Wissen – Wolle – Wandel. Merinoschafzucht und Agrarinnovation in Sachsen (18./19. Jahrhundert)

Wissen – Wolle – Wandel. Merinoschafzucht und Agrarinnovation in Sachsen (18./19. Jahrhundert)

Organisatoren
Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V., Dresden; Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.11.2015 - 06.11.2015
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Von
Sönke Friedreich / Lutz Vogel, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden

Der wirtschaftliche und finanzpolitische Neuaufbau nach Ende des Siebenjährigen Krieges (Rétablissement) war für die Entwicklung Sachsens zum modernen Industriestaat von fundamentaler Bedeutung. Mit der seit 1765 erfolgten Einführung und Verbreitung der Merinoschafzucht im Kurfürstentum Sachsen nahm die Tagung „Wissen – Wolle – Wandel“, die am 5. und 6. November 2015 in den Räumen des Hauptstaatsarchivs Dresden stattfand, einen wichtigen Aspekt dieser Entwicklung in den Blick. Dabei sollte der Stellenwert der Schafzucht im Prozess der Agrarmodernisierung untersucht und das konfliktreiche Wechselspiel zwischen Innovation, staatlicher Reform und früher Industrialisierung analysiert werden, welches die sächsische Agrargeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts kennzeichnete.

Im Anschluss an die Begrüßung durch die Organisatoren eröffnete ULRICH PFISTER (Münster) mit einem „Doppelvortrag“ die Tagung, da er neben seinem eigenen Beitrag zugleich das Referat seines Kollegen MICHAEL KOPSIDIS (Halle an der Saale) übernahm. Beide Beiträge stützten sich auf Erkenntnisse des gemeinsamen, Ende 2011 abgeschlossenen DFG-Projektes der Referenten „Das Wachstum der sächsischen Landwirtschaft 1750–1880“. In seinem Überblicksbeitrag widmete sich Pfister Themen der wachsenden Nachfrage sowie des institutionellen Wandels in ihrer Bedeutung für das Agrarwachstum in Sachsen. Ausgehend von Ernteverzeichnissen und eigenen Berechnungen konstatierte er eine langfristig parallel zum Bevölkerungswachstum steigende Produktion an pflanzlichen Nahrungsmitteln sowie einen Anstieg der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft. Entgegen bisheriger Annahmen haben sich Agrarmodernisierung und agrarisches Wachstum bereits vor den Reformen von 1832, deren kurzfristige Effekte eher gering waren, vollzogen. Im anschließenden Vortrag analysierte der Referent das Verhältnis von Agrarwachstum und Ernährungssicherheit in Sachsen zwischen 1790 und 1830. In diesen Zeitraum fielen sowohl die Einführung der hauptsächlichen Elemente der vorindustriellen Agrarmodernisierung (Stallfütterung, Klee- und Kartoffelanbau) als auch eine damit verbundene Intensivierung der Bodennutzung, während eine Erhöhung der Marktintegration nicht nachweisbar ist. Hieraus folgerten Pfister / Kopsidis, dass die Erhöhung der Ernährungssicherheit in Sachsen, die die Vorbedingung für Industrialisierungsprozesse darstellte, durch lokale Nachfragestrukturen bei Agrarerzeugnissen und Arbeitskräften, durch verstärkten Kartoffelanbau und durch eine Diversifizierung des Ernterisikos erreicht wurde, während die Marktintegration erst mit Einsetzen des Eisenbahnbaus Bedeutung erlangte.

Deutete sich in diesen beiden Beiträgen der Konflikt zwischen Ausweitung der Schafhaltung als wirtschaftspolitischer Maßnahme mit anderen Elementen der landwirtschaftlichen Modernisierung an, so beleuchteten die folgenden Referenten die Rolle der sächsischen Schafzucht in ihrer Blütezeit zwischen 1765 und 1830. STEFAN DORNHEIM (Dresden) befasste sich mit der Kultur der Schäfer in Mitteldeutschland und zog hierzu vergleichendes Material aus Südwestdeutschland heran. Er schilderte sowohl die Lebenswirklichkeit, die soziale Lage als auch die Gemeinschaftsformen und die geistige Welt der Schäfer. Ihnen kam in der ländlichen Gesellschaft eine besondere Stellung zwischen dörflicher Gemeinschaft und Außenseiterposition zu, wenngleich sie in der Regel bei den Grundherren beschäftigt waren. Dies machte sich in einem deutlich ausgeprägten, bis heute nachwirkenden Standesbewusstsein bemerkbar und war durch geheimes berufsständisches, innerfamiliär weitergegebenes Wissen gekennzeichnet. Ein lokales Beispiel erfolgreicher Schafzucht und Wollvermarktung schilderte MICHAEL WETZEL (Chemnitz) am Beispiel der Musterwirtschaft der Grafen von Schönburg in der Herrschaft Rochsburg. Diese galt unter der Leitung des Grafen Heinrich Ernst II. von Schönburg bis in die 1820er-Jahre hinein in puncto Schafhaltung als vorbildhaft sowie als Muster aufgeklärter Landwirtschaft. Der Herr auf Rochsburg erreichte durch Ankauf von Merinoschafen aus Stolpen und Lohmen nicht nur hohe Zuchterfolge, sondern bewirkte zudem einen Produktivitätsschub durch die seit 1801 durchgängig eingeführte Stallfütterung. Allerdings belegten die Bauernunruhen von 1790 auch, dass die herrschaftlichen Hut- und Triftrechte angesichts der Größe der Rochsburger Herden in zunehmenden Gegensatz zu den Interessen der bäuerlichen Landwirtschaft gerieten.

Diese Konflikte standen im Mittelpunkt des Vortrages von MARTINA SCHATTKOWSKY (Dresden), die über den bäuerlichen Widerstand gegen die Schafhaltung am Beispiel der Grundherrschaften Schleinitz und Purschenstein referierte. Sie konstatierte einen Widerspruch zwischen den herrschaftlichen Rechten an der Schafhaltung und bäuerlichen Interessen, der sich bereits seit Ende des 16. Jahrhunderts angesichts immer rascher zunehmender Tierzahlen zugespitzt habe. In alltäglichen Auseinandersetzungen auf dem Gutshof ebenso wie in langwierigen Gerichtsprozessen bezogen sich die Bauern auf althergebrachte Rechte, während viele Grundherren gezielt auf die Ausdehnung der Schafhaltung setzten, die im 18. Jahrhundert aufgrund wachsender Märkte und überregionaler Vernetzung profitabler wurde. Die damit einhergehenden Tendenzen zu einer Verrechtlichung sozialer Konflikte um Hut- und Triftrechte fanden spätestens im Sächsischen Bauernaufstand von 1790 ein Ende, als auch die Schäfereistreitigkeiten in Gewalt umschlugen. Erst die Ablösung der Hut- und Triftrechte nach 1832 sowie die damit einhergehende abnehmende Bedeutung der Gutsschäferei führten langfristig zum Ende des Konfliktes.

Mit dem sächsischen Textilgewerbe als Abnehmer heimischer Wolle im 18. und 19. Jahrhundert befasste sich MICHAEL SCHÄFER (Dresden). In der Merinoschafzucht wurde hochwertige Wolle (Merino- und Elektoralwolle) produziert, die den sächsischen Garn- und Tuchproduzenten Preisvorteile brachte und ihnen Exportmärkte in Großbritannien und in den USA öffnete. Minderwertigere Wolle für die Herstellung preisgünstiger Stoffe sei hierdurch jedoch zunehmend verdrängt worden, was vor allem für kleinere Produzenten von Nachteil war, die nicht auf teure Textilwaren spezialisiert waren. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verlor die Wollgewinnung im Vergleich zu anderen Agrarerzeugnissen in Sachsen an Bedeutung, sodass sächsische Produzenten die Wolle schließlich importieren mussten. Die Bedürfnisse der stark wachsenden sächsischen Textilindustrie waren daher nur von begrenztem Einfluss auf die Entwicklung der Agrarentwicklung.

Die außenpolitische Dimension der Einführung der Merinoschafe in Sachsen stellte JÖRG LUDWIG (Dresden) vor. Die bis dato fast ausschließlich in Spanien gehaltenen Schafe – in Preußen war zum Beispiel die Einführung der Rasse in den 1740er-Jahren gescheitert – waren ein Geschenk des spanischen Königs Karl III. an den sächsischen Kurfürsten. Dass die streng verbotene Ausfuhr gestattet wurde, hing mit den bestehenden diplomatischen und Wirtschaftskontakten beider Länder, den dynastischen Beziehungen zwischen Bourbonen und Wettinern sowie einer schafzuchtkritischen Haltung der reformorientierten spanischen Regierung zusammen, die die Privilegien der spanischen Herdenbesitzer (organisiert in der Mesta) zunehmend in Frage stellte. Nach etwa einjährigen Verhandlungen, die offenbar aus dem Umfeld der sächsischen Restaurationskommission angeregt wurden, und umfangreichen logistischen Planungen wurden insgesamt 229 Merinoschafe am 30. April 1765 in Spanien eingeschifft, auf dem Seeweg nach Hamburg gebracht und unter Umgehung des preußischen Territoriums nach Sachsen transportiert. Begleitet von zwei spanischen Schäfern, die letztlich ein Jahr in Sachsen blieben, kamen 220 Schafe am 27. Juli 1765 in der Nähe von Dresden an. Sie und ihre Nachkommen sollten – was später aber nicht eingehalten wurde – ausschließlich dem Wiederaufbau der sächsischen Schafzucht dienen und nicht an andere Länder verkauft werden. WALTER WEISS (Ebersdorf) schilderte daran anschließend die weitere Verwendung der importierten Tiere auf den sächsischen Rittergütern. Zur Haltung vorgesehen waren anfangs 21 Rittergüter, die zuvor anhand verschiedener Kriterien (Beurteilung der vorhandenen Herde, Weidebedingungen, Winterfütterung, Wollproben) ausgewählt worden waren. Ziel war einerseits die Einkreuzung mit vorhandenen Landschafrassen, die auf den Kammergütern (vor allem in Stolpen) verblieben, aber andererseits auch die Haltung der Schafe zur reinrassigen Zucht. Trotz der großen klimatischen Unterschiede zwischen Spanien und Sachsen und der verschiedenartigen Haltung der Schafe, die in Spanien zumeist in Wanderschafherden gehalten wurden, habe es eine gute Anpassung an die raueren klimatischen Bedingungen und die anders geartete Futtersituation gegeben, die Voraussetzung für eine erfolgreiche Zucht waren.

JOHANNA RIESE (Halle) widmete sich dem Dresdner Wollmarkt im 19. Jahrhundert. Sie schilderte zunächst die Vertriebsstrukturen Anfang des 19. Jahrhunderts, die sich aus den Wollmärkten der Landstädte, dem Direktvertrieb der Schäfereien sowie der Leipziger Messe, die ein wesentlicher Umschlagplatz des Woll-Fernhandels war, ergaben. Unterschieden wurde zwischen Wolle aus Pfarr-, Bürger- und Rittergütern, wobei nur Letztere Zugang zu allen drei Märkten hatte. Anhand des Dresdner Wollmarktes zwischen 1825 und 1892 ist ein deutlicher Rückgang der Nachfrage nach Wolle feststellbar. Entstanden als Reaktion auf die europäische Handelskrise von 1825, setzte bereits 1850 der Niedergang des Marktes ein, der 1875 privatisiert und letztlich 1892 geschlossen wurde. Für die Stadt Dresden war der Wollmarkt Zeit seines Bestehens sehr wichtig, wenngleich er nie größere internationale Bedeutung erlangte.

Einen großen zeitlichen Bogen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, schlug REGINA WALTER (Dresden) mit ihrem Vortrag über die Entwicklung der Merinoschafzucht in Sachsen. Sie verwies auf die unterschiedlichen Konjunkturen der Schafzucht, auf den mehrfachen Wechsel der Zuchtplanung auf Woll- bzw. Fleischproduktion. Für den betrachteten Zeitraum ist ein deutlicher Rückgang der Merinoschafzahlen in Sachsen zu konstatieren: Laut amtlicher Statistik gab es 1834 noch rund 600.000 Schafe (davon geschätzt zwei Drittel Merinoschafe), 1873 waren es nur noch rund 200.000 und 1900 circa75.000. Dieser Rückgang ist vor allem darin begründet, dass Wolle aus Übersee (besonders aus Australien) auf die europäischen Märkte drängte. In der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Rohstoffgewinnung oberste Priorität in der Schafzucht hatte, stieg die Zahl auf gut 110.000. In der DDR-Zeit stand ebenso die Wollproduktion im Vordergrund – gekennzeichnet durch große Industrieorientierung sowie Zentralisierung von Arbeitsabläufen. Laut des Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie gab es 1990 rund 270.000 Schafe im Freistaat Sachsen, bis 2014 sank diese Zahl, die nicht nur Merinoschafe, sondern auch andere Rassen beinhaltet, auf etwa 70.000.

Wichtige Impulse für die weiterführende Erforschung der Merinoschafhaltung in Sachsen gab GUNTER BIELE (Dresden) in seinem abschließenden Referat zur Überlieferung des Sächsischen Staatsarchivs – Hauptstaatsarchiv Dresden zur Merinoschafzucht im 18. und 19. Jahrhundert. Er verwies auf die Überlieferung zu Institutionen und Personen, die mit der Merinoschafzucht in Verbindung standen. So finden sich zum Beispiel in den Beständen der sächsischen Zentralverwaltung (vor allem des Geheimen Kabinetts) Informationen über die Beschaffung der Tiere aus Spanien, den Aufbau der Zucht in Sachsen sowie zur Schäfereikommission, die als staatliche Behörde die Merinozucht koordinierte. Akten anderer Bestände enthalten Hinweise auf die Verteilung der Zuchttiere innerhalb Sachsens, so beispielsweise ein Verzeichnis der Herrschaften und Rittergutsbesitzer, die Merinoschafe zugeteilt bekommen hatten. In den Archivbeständen zu einzelnen Rittergütern, lassen sich – aufgrund großer Überlieferungslücken – die Entwicklung der Merinoschafhaltung nur vereinzelt nachvollziehen.

Die Tagung profitierte insgesamt von den multidisziplinären Perspektiven auf die Merinoschafzucht. Davon ausgehend wurden grundlegende Probleme der Agrar-, aber auch der Wirtschaftsgeschichte des vorindustriellen Sachsens des 18. und 19. Jahrhunderts diskutiert. Dazu zählt auch die Frage, inwieweit die Merinoschafhaltung für eine durchgreifende Agrarmodernisierung fördernd oder hemmend gewesen ist. Die Drucklegung eines Sammelbandes, der die Ergebnisse der Tagung zusammenfasst, ist für das kommende Jahr vorgesehen.

Konferenzübersicht:

Nils Brübach (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden), Annett Bugner (Sächsisches Staatsministerium für Landwirtschaft und Umwelt), Martina Schattkowsky (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde): Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema

Ulrich Pfister (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Rolle von Nachfrage und institutionellem Wandel im sächsischen Agrarwachstum (18. und 19. Jahrhundert)

Michael Kopsidis (Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien Halle a. d. Saale) / Ulrich Pfister (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Zwischen Markt und Subsistenz. Agrarwachstum und Ernährungssicherheit in Sachsen während der Frühindustrialisierung (1790–1830)

Stefan Dornheim (Technische Universität Dresden): Schafhirt, Hirte, Hutmann. Zur Kultur der Schäfer in Mitteldeutschland im 18./19. Jahrhundert

Michael Wetzel (Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Chemnitz): Die Musterwirtschaften der Grafen von Schönburg in Rochsburg

Martina Schattkowsky (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden): Schafhaltung und bäuerlicher Widerstand

Michael Schäfer (Technische Universität Dresden): Wolle und sächsisches Textilgewerbe im 18./19. Jahrhundert

Jörg Ludwig (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden): Die Verhandlungen mit Spanien um die Einfuhr der Merinoschafe nach Sachsen 1764/65

Walter Weiß (Elbersdorf): Der Beginn der sächsischen Merinoschafzucht im Jahr 1765 und deren Entwicklung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts

Johanna Riese (Martin-Luther-Universität Halle): Der sächsische Wollmarkt Mitte 18. bis Mitte 19. Jahrhundert

Regina Walther (Dresden): Die Merinoschafzucht in Sachsen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart

Gunter Biele (Sächsisches Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden): Die Überlieferung des Hauptstaatsarchivs Dresden zur Merinoschafzucht


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