen Bewegungen zur Demokratisierung seien insofern die republikanische Garantie eines öffentlichen Raumes.

Berücksichtigt man die Einwände, die Brumlik, Forst und Cohen gegen Arendt vorbrachten, bzw. das Dilemma des nationalen Souveränitätsprinzip und der institutionalisierten Politik, so wurde deutlich, dass Arendt entscheidende Probleme einer globalen Welt zumindest aufgeworfen und thematisiert hatte. Wie in einem Vexierbild beleuchtete der zweite Tagungsteil abwechselnd die zwei Gegenpole in Arendts schillernden Schriften, die beide mit dem Traditionsbruch zu tun haben: „Groundlessness“ und skeptizistischer „republicanism of fear“ einerseits, „Natalität“ und „Neubeginn“ andererseits; Marcharts optimistischer Abschlusston einer demokratischen Selbstermächtigung setzte hierfür offensichtlich das richtige Signal.

Ein Band mit Beiträgen der beiden Konferenzteile ist in Vorbereitung.


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