Konflikt und Konkurrenz. Deutsch-polnische Beziehungsgeschichte im Fußball

Konflikt und Konkurrenz. Deutsch-polnische Beziehungsgeschichte im Fußball

Organisatoren
Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie für Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.05.2012 - 31.05.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Brand, Institut für angewandte Geschichte, Berlin

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Fußball in Polen und der Ukraine rasant zu einem Massensport, der sich fest in die Erinnerungskultur beider Länder einprägte. Folglich spiegelt sich die schwierige deutsch-polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts auch in den intensiven Sportbeziehungen zwischen beiden Ländern. Auf dem Symposium zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte im Fußball diskutierten mehr als ein Dutzend Wissenschaftler aus Polen und Deutschland diese deutsch-polnischen Fußballbeziehungen. Ihren Widerhall im Fußball fanden die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen beiden Ländern vor dem Zweiten Weltkrieg in gemeinsamen Länderspielen, im Streit um das von Polen und Deutschen beanspruchte Oberschlesien als auch während der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Krieg entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen dem deutschen und polnischen Fußball, der in der berühmten Wasserschlacht von Frankfurt gipfelte. Und heute prägen Spieler polnischer Herkunft nicht nur die deutsche Nationalmannschaft, sondern auch die aktuelle Meistermannschaft aus Dortmund. Im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine zielte die Konferenz darauf, historisch kompetent einen Beitrag zur deutsch-polnischen Erinnerungskultur im Sport, und insbesondere im Fußball zu leisten.

In den Reflexionen über das Verhältnis von Fußball und Emotionen, Alltagskultur und nationale Identifikation sucht zunächst GUNTER GEBAUER (Berlin) nach Theorien, mit denen er das Spektakel des Fußballs als Massenphänomen erhellen könnte. Er unterstrich dabei, dass die gängige Entgegensetzung von Vernunft und Emotion falsch sei, da es zwar eine libidinöse Beziehung der Fans zu ihren Helden auf dem Platz gebe, die Gemeinschaft auf den Rängen jedoch keinesfalls ein irrationaler Zusammenschluss sei. Vielmehr entstehe dort eine Gemeinschaft mit eigenen Ritualen und Symbolen, in der Fans auf quasi religiöse Weise ihren Glauben an idealisierte „Heilige“ auf dem Platz richteten. Dies führe nicht nur zu einer Machtstellung der „heiligen“ Spieler, sondern zugleich zu einer Stärkung des einzelnen „Ich“-Gefühls der Fans. Dieses „Ich“ der Fans wird entgegen der weitläufigen Annahme nicht in der Masse aufgelöst. Statt dessen sei die Summe der einzelnen „Ich“ ein kollektives „Wir“.

MARIUSZ CZUBAJ (Warschau) erläuterte, wie das Massenphänomen des Sports in vielen Ländern identitätsstiftend wirke, da Sport ein Kulturelement sei, das eigentlich alle Menschen im Alltag beträfe. In Polen sei der unvergessene Gründungsmythos des Fußballs das Remis der polnischen Nationalelf gegen England im Wembley-Stadion, das Polen sensationell die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1974 ermöglichte. Aus anthropologischer Sicht sei jedoch der Auftritt des ersten schwarzen polnischen Nationalspielers Emanuel Olisadebe im Jahr 2000 noch wichtiger, da er eine Zäsur im Denken über die polnische Identität darstelle.

Noch tiefer drang der Sportsoziologe RADOSŁAW KOSSAKOWSKI (Danzig) in die polnische Fanszene vor und erläuterte die Stützen der polnischen Fankultur. Die Hardcore-Fanszene definiere sich über eine Opposition gegenüber Klubeignern, Medien, Regierung und gegnerischen Fans. Dabei beruft sie sich laut Kossakowski sowohl auf Analogien aus der Welt der Religion und der Popkultur als auch – im Gegensatz zu den Modefans – auf die Traditionen des Klubs. Durch gemeinsame Rituale wie Singen und Choreografien entstehe ein gesellschaftlicher Zusammenschluss im Stadion, der soziale Unterschiede nivellieren könne.

Von Anbeginn der Entwicklung des Fußballs war das Nationale ein zentrales Moment in diesem Massensport. Dies zeigten die Referenten anhand zahlreicher Beispiele aus dem deutsch-polnisch-jüdischen Sport. DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) zeigte die Entwicklung der Turnbewegung entlang des Leitmotivs „Turnen macht Deutsch“ auf, die sich in Berufung auf Turnvater Jahn als Verwirklichung der deutschen Bürgernation feierte. Allerdings müsse man unterscheiden zwischen den nationalen Bekundungen der Turnvereine und den individuellen Erfahrungen der Mitglieder, die sich nicht auf den kollektiven Erfahrungsraum hochrechnen ließen. Auf die nationale Ausrichtung der slawischen Sokol-Turnbewegungen und der zionistischen Makkabi-Bewegung in Osteuropa verwies auch ANKE HILBRENNER (Bonn). Ihr Hauptargument war allerdings, dass sich der Fußball in Osteuropa transnational entwickelte, was sie an der Genese des galizischen Fußballsports und dessen internationalen Verbindungen auch nach der Unabhängigkeit Polens zeigte.

Von den deutsch-polnischen Spannungen in der Zwischenkriegszeit berichtete zunächst der Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung THOMAS URBAN (Warschau) anhand des 1.FC Kattowitz. In der seit 1922 zu Polen gehörenden oberschlesischen Stadt Kattowitz spielte der Verein der deutschen Minderheit 1927 um die polnische Meisterschaft – und verlor gegen die polnisch-patriotische Mannschaft Wisła Krakau. Von deutscher Seite hieß es, dass das Spiel zu Gunsten der Polen verschoben worden sei. Dieses Spiel sei dann, so Urban, zum Ausgangspunkt für die Radikalisierung des 1.FC Kattowitz hin zu einem zunehmend nationalsozialistischem Verein geworden. BRITTA LENZ (Bonn) blickte dann ins Ruhrgebiet der Vorkriegszeit und erörterte die deutsch-polnischen Konflikte um die Meistermannschaft von Schalke 04, in der etliche Zuwandererkinder aus Ostpreußen spielten. Schalke sei deshalb von der polnischen Presse als Meister mit polnischen Spielern bezeichnet wurden, wogegen sich der Verein verwahrt habe. Denn diese Zuschreibung habe der Selbstwahrnehmung der Spieler widersprochen. Lenz zeigte aber auch, dass das Integrationsmodell des Ruhrgebietsfußballs der 1930er-Jahre auf die Nivellierung nationaler und kultureller Unterschiede hinauslaufe, die offensichtlich vorhanden waren. Auf die ersten vier Länderspiele zwischen Polen und Deutschland in den 1930er-Jahren konzentrierte sich DIETER HERTZ-EICHENRODE (Berlin). Er zeigte, dass diese Begegnungen wider Erwarten freundschaftliche, faire Spiele mit einer hohen Zuschauerresonanz waren. Seine Erklärung dafür lautete, dass die seit 1919 angespannten deutsch-polnischen Beziehungen mit dem Hebel des Sports verbessert werden und das Ansehen der Deutschen im Ausland gesteigert werden sollte, um die deutsche Aufrüstung nicht zu gefährden. Die Freundschaftsspiele gegen Polen waren deshalb Folge eines politischen Kalküls, begleitet vom Opportunismus des Deutschen Fußballbunds und einer spontanen Begeisterung des Publikums.

In der Vorkriegszeit spielte auch der jüdische Fußball eine gewichtige Rolle. Dies zeigten LORENZ PFEIFFER (Hannover) für Schlesien und JAROSŁAW ROKICKI (Warschau) für das Polen der Zwischenkriegszeit. In Schlesien sei der jüdische Sport bis 1933 eher eine Randerscheinung gewesen. Erst nach dem Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Turn- und Sportvereinen gewann der organisierte jüdische Sport an Bedeutung. Im Fußball habe sich eine Rivalität zwischen den jüdischen Makkabi-Vereinen und den zum Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gehörenden Vereinen eine Rivalität entwickelt, die bis 1938 in einer eigenen jüdischen Fußballliga ausgetragen worden sei. Anders in Polen, dort, so Rokicki, hatten sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eigene jüdische Fußballvereine gegründet, von denen zwei später auch in der obersten polnischen Fußballliga gespielt haben. Interessant war zudem der Hinweis von Rokicki, dass selbst in der Emaille-Fabrik von Oskar Schindler in Krakau die jüdischen Arbeiter noch Fußball spielten.

Obwohl während des Krieges Polen das organisierte Sporttreiben unter Androhung der Todesstrafe verboten gewesen sei, sei die Anziehungskraft des Fußballs auch in dieser Zeit so hoch gewesen, dass nicht nur Spiele deutscher Mannschaften im besetzten Generalgouvernement stattgefunden haben, sondern auch polnische Untergrundspiele. ROBERT GAWKOWSKI, (Warschau), schilderte in seinem Vortrag, wie es während des Krieges in Vororten von Warschau und Krakau zu konspirativen Spielen vor mehreren tausend Zuschauern gekommen sei.

Nach dem Krieg entwickelte sich eine Konkurrenzsituation zwischen dem polnischen und deutschen Fußball. STEFAN WIEDERKEHR (Berlin) verglich auf Grundlage von Zeitungsanalysen, worauf die Presse der BRD, der DDR und Polens ihren Fokus der Sportberichterstattung von der WM 1974 richtete. Während die Presse in der BRD insbesondere die deutsch-deutsche Frage im Sport thematisierte, habe die DDR-Presse versucht, diese auszublenden und stattdessen den polnischen Fußball gefeiert. In Polen indes sei die Sportberichterstattung eher von der sportlichen Logik dominiert gewesen. Auf die heutigen polnisch-deutschen Fußballbeziehungen ging der Journalist ULRICH RÄTHER (Warschau) ein, der vom Phänomen „Polonia Dortmund“ berichtete. In Polen gäbe es einen riesigen Medienhype um die drei polnischen Spieler des aktuellen deutschen Meisters Borussia Dortmund, den der Verein geschickt für die kommerzielle Erschließung des polnischen Marktes nutze.

Die Referenten zeigten, dass nationale Identifikation ein konstitutiver Aspekt des polnischen Fußballs war und sich durch ein Jahrhundert Fußball in der Region zog. Viele Fußballer fühlten sich aber nicht immer ausschließlich einer Nationalität zugehörig oder wechselten ihr Nationalbekenntnis im Laufe des Lebens, was einige vorgestellten Fußballerbiografien nachdrücklich zeigten. RADOSŁAW NAWROT (Posen) präsentierte den Lebenslauf von Friedrich Scherfke, Star beim polnischen Verein Warta Poznań in den 1920er und 30er-Jahren und Schütze des ersten WM-Tores für Polen, der heute fast völlig vergessen ist. Als Angehöriger der deutschen Minderheit gehörte er nach Kriegsbeginn zu den Besatzern, was ihn in Polen in Verruf brachte. Noch verwirrender ist die Biografie des Oberschlesiers Ernst Wilimowski, die DIETHELM BLECKING (Freiburg) vorstellte. Wilimowski spielte sowohl für die polnische Nationalmannschaft als auf für die deutsche Nationalelf und beeindruckte hier wie dort mit einer unglaublichen Torquote. An Wilimowskis Lebenslauf zeigte Blecking, dass die Menschen in Oberschlesien immer wieder zu einem nationalen Bekenntnis genötigt worden seien. Die Wahl des Nationalbekenntnisses sei aber eher eine rational choice gewesen, um sich bestmöglich den herrschenden Verhältnissen anzupassen, und sei nicht für die Ewigkeit getroffen worden. Dieses wechselnde Nationalbekenntnis habe wohl auch dazu geführt, dass Wilimowski heute in Polen und Deutschland weitgehend vergessen ist.

Beeindruckend war auch die Biografie des oberschlesischen Stürmers Gerard Cieślik, die PAWEŁ CZADO (Kattowitz) vorstellte. Zwar habe Cieślik sein ganzes Fußballerleben an einem Ort verbracht – in der oberschlesischen Industriestadt Chorzów –, doch auch sein Leben sei gekennzeichnet gewesen von der mehrfach anstehenden Entscheidung, sich für eine Nationalität bekennen zu müssen. Zunächst habe Cieślik sich bei Ruch Chorzów eingeschrieben, dem Klub polnischer Patrioten, als dieser 1939 jedoch aufgelöst wurde, habe er die Volksliste unterschrieben und für den deutschen Nachfolgeklub Bismarckhütte gespielt. Während des Krieges habe Cieslik für die Wehrmacht gekämpft, sei später in ein russisches Kriegsgefangenenlager geraten, von wo aus er nach Sibirien deportiert werden sollte. Er habe schließlich doch nach Polen zurückkehren können, wo er einer der besten Fußballer seiner Zeit geworden sei und 1957 mit zwei Toren die polnische Nationalmannschaft zum Sieg über die ungeliebte Sowjetunion schoss.

Dass die deutsch-polnisch-schlesischen Fußballerbiografien kein Relikt alter Zeiten sind, wurde in der Konferenz immer wieder mit Verweis auf die für Deutschland spielenden und aus Oberschlesien stammenden Spieler Lukas Podolski und Miroslaw Klose oder Sebastian Boenisch, der mit der deutschen U21 Nationalmannschaft Europameister wurde und an der EM 2012 für Polen teilnimmt, verdeutlicht.

Zwei Referenten richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Fußball im zweiten Gastgeberland der Europameisterschaft. MANFRED ZELLER (Hamburg) zeichnete die Geschichte des ukrainischen Vorzeigeklubs Dynamo Kiew nach, die er als Erfolgsgeschichte sowjetischer Integration bezeichnete. Dynamo Kiew sei es gelungen, seit den 1960er-Jahren zum Objekt lokaler und transnationaler Fanidentifikation und sowohl als ukrainische, sowjetische und europäische Spitzenmannschaft wahrgenommen zu werden. KATERYNA KOBCHENKO (Kiew) widmete sich vor allem der Entwicklung des Frauenfußballs in der Ukraine. Lange Zeit sei der Frauenfußball auch in der Ukraine verpönt gewesen, doch in den letzten Jahren würde sich der Sport langsam entwickeln. Allerdings fehle eine finanzielle und mediale Unterstützung. Auch sei das Vorurteil, dass Fußball für die Gesundheit von Frauen gefährlich ist, noch weit verbreitet, weshalb der Frauenfußball in der Ukraine nicht sehr populär sei.

Das Symposium zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte aus Anlass der Euro 2012 in Polen und der Ukraine bot einen faszinierenden Ritt durch gut ein Jahrhundert Fußballgeschichte in der Region. Durch die vielen erzählten Geschichten bot sich nicht nur eine spannende neue Perspektive auf die deutsch-polnische Vergangenheit. Sie könnten zugleich ein pädagogischer Zugang sein, deutsch-polnische Vergangenheit weniger befangen und einem breiteren Publikum zu vermitteln.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Konferenz: Dr. Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen

Dieter Langewiesche (Tübingen): „Turnen macht deutsch“ – Die Rolle von Turnen und Sport in der deutschen Nationalbewegung. Einige Reflexionen

Mariusz Czubaj (Warszawa): Sport und nationale Identifikationsprozesse in Polen

Radosław Kossakowski (Gdańsk): „Futbol to kultura” – Alltagskultur und die Rolle der Fans

Dieter Hertz-Eichenrode (Berlin): Sportsfreunde? Die Fußball-Länderspiele zwischen Deutschland und Polen 1933-38

Paweł Czado (Katowice): Biographien: Gerard Cieślik und Lukas Podolski

Gunter Gebauer (Berlin): Fußball und Emotionen

Britta Lenz (Bonn): „Polen deutscher Fußballmeister“? Polnischsprachige Zuwanderer im Ruhrgebietsfußball vor 1939

Thomas Urban (Warszawa): Der 1. FC Kattowitz als Modell für eine sich radikalisierende Minderheit vor 1939

Robert Gawkowski (Warszawa): Polnischer Fußball im Untergrund: Die geheimen Spiele im Generalgouvernement

Ulrich Räther (Warszawa): „Polonia Dortmund“ - historische und mediale Aspekte einer aktuellen deutsch-polnischen Erfolgsgeschichte

Radosław Nawrot (Poznań): Fritz Scherfke

Diethelm Blecking (Freiburg): Ernst „Ezi“ Wil(l)imowski

Anke Hilbrenner (Bonn): Transnationale Entwicklung des Fußballs in Polen

Stefan Wiederkehr (Berlin): Nationalismus und Systemkonflikt in der Sportberichterstattung. Das Dreieck BRD – DDR – Polen bei der Fußball-WM 1974

Lorenz Peiffer (Hannover): Jüdischer Fußball in Schlesien

Jarosław Rokicki (Warszawa): Jüdischer Fußball im Polen der Zwischenkriegszeit

Kateryna Kobchenko (Kiew): Fußball, Gender und die nationale Problematik in der Ukraine

Manfred Zeller (Hamburg): Dynamo Kiew: zur Geschichte eines ukrainischen Fußballklubs


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