Kartographien zeitlicher Dynamik

Kartographien zeitlicher Dynamik

Organisatoren
Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ) „Kartographien zeitlicher Dynamik“; Hochschule Coburg; Forschungszentrum Gotha, Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2016 - 03.06.2016
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Von
Sandra Miehlbradt, Nationale Akademie der Wissenschaften – Leopoldina, Halle an der Saale

Zeit und Raum. Zwei Komponenten, die zunehmend in den Fokus der Forschung geraten. Der 10. Workshop der Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ) „Kartographien zeitlicher Dynamik“ in Kooperation mit der Hochschule Coburg und dem Forschungszentrum Gotha versuchte, am 2. und 3. Juni 2016 am Forschungszentrum Gotha, genau diesen beiden Aspekten Rechnung zu tragen und ihren Verschränkungen nachzuforschen. Vier Blöcke (Treibendes Eis, Timing, Knotenpunkte und Rolling Stones), eine Führung im Perthes-Archiv mit seinen umfassenden kartographischen Beständen sowie der öffentliche Abendvortrag von Gert Melville zum Wandel des christlich-geschlossenen Weltbildes hin zu einer offenen Weltansicht, fokussierten verschiedenste Punkte der Darstellung zeitlicher, dynamischer Vorgänge in Karten.

Den Auftakt gaben DORIT MÜLLER (Berlin) und CHRISTIAN HOLTORF (Coburg). Sie zeigten in ihren Beiträgen Wandel und Funktionen der Kartographie bei der Erforschung der Polargebiete auf (1. Block: „Treibendes Eis“): Expeditionskarten sind Instrumente der Verortung von Messdaten. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Erforschung des Polarkreises rief vielfältige Darstellungsformen von Messdaten, aber auch Reiserouten hervor. Diese Synopsis aus Linien, Namen, Daten und Farben ermöglichte den geographischen Raum des Polargebietes aus einer zeitlichen Perspektive heraus zu betrachten. Dorit Müller zeigte auf, dass vor allem August Petermann die Darstellung von dynamischen Prozessen maßgeblich weiterentwickelte: nicht nur schlug er hypothetische Reiserouten zur verschollenen Franklin-Expedition (1845–1848) vor, auch vereinte er verschiedene Kartentypen mit bildnerischen Darstellungen der Arktis- Erforschung. Ein Höhepunkt und eine Erweiterung dieser Dynamisierung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Integration von Polarkarten in Kultur- und Expeditionsfilme erzielt.

Christian Holtorf fokussierte einen ganz anderen Aspekt der Polarerforschung: den Mythos vom ewigen Eis. Eis galt von jeher als festes, unveränderbares Medium. Spätestens seit der globalen Erwärmung beginnt dieses Bild in der Öffentlichkeit zu bröckeln, stellt doch die schwindende, schmelzende Eismasse das Symbol des Klimawandels dar. Diese Kohärenz von Klimawandel und schmelzenden Eiskappen spiegelt sich auch kartographisch wider. Die Darstellung zeitlicher Verläufe ist in Polarkarten jedoch schon viel früher zu verorten. Bereits vor 150 Jahren wurden durch die Gezeiten verursachte Meeresströme oder die Meereis-Konzentration – zeitliche Aspekte – auf Nordpolkarten fixiert. Christian Holtorf konnte aufzeigen, dass die frühesten geographischen Kenntnisse der Arktis vom Walfänger William Scoresby Jr. stammen, der sich zur geographischen Orientierung Eis- und Eisfreie Zonen auf seinen Karten notierte. Petermann, Chavanne, Eckert und Breitfuß verfeinerten diese Art der Darstellung und passten sie ihren Erfordernissen an, so dass Karten entstanden, die die Eisverhältnisse, Reiserouten, Klimaintervalle oder die Schiffbarkeit dokumentierten.

Einen anderen zeitlichen und historischen Raum eröffnete GERT MELVILLE (Dresden) mit seinem Beitrag „Von der geschlossenen zur offenen Welt – Kartographische Vorstellungen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit“. Melville zeigte den Zuhörern eine ganz eigene Welt der kartographischen Darstellungsformen: die semiotische Abbildung von christlichen Denkweisen. Das christliche Weltbild bestimmte hier im doppelten Sinne, Wahrnehmung, Denkweise und Handeln im europäischen Mittelalter. Das schlug sich vor allem auch in den kartographischen Darstellungen nieder: Jerusalem als Mitte der Welt, wie es beispielhaft auf der Hereford-Karte oder der Ebstorfer Weltkarte zu sehen ist. Mit der zunehmenden Erforschung der Welt, allen voran der ‚Entdeckung‘ Amerikas änderte sich das schlagartig: Europäische Kartographen mussten Neues mit Altem in Einklang bringen – oft durch Konstrukte, die versuchten, biblische (wahrhafte) und reale (wirkliche) Weltansichten durch Transformation mittels historischer Fiktion zu vereinen. Als diese Korrektur der „wirklichen“ Weltansicht hin zur „wahrhaften“ nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte, entstanden erste Karten mit offenen Konturen und die Eroberung und Integration neu geschaffener symbolischer Räume in das bisher geschlossene Weltbild begannen. Damit lieferte Melville einen dezidiert anderen Beitrag zu zeitlichen Aspekten in der kartographischen Darstellung: den historischen Wandel des christlichen, geschlossenen Weltbildes hin zu einem offeneren Blick auf die Welt.

Tag zwei des Workshops wurde von ANTJE SCHLOTTMANN (Frankfurt am Main) und DIRK HÄNSGEN (Leipzig) eröffnet. Beide Beiträge erörterten die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Verortung zeitlicher Prozesse in Karten (2. Block: „Timing“): Karten dienen Verortungsprozessen und werden oft auf ihre realistische – ein System von Lagebeziehungen darstellende – Konzeption „reduziert“. Eine Verständigung von Zeit und Raum scheint kartographisch zunächst nur über eine vereinheitlichende Fixierung möglich. Doch wie lassen sich raumzeitliche Grenzüberschreitungen und Dynamisierungen visualisieren? Antje Schlottmann plädierte für die Festlegung von Kriterien. Multidimensionalität von Raum muss sichtbar werden, statische Elemente raumzeitlicher Wirklichkeit eingebunden und die Kontrolle von Gesellschaft durch die Geovisualisierung reflektiert werden. Anhand zweier Beispiele zeigte sie dies auf. Larissa Fasslers „Kotti (revisited)“ – ein digitales Kunstprodukt – bot ihr dafür gute Ansätze: Ein Bebauungsplan des Kottbusser Tores in Berlin – zunächst dreidimensional: der natürliche Raum des Platzes, Werbeanzeigen, zahlreiche Notizen (= Wahrnehmungskonstrukte) bilden diese Karte. Ein Klick mit dem Mauszeiger über die Karte zoomt die Details heran: Bewegung durch den (virtuellen) Raum wird ermöglicht, die vierte Dimension erscheint. Doch schon hier scheiden sich die Geister. Kann man Fasslers Karte überhaupt als solche fassen? Oder ist Fasslers Kunstobjekt „nur“ politisierte raumbezogene Kunst? Sind Karten, die die raumzeitliche Verortung überschreiten, „unmögliche Karten“? Eine Antwort wurde nicht gefunden, muss auch nicht gefunden sein, denn Schlottmanns Frage diente vor allem als Anregung, über Funktions- und Inhaltsgehalt von Karten aus einer ganz neuen Perspektive zu sinnieren.

Dirk Hänsgen vertrat den Standpunkt, dass eine Verortung zeitlicher Prozesse in Karten möglich sei. Er bot den Teilnehmern einen historischen Abriss über den Umgang mit raumzeitlichen Dynamiken in der Kartographie und Geovisualisierung. Dabei breitete Hänsgen ein weites Spektrum an Darstellungsmöglichkeiten zeitlicher Dimensionen vor den Zuhörern aus. Beginnend bei Kartengegenüberstellungen (Zeitreihen), Mehrphasendarstellungen, Vektoren, Bandkartogrammen, Raum-Zeit-Containern bis hin zu Anamorphosen zeigte Hänsgen die vielfältigen Möglichkeiten auf, die die Darstellung von Zeit in Karten bereithält.

Angeregt von einer Diskussion über Knotenpunkte setzten sich IRIS SCHRÖDER (Erfurt) und OLIVER KANN (Gotha), mit Möglichkeiten der graphischen Aufbereitung des Weltverkehrs sowie der Front- und Grenzverlaufsdarstellungen auf Karten im Ersten Weltkrieg auseinander (Block 3: „Knotenpunkte“): Karten sind multidimensional. Anhand der „Chart of the world“, eine Weltkarte, die zwischen 1863 und 1924 in 16 Auflagen im Justus Perthes Verlag erschien, plädierte Iris Schröder für den Versuch, Dinge zum sprechen zu bringen. „Things that talk“ – Karten, die für sich selbst sprechen, die mit ihrem Betrachter interagieren. Die „Chart of the world“ vereint neben der gängigen Darstellungsform als Erd-Totale die physisch-geographische Beschaffenheit der Erde, zeigt Dampfschifffahrtslinien, die Hauptwinde (in 4 Nebenkarten) und vereint sie mit praktischem Wissen über Richtung und Geschwindigkeit von Meeresströmungen und über die Gezeiten. Dabei wandelt sich die „Chart“ im Zeitraum von 1863 bis 1924 maßgeblich. Die geographische Mitte verlagert sich ab der 6. Auflage auf den 40. Längengrad, neue Nebenkarten entstehen (31 Stück in der letzten Auflage). Dabei können Aussagen über den Weltverkehr getroffen werden, sie ist zugleich aber auch politische Karte, die die Verflechtung der vermeintlichen Zentren aufzeigt, zugleich den Sklavenhandel aber verschweigt. „Things that talk“ – ein Plädoyer für die Untersuchung des „Sprechens“ von Karten mit ihren Lesern.

Oliver Kann stellte in seinem Beitrag die Karte als politisches Instrument vor, als Instrument, welches die Wehrhaftigkeit eines Landes an der Front fokussiert. Landes- und Staatsgrenzen verschwinden unter der Darstellung kleinster, detaillierter Räume. Neue Maßstäbe (1:25.000, 1:10.000, 1:5.000) entstehen, der Fokus liegt auf dem kleinen Raum. Zeitliche Aspekte wurden zu Momentaufnahmen, die kaum zu fassen waren, da sich der Informationsgehalt der Karten aufgrund der Kampfhandlungen ja innerhalb kürzester Zeit änderte und sich damit der Inhalt der Karten revidierte und neu formierte. Die Karten lösten sich in Informationen auf und dienten gleichzeitig als Argument zur Legitimation von militärischen Handlungen. Im Ersten Weltkrieg begonnen, kann dieser Aspekt kartographischer Geschichte, sicher bis heute für sich stehen.

Der letzte Block der Veranstaltung fokussierte zwei sehr unterschiedliche Aspekte raumzeitlicher Dynamiken. SEBASTIAN DORSCH (Erfurt) stellte den Teilnehmern Zukunftsentwürfe der brasilianischen Stadtplanung São Paulos um 1900 vor. NORMAN HENNIGES (Gotha) rückte die Vermittlung von Weltbildern anhand von Schullandkarten zwischen den beiden Weltkriegen in den Mittelpunkt (4. Block: „Rolling Stones“): Stadtpläne gelten innerhalb der kartographischen Methodendiskussion als vernachlässigtes Thema. Dabei stehen gerade sie für Wandel, dokumentieren Stadtpläne doch die durch den Mensch geplante Zukunft einer Stadt: die Planbarkeit von Raum und Zeit. Am Beispiel São Paulos und unter Heranziehung praxeologischer Ansätze (de Certeau, Lefebvre) zeigte Sebastian Dorsch auf, wie das Wachstum São Paulos und dessen Planung von statten ging: Begradigungen, Betonung von Straßen als Verkehrswege, die Planung der Kanalisierung des Flusses – kurzum die Bekämpfung von Natur, aber auch von ungewollten Lebensformen (z. B. Armut) und deren Verdrängung, sind in Stadtplänen dokumentiert. Raum wird produziert und ästhetisiert, Raum wird gesteuert, durch den Menschen, durch die Stadtplaner.

Norman Henniges zeigte auf, wie der Mensch die Wahrnehmung der Welt anhand von Karten steuern kann. Geographielehrer schulen die Kinder in ihrer räumlichen Vorstellungswelt. Dabei war diese im 19. Jh. noch ziemlich begrenzt: eine Weltkarte, eine Europa-Karte, eine Karte des Heiligen Landes – mehr wurde nicht herangezogen, um die Wahrnehmung der Welt in den Köpfen der Schüler zu lenken. Diese Schulung wurde zwischen den Weltkriegen mit der zunehmenden politischen Radikalisierung instrumentalisiert. „Karten homogenisierten Länder und Völker und deklarierten sie bspw. zu Feinden. Geschichte wurde in Form von Karten aufbereitet, um Machtansprüche zu demonstrieren, aber auch zu legitimieren. Die Karten wurden dynamisiert und dienten der Inszenierung machtpolitischer Geltungsansprüche.

Der Workshop „Kartographien zeitlicher Dynamik“ rückte vier miteinander verwobene Facetten von kartographischen Raum-Zeit-Verhältnissen in den Fokus seiner Betrachtungen, welche die Teilnehmer in der lebhaften Schlussdiskussion nochmals intensiv aufgriffen: Es ging um technische Fragen – wie lässt sich Zeit in Karten darstellen –, um Zeit als Kategorie (Welche Zeiten lassen sich in Karten repräsentieren?), um raum-zeittheoretische Fragen an Karten (Agency, Aneignung, Macht) und ihre Produzenten (Expeditionen, Stadtplaner, Militärs) sowie um historiographische Fragestellungen (die Karte als Quelle, was ist eine Karte?). Dabei betonten Teilnehmer die dynamisierende Narrativität von Karten ebenso wie ihren Konstruktcharakter und ihren Einsatz als machtvolle Repräsentationen, sei es zur Stillstellung oder zur Dynamisierung sozialer Verhältnisse. Die Diskussion machte deutlich, dass die sehr gelungene Veranstaltung als Auftakt zu fassen ist, um sich weiter mit dem Verhältnis raumzeitlicher Darstellungen in der Kartographie zu beschäftigen. Für die angedachte Fortsetzung der Debatte wären – so die Teilnehmer – Fragen zum Produktionsprozess der Karten, der Rezipienten, die Lesekonventionen von Karten oder auch das Verhältnis von Bild und Text nur einige Fragen, die betrachtet werden könnten.

Konferenzübersicht:

Iris Schröder (Erfurt / Gotha) / Sebastian Dorsch (Erfurt / Gotha): Begrüßung
Christan Holtorf (Coburg): Einführung

Sektion „Treibendes Eis“
Moderation: Benjamin Steiner (Erfurt)

Dorit Müller (Berlin): Kartographien des Reisens: Zur Bewegungsdarstellung in Polarkarten

Christian Holtorf (Coburg): Vom „ewigen Eis“ zum arktischen Ozean – Zur Kartographiegeschichte der Arktis

Öffentlicher Abendvortrag
Moderation: Iris Schröder (Erfurt/Gotha)

Gert Melville (Dresden): Von der geschlossenen zur offenen Welt – kartographische Vorstellungen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit

Sektion „Timing“
Moderation: Andreas Christoph (Jena)

Antje Schlottmann (Frankfurt am Main): Unmögliche Karten!? Einige konzeptionelle Überlegungen zur visuellen Fixierung raum-zeitlicher Grenzüberschreitungen

Dirk Hänsgen (Leipzig): Mit Kugeln, Pfeilen und Pyjamas. Ein historischer Abriss über den Umgang mit raumzeitlichen Dynamiken in Kartographie und Geovisualisierung

Sektion „Knotenpunkte“
Moderation: Jutta Vinzent (Birmingham/Erfurt)

Iris Schröder (Erfurt / Gotha): Zunehmender Weltverkehr. Zur graphischen Aufbereitung sich verändernder RaumZeitverhältnisse

Oliver Kann (Gotha): „Fronten“ und „Grenzen“ an der Westfront 1914–1918. Militärische Demarkationen und politische Möglichkeitsräume

Sektion „Rolling Stones“
Moderation: Karsten Gäbler (Jena)

Sebastian Dorsch (Erfurt / Gotha): Wachsen – Begradigen – Urbanisieren. Entwürfe der Zukunft São Paulos auf Stadtplänen um 1900

Norman Henniges (Gotha): Mit Farbe und Pfeil: Die Dynamisierung und Radikalisierung der Schulwandkarte in der Zwischenkriegszeit

Abschlussdiskussion
Moderation: Jörn Eiben (Hamburg)