Neuordnung der Staaten – Neuordnung der Seelsorge. Staat und katholische Kirche in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg: Deutsches Reich – Polen – Tschechoslowakei

Neuordnung der Staaten – Neuordnung der Seelsorge. Staat und katholische Kirche in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg: Deutsches Reich – Polen – Tschechoslowakei

Organisatoren
Institut für Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa (IKKDOS), Tübingen; Arbeitsstelle für Katholizismus- und Widerstandsforschung der Universität Vechta; Katholische Erwachsenenbildung des Bistums Dresden-Meißen
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.07.2018 - 02.08.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Marco Bogade, Bamberg; Robert Pech, Ost- und Südosteuropäische Geschichte, Universität Leipzig

Auf der 55. Arbeitstagung des Instituts für Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa sollten anlässlich des 100. Jahrestags des Kriegsendes 1918 – ausgehend von der Neuordnung der politischen Landkarte in Ostmitteleuropa – die Veränderungen in der kirchlichen Struktur von deutschen, polnischen, tschechischen und slowakischen Historikern und Theologen in den Blick genommen werden.

In seinem Einführungsvortrag stellte MICHAEL HIRSCHFELD (Vechta) den der Tagung methodisch zugrunde liegenden Begriff des in der deutschsprachigen Forschung vor allem durch Karl Schlögel geprägten ‚spatial turn‘ heraus. Gerade in der Kirchengeschichte und Katholizismus-Forschung sei dieser Ansatz bisher ein grundsätzliches Desiderat – wenngleich ‚Vorarbeiten‘ dazu etwa von Hugo Weczerka oder auch Bernhard Stasiewski (1905–1995) gemacht wurden.

Achille Ratti (1857–1939) war vor seinem Amt als Papst Pius XI. (1922–1939) vom Heiligen Stuhl in 1918 als Apostolischer Visitator und ab 1919 als Nuntius nach Warschau (Warszawa) abgeordnet worden, um neue kirchliche Strukturen im neu beziehungsweise wieder entstandenen polnischen Staat aufzubauen. VERENA BULL (Mainz) analysierte die Einflüsse der ‚polnischen Zeit‘ Rattis auf sein späteres Pontifikat, das sich – entsprechend seiner ersten Enzyklika „Pax Christi“ von 1922 – vor allem im Spannungsfeld der Etablierung von Nationalstaaten sowie einen daraus resultierenden Nationalismus und der Etablierung einer friedfertigen Gesellschaft auf katholischer Basis auseinandersetzte. Zahlreiche Konkordate (unter anderem Lettland, Bayern, Polen, Litauen, Rumänien, Italien, Preußen, Österreich, Jugoslawien) seien auf die Amtszeit Pius XI. zurückgegangen. Gleichwohl gebe es in den Quellen zu Ratti faktisch keine Hinweise auf Ideen für eine Raumentwicklung beziehungsweise Raumstrategien in den Regionen.

ANDRZEJ KOPICZKO (Allenstein/Olsztyn) eröffnete das Panel zu Ost- und Westpreußen mit einer Untersuchung zur Änderung der diözesanen Strukturen im Bistum Ermland nach dem Ersten Weltkrieg unter Bischof Augustinus Bludau (1862–1930; Bischof von Ermland ab 1909). Das Bistum Ermland wurde in den 1920er-Jahren insgesamt kleiner: Infolge des Versailler Vertrags haben sich, so der Referent, in Abhängigkeit zu den politischen Grenzen auch die Bistumsgrenzen in der Region verändert: Im Westen wurden 1922 größere Teile des Bistums Pomesanien an die Diözese Ermland angeschlossen, mit Gründung des Bistums Danzig wurden verschiedene Pfarreien aus dem Ermland dann ausgegliedert; im Memelgebiet wurden Pfarreien dem Bischof von Litauen unterstellt. Bischof Bludau gab 1925 einen neuen Katechismus für das Bistum heraus, 1928 einen kleinen Katechismus, 1941 eine kleine Schulbibel.

HANS-JÜRGEN KARP (Hamburg) befasste sich mit Kontinuitäten und Änderungen der Pastoral und Politik in der ‚Exklave‘ Ostpreußen seit 1920. Der bereits erwähnte Bischof von Ermland, Augustinus Bludau, habe sich während seiner Amtszeit auf die Ausbildung des theologischen Nachwuchses konzentriert, seine Erfolge wiederum wurden postum unterschiedlich bewertet. Jedenfalls habe der Regens des Priesterseminars, Eugen Brachvogel (1882–1942), für eine moderne Ausbildung der jungen Kleriker gesorgt, indem er persönliche Verbindungen zur katholischen Jugendbewegung wie dem Bund Quickborn unterhielt. Die Akademie bildete den manifestierten Teil der klassischen katholisch-ermländischen Identität. Dieses ‚Sonderbewusstsein‘ der Ermländer habe sich auch im politischen Katholizismus, in den Arbeitervereinen und christlichen Gewerkschaften abgebildet. In summa waren Einheit und Geschlossenheit der Ermländer das Ziel der katholischen Hierarchie.

Posen und Westpreußen standen im Mittelpunkt des Beitrags von ELIGIUSZ JANUS (Marburg), der sich mit dem Aufdecken alter und neuer Handlungspraktiken bei der Lösung und Aushandlung von Problemen (etwa Priesterrückgang oder Fragen der Nationalität bei der Seelsorge) während dieser – in Bezug auf die katholische Kirche sogenannten – Konsolidierungsphase befasste.

Das Panel zu Schlesien einleitend, präsentierte Michael Hirschfeld Glatz und Katscher (Branitz) gleichsam als Nebenschauplätze der Gebietsveränderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Die auch innerhalb des regionalen Klerus viel diskutierte Frage der kirchlichen Zuordnung zu Prag (Praha) oder Breslau (Wrocław) habe 1920 zur Gründung des Generalvikariats Glatz geführt, in dem der jeweilige Großdechant und Generalvikar den Prager Erzbischof vertrat. 1924 wurde das Generalvikariat Branitz (Erzbistum Olmütz/Olomouc) installiert, wobei es nach Quellenlage am Vorabend der Gründung weder Hinweise auf Annexions- (von tschechischer Seite) noch Anschlussbestrebungen (Kardinal Bertram in Richtung Breslau) gebe.

Das 1810 säkularisierte Zisterzienserkloster Grüssau (Krzeszów) wurde im Jahre 1919, so INGE STEINSTRÄSSER (Bonn), vom Großteil der Benediktinermönche aus dem Prager Emmauskloster wiederbesiedelt. Der Konvent in Prag habe sich nach dem Ende der Habsburgermonarchie und nicht zuletzt aufgrund der deutschnationalen Gesinnung des damaligen Abts Alban Schachleitner nicht mehr halten können. Grüssau habe sich während der Zwischenkriegszeit – neben Klosterneuburg – zum Zentrum der liturgischen Erneuerung in der Region etabliert (etwa durch Choralgesänge für das Volk).

Der aus der Tradition der Jugendbewegung resultierende Arbeitskreis Quickborn und seine Friedensbemühungen nach dem Ersten Weltkrieg standen im Zentrum der biografisch geprägten Ausführung von MEINULF BARBERS (Korschenbroich). Zentrale Akteure für Schlesien waren dabei Bernhard Strehler (1872–1945), der als Pfarrer mit Hilfe von Quickborn-Spenden drei Kirchen errichtete, und Klemens Neumann (1873–1928), der unter anderem in Neisse (Nysa) bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Bau der Bildungs- und Begegnungsstätte „Heimgarten“ in Angriff nahm. Gerade die schlesischen Quickborner, so Barbers, sorgten sich um die Frage nach Frieden und Versöhnung. So fand im Jahr 1923 eine Bundestagung nicht auf Burg Rothenfels, sondern in der genannten Abtei Grüssau in Schlesien statt.

Die Gründung der polnischen Diözese Kattowitz (Katowice) im Jahre 1925 ist das Ergebnis der kirchlichen Entwicklungen nach der Abtretung Ostoberschlesiens von Deutschland an Polen drei Jahre zuvor. Der Vortrag von MAIK SCHMERBAUCH (Berlin) stellte die Situation der dort lebenden deutschsprachigen Katholiken – nun als Minderheit – im neu gegründeten Bistum gruppenbiografisch am Beispiel von Bischöfen und Priestern (unter anderem August Hlond, Arkadius Lisicki, Stanislaus Adamski, Richard Cichy, Franz Wosnitza) dar. Er beleuchtete die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sowie der Repressalien durch die Woiwodschaftsregierung unter Michał Grażyński (1890–1965), die Auseinandersetzung mit polnischen Nationalverbänden sowie Radikalisierungstendenzen innerhalb der deutschen Minderheit selbst.

Einen komparatistischen Blick auf die Situation der Katholiken in Slowenien lieferte FRANCE MARTIN DOLINAR (Laibach/Ljubljana). Bis zum Ende des Habsburgerreichs waren die Slowenen in die post-josephinische kirchliche Struktur der Monarchie mit vier Kirchenprovinzen – Görz (Gorizia), Udine, Salzburg und Gran (Esztergom) – eingeteilt. Nach dem Ersten Weltkrieg habe der Bischof von Laibach, Anton Bonaventura Jeglič (1850–1937), den Vorschlag abgelehnt, die slowenischen Diözesen in die kroatische Kirchenprovinz von Zagreb zu integrieren. Seine Idee, für Slowenien eine eigene Kirchenprovinz (Laibach als Metropolitan- und Marbach/Maribor als Suffraganbistum) zu installieren, seien in den Entwurf des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Jugoslawien aufgenommen, jedoch mit Blick auf die serbisch-orthodoxe Kirche von der jugoslawischen Regierung um Ministerpräsidenten Milan Stojadinović (1888–1961) nicht ratifiziert worden.

In der Slowakei wandelte sich nach 1918, so ROMAN HOLEC (Pressburg/Bratislava), entsprechend der staatsrechtlichen und politischen Verhältnisse auch die Stellung der Konfessionen. Die katholische Kirche habe einen gleichsam nationalen Charakter erlangt und wurde zur Trägerin einer slowakischen Identität einerseits sowie einer, teilweise vom tschechischen Atheismus motivierten, anti-tschechischen ‚Opposition‘ andererseits. Die Protestanten dagegen seien mit ihrer pro-tschechischen Einstellung eher eine feste Stütze der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik geblieben.

Die Strategien des katholischen und des sudetendeutschen Milieus in der Tschechoslowakei, die JAROSLAV ŠEBEK (Prag/Praha) beleuchtete, seien von den zunehmenden Säkularisationsbestrebungen vonseiten des neuen Staats (in diesem Kontext steht auch der Sturz der Mariensäule in Prag 1918) geprägt gewesen. Das katholische Milieu habe sich nur schwer mit den machtpolitischen Veränderungen anfreunden und Identifikationsangebote liefern können. Auf tschechischer Seite habe sich, gleichsam als Gegenreaktion, ab 1920 die tschechoslowakische Kirche als (hussitische) Nationalkirche formiert.

Schließlich beleuchtete MARKUS SCHUBERT (Passau) die Reaktionen und Haltungen der ostbayerischen und oberösterreichischen Bischöfe auf wichtige kirchenpolitische Entwicklungen und Zäsuren infolge der 1918 gegründeten Tschechoslowakei. Auf der Quellengrundlage der in Passau erschienenen „Donauzeitung“ sowie des „Linzer Volksblatts“ wurden zum einen die Stellungnahmen des Passauer Milieukatholizismus analysiert, zum anderen die Querverbindungen des ostbayerischen Katholizismus mit der sogenannten bayerischen Heimatbewegung.

Referatsübergreifend wurde die Urkatastrophe Erster Weltkrieg in Hinblick auf die sich anschließenden Brüche von jahrhundertealten kirchlichen Strukturen und gewachsenen räumlichen Einheiten deutlich. Wie bei wissenschaftlichen Tagungen üblich, wurden zudem zahlreiche Desiderate offengelegt. So fehlen Mikrountersuchungen, die das praktisch-kirchliche Leben auf der Pfarreiebene beleuchten. Auf personeller Ebene bleibt die Frage nach dem ‚Aufbruchspotential‘ offen, nämlich inwieweit Kriegserfahrungen im Nationalbewusstsein auf der einen und religiösen Verhalten auf der anderen Seite reflektiert wurden. Hier wären sicher auch Erklärungsansätze für die aufkommende Mystik-Sehnsucht zu finden. Auf der Meso- und Makroebene dürfe Nationalismus nicht nur als Spannungspol zum Verhalten der Amtsträger beziehungsweise Gruppen angesehen werden, sondern müsse für jede Region, jeden Staat und zudem sozial differenziert werden, um zu präziseren Ergebnissen zu gelangen. Der Nationalstaat als Spannungsfeld, in das die Kirchen gestellt werden, wirft überdies die Frage auf, ob sich die Kirchen als Sprachrohre instrumentalisieren ließen und Konflikte damit verschärften oder entspannten.

Konferenzübersicht:

Michael Hirschfeld (Vechta): Einführung in das Tagungsthema

Verena Bull (Mainz): „La missione è d’ordine puramente ecclesiastico“: Die Erfahrungen Achille Rattis als Nuntius in Warschau und ihre Auswirkungen auf die Politik Pius’ XI.

Themenschwerpunkt: Ost- und Westpreußen, Posen

Anfrzej Kopiczko (Allenstein/Olsztyn): Organisation und Seelsorge im Bistum Ermland nach dem Ersten Weltkrieg

Hans-Jürgen Karp (Hamburg): Katholische Kirche im abgetrennten Ostpreußen. Kontinuität und Wandel in Pastoral und Politik

Eligiusz Janus (Marburg): Posen und Westpreußen im Umbruch: Staat und Kirche 1918–1926

Themenschwerpunkt: Schlesien

Michael Hirschfeld (Vechta): Katholische Kirche an der Peripherie Schlesiens: Die Katholiken der Generalvikariate Glatz und Katscher (Branitz) zwischen kirchlichem Selbstbewusstsein und Nationalismus

Inge Steinsträßer (Bonn): Religiöser Neubeginn nach dem Krieg: Die Anfänge des Benediktinerklosters Grüssau

Meinulf Barbers (Korschenbroich): Friedensbemühungen im Quickborn nach dem Ersten Weltkrieg

Maik Schmerbauch (Berlin): Die Seelsorge für die deutschen Katholiken im polnischen Bistum Kattowitz durch Bischöfe und Priester 1922–1939

Themenschwerpunkt: Tschechoslowakei / Slowenien

France Martin Dolinar (Laibach/Ljubljana): Veränderungen der Diözesanstrukturen in Slowenien nach dem Ersten Weltkrieg

Roman Holec (Pressburg/Bratislava): Die Slowakei in der Gründungsphase der Tschechoslowakischen Republik

Jaroslav Šebek (Prag/Praha): Der Glaube im Umbruch – Die Strategien des katholischen und des sudetendeutschen Milieus in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg im Vergleich

Markus Schubert (Passau): Die Verbindungen der Bischöfe von Passau und Regensburg zum tschechischen Episkopat nach 1918

Michael Hirschfeld (Vechta): Zusammenfassung und Abschlussdiskussion


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