Les corporations: des acteurs du ‚marché‘? / Die Zünfte – Akteure des ‚Marktes‘?

Les corporations: des acteurs du ‚marché‘? / Die Zünfte – Akteure des ‚Marktes‘?

Organisatoren
Mission Historique Française en Allemagne (MHFA)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Julia A. Schmidt-Funke, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz; Guillaume Garner, Mission Historique Française en Allemagne, Göttingen

Die Mission Historique Française en Allemagne (MHFA) in Göttingen veranstaltete am 19. Februar 2008 eine Journée d’études zum Thema „Les corporations: des acteurs du ‚marché‘? Espace allemand, France, XVIIe-début XIXe siècle/Die Zünfte – Akteure des ‚Marktes‘? Deutschsprachiger Raum, Frankreich, 17. - frühes 19. Jahrhundert“. Im Zentrum des von Guillaume Garner (MHFA) initiierten und organisierten Studientags stand ein in der französischen, deutschen und österreichischen Geschichtswissenschaft zu beobachtender Wandel: Seit etwa 15 Jahren wird die vermeintliche Unvereinbarkeit von Markt und Zunft, von der die ältere Forschung mit ihrer Unterscheidung von traditionaler Wirtschaft und Marktwirtschaft lange Zeit ausgegangen war, in Frage gestellt. Neuere Studien legen dar, dass die Zünfte keineswegs mit der Unterdrückung, sondern vielmehr mit der Regelung von Konkurrenz befasst waren und dass ihr regulatives Handeln etwa bei der Rohstoffverteilung, des Arbeitsmarkts und der Qualitätskontrolle neu zu bewerten ist. Hauptanliegen des Studientages war es deshalb, einen Dialog zwischen der französischen, österreichischen und deutschen Geschichtswissenschaft anzuregen und über eine grundlegende Neubestimmung von Zünften, Markt bzw. Marktwirtschaft nachzudenken.

Vor diesem Hintergrund erschien es durchaus angemessen, dass der Direktor der Mission Historique, THOMAS LIENHARD, in seiner Begrüßung darauf hinwies, dass der Dialog zwischen französischen und deutschsprachigen Historikern durch die Veränderungen am Wissenschaftsstandort Göttingen nicht gefährdet sei, da sein Haus von der Schließung des Max-Planck-Instituts für Geschichte nicht existentiell bedroht sei.

GUILLAUME GARNER skizzierte dann in seiner Einleitung die französische und deutschsprachige Forschungsentwicklung, wobei der Schwerpunkt seiner Ausführungen auf dem Begriff des Marktes lag. Garner stellte dar, dass die französische Annales-Schule ebenso wie die deutsche Sozialgeschichte Bielefelder Prägung ein aus der neoklassischen Ökonomie stammendes Verständnis von Markt auf das frühneuzeitliche Wirtschaftsleben übertragen habe. Mit dem darauf beruhenden dichotomischen Begriffspaar der market-economy/non-market-economy könne die „grundlegende Alterität vormoderner Wirtschaft“ aber nicht erschlossen werden. Garner betonte deshalb die „Notwendigkeit eines aufgeschlossenen Marktbegriffs“: Mit der von der Mikro-Historie, der Historischen Anthropologie und der économie des conventions gewählten Akteursperspektive lasse sich der Markt als ein vielschichtiges soziales Handlungsfeld beschreiben. Garner schlug vor, dieses Handlungsfeld auf den Zusammenhang von Produktion und Konsum, auf Praktiken und Vorstellungen sowie auf seine räumliche Dimension hin zu untersuchen. Knapper ging Garner auf die Zünfte ein, deren Erforschung sich derzeit an vier Fragen ausrichte: Untersucht würden alltägliche Praktiken, normative Kategorien wie ‚Nahrung‘ und ‚Störer‘, Konfliktlinien innerhalb von und zwischen Zünften sowie ihre Regelungskompetenz.

Im Verlauf des Tages wurde jedes dieser Untersuchungsgebiete angesprochen. Die von SALVATORE CIRIACONO (Universität Padua) geleitete erste Sektion widmete sich an zwei Beispielen aus dem 18. Jahrhundert der französischen Situation. Zunächst stellte Georges HANNE (Universität Toulouse II) seine aus einer reichen Überlieferung in den Archives départementales schöpfenden Forschungen zur Zunft der Barbiere und Perückenmacher in Toulouse vor. Die etwa 70 bis 80 Mitglieder dieser Korporation waren zur Ausübung ihres Gewerbes auf den Besitz eines königlichen Privilegs angewiesen, das von der Monarchie verkauft, von den Privilegienträgern vererbt und gegebenenfalls an Gewerbetreibende vermietet wurde. Vor diesem Hintergrund präsentierte Hanne die Zunft der Barbiere und Perückenmacher als einen Akteur auf vier miteinander verwobenen Märkten: Als einen ersten stellte er den „marché des privilèges“ vor, auf dem die Zunft Verkauf und Vermietung der Privilegien regulierte. Als einen zweiten Markt benannte Hanne den Arbeitsmarkt, auf dem die saisonal stark schwankende Beschäftigung von etwa 370 Arbeitskräften durch die Zunft geregelt wurde. Als dritten Markt unterschied Hanne den durch starke Konkurrenz geprägten Konsummarkt. Zur Diskussion stellte Hanne schließlich die Existenz und Struktur eines vierten Marktes, den er als „marché de la décision judiciaire“ bezeichnete.

Ebenfalls stark auf die Praxis der Privilegienvergabe bezog sich der darauffolgende Beitrag von DOMINIQUE MARGAIRAZ (Universität Paris I), die das Zusammenspiel von monarchischer Privilegierung und zünftiger Regulierung am Beispiel der Pariser Fuhrleute beleuchtete. Margairaz stellte mit dem öffentlichen Transportwesen ein im 17. Jahrhundert entstandenes Gewerbe vor, dessen Ausübung ebenso wie bei den Toulouser Barbieren und Perückenmachern eines königlichen Privilegs bedurfte, das entweder direkt erworben oder von Privilegienbesitzern gepachtet wurde. Zu einer Zunft waren die Fuhrleute jedoch nicht zusammengeschlossen. Die aufgrund der Verpachtung von den Privilegienbesitzern abhängigen Subunternehmer drangen aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrfach auf eine zünftige Organisation des Gewerbes, die das System der Privilegienvergabe ersetzen sollte. Anhand dieser letztlich vergeblichen Vorstöße, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts Elemente eines neuen wirtschaftlichen Denkens aufwiesen, wertete Margairaz die von den Subunternehmern gewünschte Zunft als Modell einer berufsständischen Selbstorganisation mit liberalisierender Tendenz.

In der anschließenden Diskussion der beiden Beiträge spiegelte sich zum einen die Unsicherheit, ob und wie mit dem von Garner einleitend eingeforderten und von Hanne verwendeten weitgefassten Marktbegriff gearbeitet werden könne. Ob es tatsächlich sinnvoll sei, die staatlich stark regulierte Handlungsebene der Privilegienvergabe und -verpachtung als Markt zu bezeichnen, wurde von ROBERT BRANDT (Universität Frankfurt am Main) hinterfragt. Zum zweiten zeugte die Diskussion von den Schwierigkeiten, die am Problem der Privilegierung ausgerichtete französische Forschung auf den deutschsprachigen Raum zu übertragen. Die Frage, in welcher Form Privilegien das Wirtschaftsleben diesseits des Rheins geprägt hatten, stand daher auch im Mittelpunkt mehrerer Wortmeldungen. Aufschlussreich war insbesondere das von PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Universität Konstanz) eingebrachte Beispiel des Lübecker Braugewerbes, dessen Privilegien an Häuser gebunden waren, weshalb sich die Brauerzunft als Akteur auf dem Immobilienmarkt betätigte.

In den Beiträgen der dem deutschsprachigen Raum gewidmeten, von Guillaume Garner geleiteten Nachmittagssektion spielte das Privilegienwesen dann aber keine Rolle mehr. CHRISTOF JEGGLE (Universität Bamberg) wiederholte einleitend einige bereits von Garner vorgetragene Argumente für eine Neubewertung von Markt und Zünften. Ergänzend erinnerte er daran, dass das in der älteren Forschung vorherrschende Negativbild der Zünfte im bürgerlich-liberalen Selbstverständnis vieler Wirtschaftshistoriker wurzele. Mit seinen darauffolgenden Ausführungen zu den Leinewebern im westfälischen Münster erprobte Jeggle dann die Anwendbarkeit eines von dem Soziologen Harrison White in Markets from Networks (2002) beschriebenen Marktmodells. Jeggle begriff Whites Modell als Anregung, vermehrt auf das Motiv der Qualitätssicherung zu achten und die Bildung von Korporationen als Marktstrategie zu verstehen, um einen neuen Blick auf die Münsteraner Leineweber zu eröffnen. Diese waren ebenso wie die von Margairaz vorgestellten Pariser Fuhrunternehmer nicht zunftgebunden. Die in Münster ansässigen Leineweber mit Bürgerrecht schlossen sich aber zu einer Bruderschaft zusammen, als sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts zunehmend unbürgerliche Leineweber in der Stadt ansiedelten. Diese Bruderschaft agierte nun Jeggle zufolge als Organisator des Produktionsmarktes im Sinne Whites, indem sie verschiedene Strategien zur Qualitätskontrolle entwickelte. Dazu zählte unter anderem das Vorgehen gegen unvollständig ausgebildete, nichtbürgerliche Weber sowie ein von der städtischen Legge abweichendes Verfahren, das auf die persönliche Haftung der einzelnen Weber zielte.

In einem anschließenden Beitrag widmete sich REINHOLD REITH (Universität Salzburg) dem Thema des Ressourcenmanagements am Beispiel der Holzkohle. Zuvor positionierte sich aber auch Reith mit einigen allgemeinen Ausführungen in der Debatte um Märkte und Zünfte und plädierte mit Stephen Epstein dafür, die Mittlerrolle der Zünfte stärker zu berücksichtigen. Zudem hob Reith zunächst die generelle Bedeutung von Rohstoffen hervor, die aufgrund ihrer begrenzten Verfügbarkeit den frühneuzeitlichen Produktionsprozess weit mehr bestimmt hätten als etwa die Arbeitskraft. Mit der Gegenüberstellung der Kohleversorgung in Städten wie Nürnberg, Zürich, Braunschweig und Frankfurt gelang es Reith im Folgenden, das Vorangeschickte zu illustrieren. Während in Nürnberg die Versorgung mit Holzkohle durch den Rat erfolgte, der durch Zukauf, Aufkaufverbot und Bevorratung den Markt regulierte, übernahm diese Aufgabe in Zürich die Schmiedezunft. Ähnliches lässt sich für Braunschweig nachweisen, wo es der Gilde oblag, den Preis der Holzkohle festzusetzen. Insgesamt wies Reith den Zünften eine tragende Rolle auf dem Gebiet des Ressourcenmanagements zu, was sich in Zürich auch auf symbolischer Ebene in der Mitführung eines Kohlenkorbes und der Stiftung eines silbernen Kohlenkorbes niedergeschlagen habe.

THOMAS BUCHNER (Universität Linz) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit den ‚Störern‘, die als außerhalb der Korporation stehende Arbeitskräfte Rückschlüsse auf das Verhältnis von Markt und Zunft ermöglichen würden. Zu diesem Zweck seien allerdings auch hier die Bewertungen der älteren Forschung kritisch zu hinterfragen. Buchner machte deutlich, dass eine Revision ihrer Urteile zwangsläufig dazu führe, die Annahme von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen ‚Störern‘ als Indikatoren marktwirtschaftlicher Prinzipien einerseits und Zünften als Hemmnis marktorientierten Wirtschaftens andererseits aufzugeben. Vielmehr lasse sich das komplexe Verhältnis zwischen ‚Störern‘ und Zünften in vier, jeweils nebeneinander bestehenden Varianten beschreiben: Konkurrenz, Marktausschluss, Modus vivendi und Kooperation. Bei der Erforschung dieser Beziehungen sei im Übrigen, wie Buchner zu Recht betonte, eine sorgsame Quellenkritik unablässig, da die von ‚Störern‘ sprechenden Dokumente stets die Perspektive der Zünfte einnähmen.

Der abschließende Beitrag stammte von CLEMENS TANGERDING (EHESS, Paris/ Technische Universität Dresden), der sich auf der Grundlage eines genau umgrenzten Quellencorpus mit dem Begriff der Nahrung nach Werner Sombart auseinandersetzte. Die von Sombart angenommenen Implikationen des Nahrungsbegriffs, die Tangerding als „intersubjektive, ressourcen- und normorientierte Ebenen“ beschrieb, ließen sich in den ausgewerteten Würzburger Suppliken aus den Jahren 1795 bis 1805 allerdings nicht nachweisen. Zwar konnte Tangerding das Wort ‚Nahrung‘ in der Hälfte der thematisch relevanten Suppliken ausfindig machen, doch war damit weder ein korporatives Denken, noch ein genossenschaftliches Einvernehmen bei der Ressourcenverteilung im Sinne des ‚Bedarfs‘, noch das normative Postulat von Standesgemäßheit und Gleichheit verbunden.

Das breite Panorama der Beiträge wurde in der darauffolgenden Diskussion noch um weitere Fallbeispiele erweitert. Eine aufschlussreiche Ergänzung zu dem von Reinhold Reith bearbeiteten Thema des Ressourcenmanagements waren die Ausführungen von Dominique Margairaz zum Pariser Leder- und Häutemarkt. Da das Material aus entfernten Regionen wie der Bretagne stammte, konnten die Zünfte den Rohstoff nicht direkt beim Produzenten erwerben, so dass die Versorgung über den zentralen Pariser Leder- und Häutemarkt lief. Unter Beteiligung aller Leder verarbeitenden Zünfte wurde dort in einem komplizierten Verfahren der Lederpreis festgelegt und die Rohstoffversorgung sichergestellt. Ergänzend wusste Reinhold Reith von ähnlichen Strukturen in Bologna zu berichten. Diskutiert wurde zudem die durch die Ausführungen Reiths aufgeworfene Frage, inwieweit das zünftige Ressourcenmanagement als Antwort auf das vom Handel dominierte Verlagssystem zu werten sei. Als einen Einschnitt bewertete Salvatore Ciriacono in diesem Zusammenhang die Verlagerung der Produktion auf das Land, durch die den Zünften die Verwaltung der Ressourcen entzogen worden sei. Die Diskussion machte damit deutlich, dass von einer vergleichbaren Organisation des Ressourcenmanagements in eidgenössischen, deutschen, französischen und italienischen Städten ausgegangen werden kann. Nicht allein sprachliche Schwierigkeiten zeigten sich hingegen bei dem Versuch, den Begriff des ‚Störers‘ auf die französische Situation zu übertragen. Nach der Einschätzung von Hanne und Margairaz sei ein ähnlicher Diskurs im Französischen nicht nachweisbar.

Es war nicht weiter verwunderlich, dass auf die erst zum Schluss von Philip Hoffmann-Rehnitz aufgeworfene Frage nach den Zäsuren der Marktentwicklung im 18. und 19. Jahrhundert am Ende dieser Journée d’études keine Antwort mehr gefunden werden konnte. Möglicherweise wird dazu ein für den Spätherbst 2008 geplanter zweiter Studientag der MHFA Gelegenheit bieten, der das Verhältnis zwischen Handel und Institution im deutschsprachigen Raum und Frankreich an der Wende zum 19. Jahrhundert thematisieren wird.

Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte als zentrale Ergebnisse des Studientages festhalten: Erstens eröffnet auf französischer wie auf deutscher und österreichischer Seite die Anwendung eines weitgefassten Marktbegriffs neue Perspektiven auf die zünftige Organisation von Arbeit und Handel in der Frühen Neuzeit, insbesondere wenn von der Pluralität der Märkte ausgegangen wird. Neu entwickelte Frageraster ermöglichen es nun, auch das vermeintlich Abseitige oder Unstimmige in die Forschung einzubeziehen. Zweitens wird zukünftig stärker die räumliche Dimension sowohl der marktförmigen Prozesse, als auch der verschiedenen, innerhalb des zünftigen Rahmens entwickelten Praktiken zu berücksichtigen sein. So legen mehrere der im Laufe des Studientages diskutierten Beispiele den Schluss nahe, dass das regulatorische Handeln der Zünfte darauf abzielte, die mit der Distanz und der wirtschaftlichen Raumbeherrschung verbundenen Unsicherheiten zu überwinden. Schließlich wird drittens der Blick auf die Vielfalt der Entwicklungen in der frühneuzeitlichen Staatenwelt gelenkt. Daraus ergibt sich für zukünftige Forschungen die Aufgabe, die Fülle der Einzelergebnisse in einem europäisch-vergleichenden Zugriff zu bündeln, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Konferenzübersicht:

Guillaume Garner, Corporations et marché : tendances récentes des historiographies allemande et française – Zunftwesen und Marktwesen : neue Tendenzen in der deutschsprachigen und französischen Historiographie

1. Frankreich (Leitung: Salvatore Ciriacono – Padua)
Georges Hanne, Travail, offices, consommation : les barbiers-perruquiers et les marchés urbains (Toulouse, XVIIIe siècle)
Dominique Margairaz, Corporation contre privilège dans les transports publics parisiens au XVIIIe siècle

2. Deutschsprachiger Raum (Leitung: Guillaume Garner – Göttingen)
Christof Jeggle, Leineweber als Akteure des Marktes ? Produktionsmärkte für Leinen und die Bruderschaft der Leineweber in Münster / Westfalen im 17. Jahrhundert
Reinhold Reith, Management knapper (materieller) Ressourcen durch Zünfte
Thomas Buchner, Ein Korrektiv des Marktes ? ‘Störer’ und Zünfte in der Frühen Neuzeit
Clemens Tangerding, Erfahrung versus Prinzip? Der Begriff der Nahrung in Würzburger Suppliken um 1800