Burgund, Frankreich, England und das Reich – Neue Forschungen zu spätmittelalterlichen Höfen im Westen Europas (II)

Burgund, Frankreich, England und das Reich – Neue Forschungen zu spätmittelalterlichen Höfen im Westen Europas (II)

Organisatoren
Eric Burkart, Universität Trier; Klaus Oschema, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.10.2019 - 19.10.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Saskia Wagner / Joshua Lambach, Ruhr-Universität Bochum

Die Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Hof als Forschungsgegenstand ist, wie KLAUS OSCHEMA (Bochum) und ERIC BURKART (Trier) zu Beginn des dreitägigen Workshops feststellten, zwar etabliert, zugleich aber auch erklärungsbedürftig. Als politisch-administrative Zentren sowie Orte kulturellen Austauschs seien Höfe fraglos untersuchungswürdig und zudem aufgrund einer oft günstigen Quellenlage als Untersuchungsobjekte fruchtbar. Zugleich aber bleibe „der Hof“ als abgegrenzter Forschungsbereich schwierig zu fassen, und das Thema „Hof“ laufe angesichts jüngerer Zugänge und Themen in der mediävistischen Forschung Gefahr, antiquiert zu wirken. Somit empfehle sich ein Perspektivwechsel vom Hof als Gegenstand an sich zu neuen, thematisch unterschiedlichen Zugängen zu ihm. Diesem Perspektivwechsel, aber auch der Vernetzung aktueller Arbeiten zu Themen, die, aus unterschiedlichen Interessen kommend, Blicke auf spätmittelalterliche Höfe im Westen Europas entwickeln, gebe der bereits zum zweiten Mal stattfindende Workshop einen Rahmen: Nicht ein konkreter thematischer Fokus stehe daher im Vordergrund, sondern der Austausch über gegenwärtige Zugänge.

Die Reihe der Vorträge begann JONATHAN DUMONT (Wien), der eine methodisch ausgerichtete Typologie der „grauen Eminenzen“ vorstellte. Dumont betonte die Vielfältigkeit des Typus und seiner Genese: Während „Favoriten“ sich durch freundschaftliche oder verwandtschaftliche Nähe und starke Abhängigkeit zum Herrscher auszeichneten, konnten „Spezialisten“ ihre Position durch nützliche technische Fertigkeiten erarbeitet haben. Insbesondere der Vergleich mehrerer Einzelkarrieren, die sich unterschiedlichen Kategorien zuordnen lassen, ermögliche Rückschlüsse auf zentrale Mechanismen und Praktiken im Rahmen des Hofs. Dabei behalte der Begriff der „grauen Eminenz“ zwar eine gewisse Unschärfe, könne aber durch die Erstellung eines „Idealtyps“ zu einem besseren Verständnis des Hofes als sozialem Raum beitragen.

RICARDA HOFER (Innsbruck) schritt diesen „sozialen Raum“ aus der Perspektive mittelalterlicher Rollenzuschreibungen am Beispiel Marias von Burgund ab und prüfte kritisch etablierte Ansichten zur Position von Fürstinnen, indem sie auf die Handlungsspielräume der burgundischen Herrscherin nach ihrer Heirat mit Maximilian von Habsburg fokussierte. Insbesondere die eigenständige Ausstellung von Urkunden lasse weiterhin eine aktive Teilhabe Marias an der Herrschaft erkennen. Zwar trat die Herzogin, wie sowohl zeitgenössische historiographische Darstellungen als auch moderne wissenschaftliche Untersuchungen laut Hofer bestätigen, in der Herrschaftsausübung durchaus hinter ihrem Ehemann zurück. Zugleich aber habe sie auf die Regentschaft Maximilians erheblichen Einfluss ausgeübt, der sich noch postum in Politik, Kultur und Kunst des Hofes nachvollziehen lasse.

ANDREW MURRAY (London) sprach über die ideologische Anwendung des „Gemeinwohl“-Begriffs (bien public) in den Ordonnanzen Philipps des Kühnen. Anhand ausgewählter Quellenbeispiele zeigte er auf, wie sich Bedeutung, Adressaten und Anwendung des Begriffs situativ und abhängig vom jeweiligen Sprecher veränderten und unterschieden: Diese Flexibilität habe es jedem Herrscher erlaubt, eine eigene Interpretation zu entwickeln und das Konzept den jeweiligen Interessen gemäß einzusetzen. Während das „Gemeinwohl“ insbesondere unter Herzog Karl dem Kühnen oft die Herrschaftsgewalt und Autorität des Fürsten über seine Untertanen legitimiert habe, habe Philipp der Kühne den Begriff vorwiegend genutzt, um Konsens und Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessensgruppen unter seiner Herrschaft herzustellen. Unter das „Gemeinwohl“ sei aus dieser Perspektive insbesondere die Gewährleistung des Friedens als Grundlage für Handel und Wohlstand gefallen, aber auch einschlägige administrative Vorgaben. Im Hintergrund dieser Ausrichtung auf Konsens stand nach Murray die räumliche Zersplitterung und kulturelle Diversität der „burgundischen“ Territorien und das daraus resultierende Bedürfnis nach Kohäsion.

Einen Außenblick auf den französischen und burgundischen Hof eröffnete JESSIKA NOWAK (Basel) anhand der Berichte mailändischer Gesandter an Herzog Francesco Sforza. Nowak betonte insbesondere die Spezifika des von den Gesandten benutzten Vokabulars in den Berichten über das Leben und die Funktionsweisen an den Höfen Frankreichs und Burgunds: Während bei Verweisen auf italienische Verhältnisse das Wortfeld des Lesens und Schreibens im Vordergrund stand, waren die Berichte zu den Praktiken jenseits der Alpen vom Vokabular des Redens (dicere) geprägt. Hieran lasse sich das Fremdheitsgefühl erkennen, das die Gesandten angesichts der ihnen wenig vertrauten und weniger auf Schriftlichkeit basierenden Abläufe an den Höfen in Frankreich und Burgund empfanden. Insgesamt, so Nowak, erscheinen damit die beschriebenen Höfe in den Berichten weitgehend als Orte des „Redens“, weniger als Zentren des politischen Entscheidens.

Zu einem interdisziplinären und geographischen Sprung in das byzantinische Reich lud MICHAEL KIEFER (Heidelberg) ein, der die Ausgabe von Ehrenroben als Herrschaftsinstrument im transkulturellen Vergleich untersuchte. Durch die Ausstattung mit speziellen Kleidungsstücken konnte sowohl im frühen byzantinischen Reich wie an Höfen der islamischen Welt die höfische Hierarchie ausgedrückt und etabliert werden. Während im europäischen Westen bei Livreen, die sich im späten Mittelalter entwickelten, vor allem der materielle Wert der Kleidung und Stoffe als Entlohnung der Hofangehörigen eine große Rolle spielte, stand in Byzanz weitgehend der symbolische Wert im Vordergrund: Kleidung fungierte als Mittel zur Stabilisierung der Einheitlichkeit und Ordnung des Hofs. Wie die Diskussion zeigte, mag bei den zu beobachtenden „Uniformierungseffekten“ ein Vergleich zur burgundischen Hofkleidung, etwa mit der Vorliebe für schwarze Stoffe zur Zeit Philipps des Guten, zunächst naheliegend scheinen. Zugleich seien aber auch die Unterschiede zu beachten, die mit „Modeeffekten“ und dem Versuch der sozialen Differenzierung verbunden waren. Damit verliere, so die Diskussion, die vergleichende Betrachtung allerdings nicht an Wert. Vielmehr ermögliche sie das präzise Herausarbeiten spezifischer Charakteristika der untersuchten Höfe und Kulturen hinsichtlich ihrer vestimentären Praktiken.

ANDREAS G. KISTNER (Düsseldorf) lenkte den Blick auf den Kardinalshof des 14. Jahrhunderts. Wenn bislang das personelle Umfeld mittelalterlicher Kardinäle weitgehend mit dem Begriff der Familia erfasst und beschrieben wurde, so zeigten Kanzleiregeln und -testamente die Grenzen dieser Terminologie auf. Ältere Definitionsversuche seien von der Ausübung spezifischer Funktionen, dem Besitz eines entsprechenden Amtsbriefs oder der Zugehörigkeit zum direkten Lebensumfeld der Kardinäle ausgegangen. Die Kanzleiregeln hingegen ließen klare Abstufungen von „Familiaren“ unterschiedlicher Stellung erkennen. Ziehe man zudem die Testamente der Kardinäle hinzu, so werde deutlich, dass die Kardinäle selbst Klärungsbedarf sahen: Entsprechend legten sie fest, welche Personen zum inneren Kreis ihrer Umgebung zählten und entsprechend berücksichtigt werden sollten. Die unterschiedlichen Begünstigungen in den Testamenten stimmten dabei nicht immer mit dem klassischen Verständnis der „Familia“ überein und böten laut Kistner somit neue Einblicke in die Lebensweisen und die Organisation des sozialen Umfelds der Kardinäle.

MANUEL KAMENZIN (Bochum) stellte ein Aufsatz-Projekt vor, in dessen Rahmen er gemeinsam mit der Tübinger Kunsthistorikerin Daniela Wagner Unterschiede in der bildlichen und textlichen Darstellung mittelalterlicher Tode bei Tisch in illustrierten Handschriften analysiert. Grundlegend sei zunächst die moralische Konnotation unterschiedlicher Todesarten herauszustellen, die bereits auf biblischen Vorbildern aufbauen könne und mit der Zuschreibung eines „guten“ oder „schlechten“ Todes die wertende Verknüpfung von Lebensführung und Ableben ermöglichte. Durch die vergleichende Betrachtung bildlicher und textlicher Quellen zeigte Kamenzin, dass historiographische Texte die Beschreibung des Todes sowohl zur positiven wie zur negativen Charakterisierung der Verstorbenen nutzten. Anhand einer Reihe von Beispielen – von Konrad II. über Harthaknut von England bis hin zu Godwin von Wessex – demonstrierte er, dass der Tod bei Tisch und die ihm innewohnenden Konnotationen in Text und Bild durch unterschiedliche Taktiken verarbeitet wurde. Gerade aufgrund der teilweisen Adressierung der Handschriften an ein höfisches Publikum machte Kamenzin deutlich, dass eine gemeinsame Betrachtung von Text und Bild in ihren jeweiligen Traditionen zum Verständnis der Überlieferung essentiell ist.

Dass eine „Kultur fehlenden Entscheidens“ durchaus als gewollte Herrschaftspraxis deutbar ist, erörterte MAXIMILIANE BERGER (Münster) in ihrem Beitrag zu den Entscheidungsprozessen am Hof Kaiser Friedrichs III. Obwohl der Habsburger zahlreiche Urkunden produzierte, sei er von seinen Zeitgenossen als untätig und entscheidungsunfreudig empfunden und sein Hof zu einem „Ort enttäuschter Entscheidungserwartungen“ geworden. Um diese Einschätzungen historisch einzuordnen, warnte Berger zunächst davor, das moderne Verständnis von „Entscheidung“ auf mittelalterliche Herrschaftspraktiken zu übertragen: Zeitgenössisch sei wenig von „Entscheidung“ die Rede gewesen, die zudem (im Gegensatz zum modernen Verständnis) nur als ultima ratio friedlicher Politik betrachtet worden sei. Zwischen Handlungsimpuls und Entscheidung hätten mittelalterlichen Herrschern vielmehr unterschiedliche politische Möglichkeiten und Mechanismen offengestanden. Zu diesen zählte auch das beabsichtigte Hinauszögern einer kaiserlichen Reaktion, das eine „passive Konfliktlösung“ zum Ziel hatte. Insgesamt sei Friedrich durch diese Politik zur „universalen Projektionsfläche“ gesandtschaftlicher Erwartungen geworden, was letztlich zu einer friedensförderlichen Opazität des kaiserlichen Hofs geführt habe.

Schließlich argumentierte ALEXANDER QUERENGÄSSER (Halle) für eine neue Interpretation des „geteilten“ Hofs Friedrichs des Streitbaren im Sachsen des 15. Jahrhunderts. Den ost- und mitteleuropäischen Höfen des Spätmittelalters im Allgemeinen und jenem Friedrichs des Streitbaren im Besonderen werde häufig eine gewisse Rückständigkeit und Rückkehr zur „Sattelherrschaft“ zugeschrieben; im Falle des Wettiners sei zudem die Herausbildung eines regelrechten Frauenhofs zu beobachten. Dem gegenüber erläuterte Querengässer, dass weder der Begriff der Sattelherrschaft noch jener des Frauenhofs hier adäquat sei. Zwar sei Friedrich zahlreichen Verpflichtungen außerhalb seines Herrschaftsgebiets nachgekommen, dennoch könne das Schloss Grimma anhand unterschiedlicher Quellen als Hauptsitz seiner Herrschaft bezeichnet werden. In seiner Abwesenheit habe seine Gattin, Kurfürstin Katharina, die Rolle der Statthalterin übernommen. Das Schloss Grimma sei im Zuge dessen zum kommunikativen Verwaltungszentrum avanciert, von dem aus Gesuche zentral gesammelt und an den abwesenden Herrscher weitergeleitet werden konnten.

In der abschließenden Diskussion unterstrichen die Veranstalter, dass der Workshop ein eindrucksvolles Panorama unterschiedlicher Perspektiven auf den spätmittelalterlichen Hof eröffnet habe. Nicht nur die Diversität der methodischen Herangehensweisen, sondern auch die Fülle der Quellenarten selbst – ob schriftlich, bildlich oder materiell – habe den Facettenreichtum des Forschungsgegenstands nachdrücklich belegt. Zugleich sei aufgefallen, dass wirtschaftlich ausgerichtete Zugänge kaum präsent gewesen seien. Trotz dieses Befundes habe sich der „höfische Rahmen“ in all seiner schillernden Offenheit aber als fruchtbar für unterschiedliche Zugänge, Fragestellungen und Forschungsinteressen erwiesen. In diesem Sinne habe der Workshop zugleich sein Ziel der Vernetzung und gegenseitigen Information über aktuelle Forschungsprojekte erreicht. Die von der „Fondation pour la protection du patrimoine culturel, historique et artisanal“ (Lausanne) geförderte Initiative habe ein Desiderat aufgezeigt und demonstriert, dass eine dauerhafte Plattform für diesen Austausch zu wünschen wäre.

Konferenzübersicht:

Eric Burkart (Trier) / Klaus Oschema (Bochum): Einführung

Sektion 1: Fokus Burgund und Frankreich
Moderation: Eric Burkart (Trier)

Jonathan Dumont (Wien): “Grey Eminences” in Late Medieval Courts: Towards a Suitable Definition

Ricarda Hofer (Innsbruck): Maria von Burgund – Rollenzuschreibungen und Instrumentalisierungsmechanismen aus burgundischer, französischer und habsburgischer Perspektive

Sektion 2: Burgund im Kontext
Moderation: Klaus Oschema (Bochum)

Andrew Murray (London): Urban Rebellion and the Ideology of the “Common Good” in Philip the Bold’s Ordinances

Jessika Nowak (Basel): parla molto mozo né può fare ch’el non demostri uno pocho de l’animo suo. Ein Stimm(ungs)bild des französischen und burgundischen Hofes aus Mailänder Perspektive

Sektion 3: Ausblicke in Zeit und Raum
Moderation: Manuel Kamenzin (Bochum)

Michael Kiefer (Heidelberg): Livree, Roga und Khila. Die Ausgabe von Ehrenroben als Herrschaftsinstrument im transkulturellen Vergleich

Andreas G. Kistner (Düsseldorf): Falkner, Koch und Kämmerer. Neue Perspektiven auf den Kardinalshof im 14. Jahrhundert

Manuel Kamenzin (Bochum): Der Tod bei Tisch und das Publikum bei Hofe

Sektion 4: Das Reich im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit
Moderation: Benjamin Müsegades (Heidelberg)

Maximiliane Berger (Münster): Der opake Herrscher. Prozesse des Entscheidens am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440-1486)

Alexander Querengässer (Halle): Frauenhof und Sattelherrschaft? Der geteilte Hof Friedrichs des Streitbaren

Abschlussdiskussion