L’histoire du temps présent au voisinage des sciences sociales: entre inter-, pluri- et transdisciplinarité / Zeitgeschichte und ihre Nachbarn: Zwischen Inter-, Pluri- und Transdisziplinarität

L’histoire du temps présent au voisinage des sciences sociales: entre inter-, pluri- et transdisciplinarité / Zeitgeschichte und ihre Nachbarn: Zwischen Inter-, Pluri- und Transdisziplinarität

Organisatoren
Hélène Miard-Delacroix, Emmanuel Droit, Frank Reichherzer, Centre Marc Bloch, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2013 - 08.06.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Sprung, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Vom 6. bis zum 8. Juni fand die zweite Ausgabe der deutsch-französischen Konferenzreihe zur Neuorientierung der Zeitgeschichte in der aktuellen historischen Forschung statt. Sie stand unter dem Thema „Zeitgeschichte und ihre Nachbarn: Zwischen Inter-, Pluri- und Transdisziplinarität“. Wesentlicher Kernpunkt der Konferenz war die Abklärung von Grenzen der Zeitgeschichte mit verwandten Nachbardisziplinen und die Erörterung der Bedingungen, unter welchen sich diese Disziplinen nutzen und gegenseitig befruchten können. Dementsprechend teilte sich die Tagung in fünf sich ergänzende Panels.

Das erste Panel stand unter dem Motto „Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften“ und wurde mit einem Referat von KIM CHRISTIAN PRIEMEL (Berlin) eröffnet. Hierbei äußerte er drei Kernprobleme im Verhältnis der Zeitgeschichte zu den Sozialwissenschaften: 1. Der zeithistorischen Forschung fehlt es an ‚Originalität‘. Sie rekurriert in vielen Überblicksdarstellungen sorglos auf die Forschungserträge der Sozialwissenschaften. 2. Es stellt sich die Frage, wie Zeithistoriker mit den Forschungserträgen der Sozialwissenschaften umgehen, wenngleich diese selten historisiert werden. 3. Das Problem geht über das einer reinen Quellenkritik hinaus: so ist es unklar, wie man mit sozialwissenschaftlicher Forschung umgehen kann, deren Autoren auch aktiv ins politische Geschehen eingegriffen haben. Zum anderen ist es fraglich, wie man mit sozialwissenschaftlichen Texten umgehen kann, deren Prognosen aus zeithistorischer Perspektive wiederum Teil der Vergangenheit sind.

Ein Kernproblem einer starken Forderung nach Historisierung sei hierbei sicherlich die immer größer werdende Gegenwartsnähe der Zeitgeschichte, die oft in Konflikt mit der natürlichen Befangenheit des Autoren tritt. Dies werde immer aktueller, wenn man Zeitgeschichte als Konzept nicht abgeschlossener Phänomene definiert, innerhalb der auch – radikal betrachtet – die Ereignisse des gestrigen Tages Thema historischer Forschung werden können. Ein anderes Problem sei darüber hinaus die Frage, in welch quantitativem Maße innerhalb der zeitgeschichtlichen Forschung historisiert werden muss, ohne dabei die Lesbarkeit und Aussagekraft des Textes maßgeblich zu beeinträchtigen oder gar den Wert und das Anliegen der eigenen Forschung hinter einer Spirale der Dekonstruktion verschwinden zu lassen.

Das zweite Panel widmete sich den „Auswirkungen des Prozesses der Transdisziplinarität auf die Sozialwissenschaften seit 1989“ und wurde von der Soziologin TANJA BOGUSZ (Berlin) eingeleitet. Sie betonte den fundamentalen Wandel der Sozialwissenschaften nach 1989 und stellte die Frage nach ihrer heutigen Relevanz. Sind die Sozialwissenschaften zu einer rein beschreibenden Wissenschaft geworden oder haben sie zum Ziel, aktiv ins politische Geschehen einzugreifen? Zudem hob Bogusz die Entwicklung der Science Studies hervor, welche die Frage nach der Schärfe der Fächergrenzen der Sozialwissenschaften stellte und daher nach ihrer Analyse, Methodik und ihrem Verhältnis von Theorie und Praxis. Eine wesentliche Erkenntnis der Diskussion war, dass – paradoxerweise – die Historisierung von Erkenntnissen, die in der Zeitgeschichte erst anzulaufen scheint, in der Soziologie bereits seit langem üblich ist. Zum anderen stellte sich die Frage, ob 1989 tatsächlich eine so starke sozialwissenschaftliche Wendemarke war, oder ob nicht vielmehr durch den beschriebenen Wandel der Disziplin in den 1990er-Jahren das Jahr 1989 ex post als Zäsur konstruiert wurde. Schließlich dominierten Einzelfragen des Unterschieds zwischen Trans- und Interdisziplinarität die Diskussion, zu denen verschiedene Ansätze gefunden wurden.

PHILIPP FELSCH (Berlin) eröffnete das dritte Panel mit einem Fallbeispiel unter der Thematik „Zeitgeschichte und die Historizität des Wissens“. Sein wesentliches Interesse galt der Erörterung des Begriffes der ‚Theorie‘, die von ihm weder als ‚System von Aussagesätzen‘, noch als Gegenteil von ‚Praxis‘, sondern vielmehr als eine Praxis selbst verstanden wird, die als Kritik der abendländischen Epistemologie aus der Krise der Geisteswissenschaften der 1960er-Jahre entstanden ist. Kernfragen der Diskussion über ‚Theorie in Aktion‘ waren zum einen, wie sich eine Praxis als eine Form von Lebensstil praktisch untersuchen lässt. Zum anderen war Teil der Diskussion, mit welcher Theorie man eine Geschichte der Theorie schreiben kann. Im Fall der ersten Frage ist eine analytische Begrenzung auf ein einzelnes Beispiel ein möglicher zielführender Ansatz. Im Fall der zweiten Frage ist ein möglichst umfangreicher wissenschaftlicher Ansatz erforderlich, wobei Felsch hier die Science Studies beziehungsweise die wissenschaftliche Epistemologie als seinen akademischen Hintergrund anführte. Festzuhalten bleibe auch, dass die Theorie im Wesentlichen ein Teil der Geschichte des Kalten Krieges ist, während nach 1990 eine Akademisierung eintrat. Hier stelle sich zum einen die Frage der Interaktion der Theorie-Praxis und der Wissenschaft an festen Institutionen, zum anderen die nach dem Ende der Theorie als Praxis, die noch nicht final beantwortet werden kann.

Das vierte Panel stand unter dem Thema „Zeitgeschichte und Politikwissenschaften: ein ungenügender Dialog?“ und wurde von MAGALI GRAVIER (Kopenhagen) eingeleitet. Ihren Vortrag bestimmte das Plädoyer der Nutzung der Forschungsergebnisse benachbarter Disziplinen, wobei für sie die Herausforderung darin bestand, die Arbeitsweisen, die Begriffe und die Sprachen der verschiedenen Disziplinen für die eigene zu übersetzen. Aus diesem Grunde war ihr Hauptinteresse, wie die derzeitige Praxis der Nutzung anderer Wissenschaften ist und inwiefern eine methodologische Reflexion von deren Ergebnissen stattfindet. Hierauf wurde festgestellt, dass die Disziplingrenzen längst nicht mehr fest seien und die Reflexion über disziplinäre Grenzüberschreitungen nicht allzu weit fortgeschritten ist. Auch der Historiker habe sich dabei von dem klassischen Bild eines Archivforschers entfernt und findet seine Quellen heutzutage in vielen Fällen direkt ‚vor der Haustür‘, in den Medien oder den mündlichen Erzählungen der Menschen. In Bezug auf die Nutzung von Begriffen und Methoden ist es abschließend von hoher Bedeutung, ihren Rahmen insoweit anzupassen, als dass ein sinnvoller Vergleich – und ‚Kompatibilität‘ – über die bestehenden Disziplingrenzen hinweg möglich wird.

Am Samstag fand das Abschlusspanel „Gedächtnis als interdisziplinäres Forschungsobjekt“ statt und wurde von CHRISTIAN GUDEHUS (Flensburg) eröffnet. Sein Fokus richtete sich auf Handlungstheorien, die im Wesentlichen auf zwei Grundlagen beruhen. Zunächst seien es kreative Aneignungen, also Handlungen, die der Mensch aus sich selbst heraus vollführt. Viel häufiger jedoch beruhen menschliche Handlungen auf sedimentierter Erfahrung, die im Wesentlichen auf vergangene Erfahrungen verweisen, welche sich zu Konzepten verfestigt haben und schließlich essentialisiert wurden. Diese Theorie wendete Gudehus nun auf die aktuelle Gewaltforschung an und stellte sie innerhalb eines Projektes der Auswertung von Abhörprotokollen deutscher Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg vor. Innerhalb der Diskussion wurde dabei klar, dass der Sinn einer Handlung erst durch sie selbst erschaffen wurde und nicht bereits vorher feststand. So wurde Gewalt von den Gefangenen nicht als Gewalt thematisiert, sondern durch die Beschreibung der Taten. Zudem wurde geklärt, dass die Legitimität von Gewalt stets davon abhängt, was als Gewalt definiert wird und daher der Begriff einer stetigen Entwicklung ausgesetzt ist. In Bezug auf die Praxis von Interdisziplinarität wurde abschließend festgestellt, dass die Möglichkeiten einer gemeinsamen Auswertung von Quellenmaterial – wie beispielsweise die erörterten Abhörprotokolle – sehr groß seien, jedoch nicht selten von verschiedenen Veröffentlichungspraktiken der unterschiedlichen Fächer behindert werden und ergo großes Interesse und hohes Engagement nicht selten im Sande verlaufen.

Resümierend hat die Konferenz einen Beitrag zum Verständnis der Zeitgeschichtsschreibung und deren Verhältnis zu ihren Nachbardisziplinen geleistet. Sie hat gezeigt, dass es jeweils vom Kontext der eigenen Fragestellung abhängt, inwiefern Trans-, Inter- beziehungsweise Pluridisziplinarität zum Einsatz kommt. Jedoch erscheint es als durchaus lohnenswert, die bestehenden Möglichkeiten, über den Tellerrand zu schauen, für die eigene Arbeit zu nutzen. Dabei hat es jedoch hohe Priorität, die fremde Forschung nicht vorbehaltlos zu übernehmen, sondern sie angemessen zu historisieren. Dies kann umso bedeutender werden, je mehr sich Zeitgeschichte auch zu einem Teil einer fächerübergreifenden Gegenwartswissenschaft entwickelt, in der eine fruchtbare Zusammenarbeit der Disziplinen von geradezu essentieller Bedeutung ist. Hierbei besteht wie etwa in Frankreich noch immer das Problem finanzieller Förderung, da die einzelnen Fächer bisher noch kaum interfachliche Kooperationen unterstützen. Für die Zeitgeschichtsforschung gilt es daher aus meiner Sicht, in den Dialog mit ihren Nachbarn zu treten und darüber hinaus auch den Austausch mit den anderen Bereichen der Geschichtswissenschaften zu pflegen. Zeitgeschichte wurde auf dem Workshop so als doppelte Perspektive deutlich: als historische Subdisziplin und Teil einer offenen, problemorientierten Gegenwartswissenschaft.

Konferenzübersicht:

Jacques Revel (École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris), Interdisziplinarität in Zeiten der Ungewissheit

Kim Christian Priemel (Humboldt-Universität zu Berlin), Zeitgeschichte und die Sozialwissenschaften: Zwischen Kapitulation und Rekapitulation?

Tanja Bogusz (Centre Marc Bloch, Berlin), Transdisziplinarität und ‚Public Sociology’. Eine zeitgeschichtliche Verortung

Philipp Felsch (Humboldt-Universität zu Berlin), Zeitgeschichte und Theorie in Action

Magali Gravier (Copenhagen Business School), Zeitgeschichte und Politikwissenschaften: ein ungenügender Dialog?

Christian Gudehus (Centre for Interdisciplinary Research, Flensburg), Interdisziplinarität in der Gewalt- und Erinnerungsforschung – Problematische Theorie und erfolgreiche Praxis


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Französisch, Deutsch
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