Dritter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Dritter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Maria Daldrup (Witzenhausen); Sven Stemmer (Bielefeld); Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.04.2015 - 19.04.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Spengler, Freie Universität Berlin; Felix Linzner, Universität Marburg

Der dritte Workshop zur Jugendbewegungsforschung vom 17. bis 19. April 2015 im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJB) auf der Burg Ludwigstein nahe Witzenhausen diente erneut einem interdisziplinär angelegten Austausch über aktuelle und abgeschlossene Projekte von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Organisatoren waren MARIA DALDRUP (Witzenhausen) und SVEN STEMMER (Bielefeld). Weitere fachliche Expertise steuerten Archivleiterin Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen) sowie der Vorsitzende der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung Jürgen Reulecke (Gießen) bei.

Als Gastreferent konnte UWE PUSCHNER (Berlin) gewonnen werden, der zum Auftakt die völkische Bewegung in ihrer Epoche, als Ausdruck einer Radikalisierung des deutschen und österreichischen Nationalismus, vorstellte. Deren Versuche, auch in der Jugendbewegung Fuß zu fassen, blieben zwar weitestgehend erfolglos, dennoch entstand ein völkischer Flügel.

Solchen „Interferenzen“ widmete sich auch FELIX LINZNER (Marburg), der mit Willibald Hentschel einen der kontroversesten Agitatoren aus dem völkischen Umfeld vorstellte. Dieser verband völkischen Pessimismus mit Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus und wirkte auch in die Jugend- und Reformbewegungen der Jahrhundertwende hinein. Als Gegenmittel zum vermeintlichen „Rasseverfall“ durch Urbanisierung, Industrialisierung, Alkohol und Nikotin skizzierte Hentschel in seinem 1904 erschienenen Buch „Mittgart“ ein Konzept zur Menschenzucht. Das Projekt, das sogenannte auf Zeit begrenzte und wechselnde Mittgart-Ehen zwischen 100 Männern und 1000 Frauen vorsah, blieb zwar Utopie, aber es lassen sich Schnittstellen mit dem völkischen Siedlungsprojekt Donnershag oder Verbindungen zu Friedrich „Muck“ Lamberty aufzeigen. Linzner belegte das Leben und Wirken Hentschels als exemplarisch für einen Diskurs um ein Menschenbild, das durch die Popularisierung der Evolutionstheorie und ein allgemein verbreitetes biologistisches Denken geprägt war.

Die beiden Referenten verband das Themenfeld der völkischen Bewegung, sie stellten aber auch die zwei prägenden Zugänge des Workshops dar: personenbezogenes biographisches Arbeiten und die Untersuchung jugendbewegter Vereinigungen und Strömungen.

FRIEDERIKE HÖVELMANS (Leipzig) wählte hierzu eine interessante Mischform und stellte in ihrem Beitrag strukturelle Überlegungen sowie bisherige Ergebnisse ihrer laufenden Dissertation zur Sächsischen Jungenschaft, die sich 1922 aus dem Jungengau Sachsen I der deutschen Freischar gegründet hatte, vor. Neben deren Struktur und gemeinsamen Aktivitäten rückten dabei exemplarisch die wichtigen Gruppenführer Hermann Kügler und Kurt Mothes in den Fokus. Der selten gewählte Zugang der Gruppenbiographie als Sozialtopographie greift auf eine breite heterogene Quellenlage zurück, die sich von Fotobeständen sowie Hortenzeitungen über Karten und Fahrtenbücher bis hin zu Dokumenten von Selbsthistorisierung und Publikationen der Sächsischen Jungenschaft erstreckt.

Die drei folgenden Berichte hingegen waren klarer personenzentriert und stehen so exemplarisch für die Heterogenität und Vielschichtigkeit der historischen Jugendbewegung.

MATTHEW PEAPLE aus Großbritannien (Dalton-in-Furness) befasste sich mit der Betrachtung des späteren deutschen Botschafters im besetzten Frankreich, Otto Abetz', vor 1933. Peaple sprach über den von Abetz angeregten Sohlbergkreis als Beispiel transnationaler Beziehungen europäischer Jugendverbände, hier Deutschlands und Frankreichs, und warf die Frage auf, welchem Zweck dieser gedient habe und inwieweit die 1950 von Abetz vertretene Lesart, er habe damals auf eine Versöhnung beider Nationen gehofft, glaubwürdig ist.

JOHN KHAIRI-TARAKI (Marburg) begann seine Untersuchung der Rezeption Hans Paasches als einer Leitfigur der Jugendbewegung mit einer Diskursanalyse: Die Erinnerung an Paasche scheint trotz der vielen mit ihm verbundenen Initiativen eine vage, wenn nicht verklärende und mythologisierende zu sein, die vor allem mit Naturschutz und Abstinenz, aber auch einem ideellen Sozialismus assoziiert wird. Khairi-Taraki hingegen fragte, ob nicht vielmehr Paasches Todeszeitpunkt - er wurde 1920 erschossen - eine Stilisierung als Gegenfigur zu völkischen Entwicklungen innerhalb der Jugendbewegung angestoßen habe. Zwar habe Paasche die Gesellschaft des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik scharf kritisiert, sei mit seiner Forderung nach Erhalt und Wiederentdeckung des vermeintlich Natürlichen jedoch letztlich ein konservativer Kulturkritiker gewesen.

Auch bei GREGOR-MARIA RÖHR (Münster) stand ein Vertreter der Jugendbewegung im Zentrum der Analyse. So präsentierte er seine Magisterarbeit über Franz Ludwig Habbel, in der erstmals ein detaillierter Lebenslauf dargestellt werden konnte. Dieser hatte um 1920 einen nachhaltigen Reformprozess der deutschen Pfadfinderschaft ausgelöst: Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges war für ihn das Initial zur Gründung der Neupfadfinder, die entgegen der bisherigen Prinzipien der an Baden-Powell orientierten deutschen Pfadfinder eine nichtmilitärische Organisation und Ausrichtung darstellen sollten.

Thematisch leitete Röhrs Vortrag zu FRAUKE SCHNEEMANN (Göttingen) über, die ihre abgeschlossene Masterarbeit mit dem Titel „Allzeit bereit für...? Leitvorstellungen und Kontroversen in der deutschen Pfadfinderbewegung der 1950er Jahre“ vorstellte. Selbige fragt einerseits nach Leitbildern und Kontroversen innerhalb der deutschen Pfadfinderschaft und behandelt andererseits den Umgang mit allgemeinen jugendlichen Lebenswelten der Nachkriegszeit, um so den Ort beziehungsweise die Selbstverortung der Pfadfinderei in der frühen Bundesrepublik und ihr Verhältnis zur Jugendbewegung der Weimarer Republik, besonders auch in Bezug auf den Nationalsozialismus, auszumachen. Die als historische Diskursanalyse angelegte Arbeit nutzt die Bundes- und Stammeszeitschriften der großen Pfadfinderbünde. Exemplarisch werden drei Diskursfelder herausgestellt: das Verhältnis Jugendbewegt-Bündischer gegenüber scoutistischen Formen, die Stellung zu massengesellschaftlichen Phänomenen der Gegenwart und die politische Arbeit der Pfadfinder.

ANNE-CHRISTINE WEßLER (Leipzig) führte in die Geschichte der Deutschen Jugend des Ostens (djo), 1951 auf dem Ludwigstein gegründet, ein. Weßler geht damit eine Lücke der bisherigen Forschung an, für die Flucht und Vertreibung - explizit der Jugend - bisher nur eine untergeordnete Relevanz besitzen, und stellte im Rahmen des Vortrages ihre zentralen Fragen nach den Akteurinnen und Akteuren, ihrer Motivation und der Prägung durch gesellschaftliche Diskurse vor. Ziel der djo war die Sammlung und Integration der Jugend der östlichen Vertriebenen in die für sie neue Gesellschaft gewesen, um so den psychischen Folgen von Krieg und Vertreibung entgegenzuwirken, und angesichts der gegenseitigen Fremdheit in der Bundesrepublik einen Anlaufpunkt zu bieten. 1974 richtete sich die djo neu aus, erkannte die DDR an und liberalisierte die (Ost-)Grenzfragen. Im Jahr 2000 erfolgte abschließend ein Öffnungsbeschluss samt Namensänderung in Deutsche Jugend in Europa (ebenfalls djo). Mittlerweile bilden der Einsatz für Flüchtlinge und generelle Aktivität im Themenfeld Migration Schwerpunkt der Arbeit der djo.

JÜRGEN REULECKE (Gießen) stellte zwei Artikel aus der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“, verfasst 1926 von Kurt Tucholsky (alias Ignaz Wrobel) in das Zentrum seines Vortrages. In dieser für die bürgerliche Jugendbewegung als Umbruch zu verstehenden Phase schrieb er einen in seiner Schärfe ungewöhnlich provozierenden Text. Tucholsky beschrieb die Jugendbewegung als „tote Last“ und sah keine Wirkung im jugendbewegten „Rummel“. Die rhetorische Frage: „Wo seid ihr vom Hohen Meißner?“, legte seine These offen, dass die Protagonisten und Protagonistinnen des Meißnertreffens in Gesellschaft, Staat und Öffentlichkeit nicht auffindbar gewesen seien. Als Reaktion publizierte Max Barth, Wandervogel, Pädagoge und Journalist, den Artikel „Die Letzten der Mohikaner“, ebenfalls in „Die Weltbühne“. Er stellte zwar eine Korrumpierung der Jugendbewegung heraus, betonte aber, dass es falsch sei, ein Gesamtversagen zu unterstellen. Es ginge der Jugendbewegung nicht um große politische Zusammenhänge, sondern um die alltägliche Prägung des Individuums, das sich selbstkritisch zeige. Der von Reulecke als „Tiefenbohrung innerhalb eines Jahres“ beschriebene Vortrag verwies darauf, den diskursgeschichtlichen Rahmen miteinzubeziehen und die Jugendbewegung an ihrem Menschenbild zu messen. Die Kernidee des jugendbewegten Selbst sei es, so Reulecke, sich positiv und human in die Gesellschaft einzubringen.

Das Werkstattgespräch widmete sich primär dem bisweilen schwierigen Zugang zu Quellen aus privaten, kleineren Archiven und verstreuten Einzelnachlässen, der über eine stärker personelle und informationelle Vernetzung der Jugendbewegungsforschenden untereinander verbessert werden solle.

In der ABSCHLUSSDISKUSSION wurden darüber hinaus sowohl Einordnungen des Phänomens Jugend in eine ambivalente Geschichte der Moderne vorgenommen als auch noch offene Fragen und Desiderata der Forschung zur Jugendbewegung benannt, unter anderem Subjektivierungsprozesse, die Bedeutung von Musik, Körperlichkeit, Bewegung wie Tanz, Wandern und Sport, emotionale und sinnliche Erfahrungen aus der Teilhabe an Jugendgruppen oder auch Visualisierungen von Jugend. Besonders letzterem wird sich die diesjährige Archivtagung vom 30. Oktober bis 01. November 2015 widmen. Unter dem Titel „Zur visuellen Geschichte 'bewegter Jugend' im 20. Jahrhundert“ soll die Selbstinszenierung der Jugendbewegung im Film betrachtet werden. Zum Abschluss wies Archivleiterin Susanne Rappe-Weber auf das auch für die Außenwirkung wichtige 600-jährige Bestehen der Burg Ludwigstein hin.

Der gemeinsame Austausch zwischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus verschiedenen akademischen Bereichen mit ganz unterschiedlichen Projekten, Themenschwerpunkten, Methoden und Herangehensweisen hat wiederholt gezeigt, wie rege und different aktuelle Beiträge zur historischen Jugendbewegungsforschung, aber auch die historischen Akteure und Diskurse sind bzw. waren.

Konferenzübersicht:

Maria Daldrup (Witzenhausen); Sven Stemmer (Bielefeld), Begrüßung

Uwe Puschner (Berlin), Die völkische Bewegung in ihrer Epoche

Friederike Hövelmans (Leipzig), Die Sächsische Jungenschaft. Versuch einer Gruppenbiographie

Felix Linzner (Marburg), Jugend als „neuer Adel“? Willibald Hentschels Konzept der Erneuerung

Jürgen Reulecke (Gießen), Ignaz Wrobel zur Jugendbewegung vor 90 Jahren: „ein ungeheurer Aufwand“, aber eine „tote Last“!

Matthew Peaple (Dalton-in-Furness), Der Sohlbergkreis deutscher und französischer Jugend, 1929-1934

John Khairi-Taraki (Marburg), „Durch das Gestrüpp deutscher Erziehung“: Hans Paasche zwischen konservativer Kulturkritik und Revolution

Gregor-Maria Röhr (Münster), Franz-Ludwig Habbel und die Zeitschrift „Der weiße Ritter“

Frauke Schneemann (Göttingen), Allzeit bereit für…? Leitvorstellungen und Kontroversen in der deutschen Pfadfinderbewegung der 1950er Jahre

Anne-Christine Weßler (Leipzig), Geschichte der DJO/djo

Werkstattgespräch: Methodische und theoretische Aspekte der Jugendbewegungsforschung

Abschlussdiskussion und organisatorische Fragen


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts