Konfigurationen der Mobilität: Transition – Transformation – Transgression

Konfigurationen der Mobilität: Transition – Transformation – Transgression

Organisatoren
Katrin Dennerlein, Neuere deutsche Literaturgeschichte I, Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Michaela Fenske / Arnika Peselmann, Europäische Ethnologie/Volkskunde, Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Frederike Middelhoff, Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Romantikforschung, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; VolkswagenStiftung
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2020 - 28.02.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Marlis Heyer, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Laura Högner, Institut für deutsche Philologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Pascal Marcel Dreier, Kunsthochschule für Medien Köln

Die internationalen Teilnehmenden der interdisziplinären Winter School kamen aus den Literatur-, Medien-, Sozial- und Kulturwissenschaften und erprobten fünf Tage lang, mit welchen Zugängen unterschiedliche Formen von Mobilität analysiert werden können. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie Mobilität als Konzept in verschiedenen Fach- und Forschungskontexten produktiv gemacht werden kann. Besonderes Augenmerk lag auf nicht-menschlichen Mobilitäten. Angeregt durch Lektüre, Keynotes und ein umfangreiches Rahmenprogramm wurde die Mobilität von Texten, anderen materiellen Objekten, Tieren und Pflanzen zu menschlicher Mobilität ins Verhältnis gesetzt.

Alle Teilnehmenden besuchten Theorieworkshops, in denen Basistexte und Grundlagenfragen bearbeitet wurden. Darin beschäftigten sich die Teilnehmenden mit Ansätzen der Mobility Studies aus den disziplinspezifischen Perspektiven der Sozialgeographie, der Anthropologie, der Animal Studies und der Literaturwissenschaft. Darüber hinaus bot die Winter School drei Themenschwerpunkte an, die das Denken von und über Mobilitäten aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten. Mobilität wurde in diesen Workshops ausgehend von den drei Dimensionen „Transition”, „Transformation” und „Transgression” in den Blick genommen. Außerdem gab es eine Postersession, bei der alle Teilnehmenden ihre Projekte mit einem Plakat vorstellen und sich dazu austauschen konnten. Auf diese Weise erhielten sie die Möglichkeit, erste Anknüpfungspunkte des interdisziplinären Programms mit der eigenen Forschung zu entdecken und neue Perspektiven auf übergreifende Fragestellungen einzunehmen. Im Plenum wurde evaluiert, inwiefern der jeweilige Ansatz neue Akzente für die Frage nach der Bedeutung von (nicht-menschlicher) Mobilität auf der einen, für die Erkenntnisse der eigenen Forschung auf der anderen Seite bieten und den Verständnishorizont erweitern kann. Als besonders ertragreich erwiesen sich die Themenworkshops, da der Fokus in diesem Rahmen auf eine spezifische Dimension mobiler Entitäten gelegt wurde. Die Teilnehmenden konnten hier ihre eigenen fachlichen Perspektiven und Expertisen einbringen und ihre Erkenntnisse anhand einer bestimmten Problemstellung in der gemeinsam Diskussion weiterentwickeln.

Der Themenworkshop „Transition“ fand in englischer Sprache unter der Leitung von Sara Asu Schroer (Aberdeen) und Frederike Middelhoff (Frankfurt am Main) statt. Dabei wurden verschiedene Zugänge auf das Phänomen des Übergangs, des Transitorischen, Dazwischen- und (Un-)Bewegt-Seins zur Diskussion gestellt, von historisch-methodischen Perspektiven auf das „Gehen” bis hin zu Erzählungen von Mobilität und mobilen Erzählungen; von Perspektiven auf die Immobilität und das Warten während und im Anschluss an Migrationserfahrungen bis hin zur Stasis im Kontext unseres Umgangs mit kulturellem Erbe – all das unter besonderer Berücksichtigung nichtmenschlicher AkteurInnen. Die einzelnen Sitzungen wurden von den StipendiatInnen unter Bezugnahme auf die eigenen Projekte und die zur Verfügung gestellten Materialien – in Form von Prosa, Lyrik, bildender Kunst, literaturwissenschaftlichen und ethnologischen Texten – im Wechsel angeleitet. Abschließend wurden die im Workshop erarbeiteten Konzepte und Begriffs-Destillate zusammenhängend besprochen. Festgehalten wurde dabei u.a., dass die unterschiedlichen Manifestationen, Räume und Praktiken des Im/mobilen und Transitorischen sich in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Leichtigkeit, Reiselust und Ungezwungenheit einerseits und konkreten Machtkonstellationen, Willkür und politischen Ausschlussmechanismen andererseits aufspannen.

Im Themenworkshop „Transformation“ standen unter der Leitung von Katrin Dennerlein (Würzburg) und Annegret Pelz (Greifswald/Wien) Fragestellungen zur Transformation aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Mittelpunkt. Basierend auf drei Grundlagentexten stellten die Teilnehmenden ihre eigenen Forschungsprojekte im Rahmen eines halbstündigen Vortrags vor. Form wurde dabei nicht als etwas Statisches und nicht primär als Unterscheidung zum Inhalt verstanden, sondern im Anschluss an Luhmanns Formbegriff. Form wird bei ihm als Vollzug der Unterscheidung von Medium und Form begriffen, wobei das Medium als Menge lose gekoppelter Elemente, die Form als feste, gleichwohl vergängliche Kopplung von Elementen konzipiert wird. Da das Medium stabil bleibt, ist eine permanente Transformation von Formen möglich. Im Zentrum des Workshops stand die Frage, wie Gattungen als Formen sich wandeln, wenn Texte, Stoffe, Autoren, aber auch Protagonisten und Gegenstände mobil werden und welche Folgen das auch für die Transformation des literarischen Feldes hat. Die Vortragsrunden wurden anschließend im Plenum resümiert.

Unter der Leitung der KulturanthropologInnen Arnika Peselmann (Würzburg) und Felix Remter (München) diskutierten die Teilnehmenden anhand von Text- und Filmbeispielen, aber auch immer wieder im Rückgriff auf eigene Forschungen, narrative Konfigurationen von „Transgression“ und als „transgressiv” gedeuteter Mobilität, wie sie im Kontext „invasiver” Arten oder kriminalisierter menschlicher Migration deutlich werden. Dabei erarbeiteten sie Begriffe von Grenze, Agency, Hybridität, Anthropomorphismus, Multispecies Ethnography, Pluralität, Migration, Regime, Reproduktion und Widerständigkeit. Auch das eigene Denken, Forschen und Schreiben wurde kritisch in den Blick genommen: Können wir, beispielsweise in akademischen Kontexten, transgressiv wirken und transgressives Wissen produzieren und zirkulieren? Welche Formate können als Medium dienen, und wie können empirische Forschungen und textbasierte Publikationen die abstrakten Ansprüche aktueller Theorien einlösen?

PETER ADEY (London) thematisierte in der ersten Keynote Ungleichheiten, die in unserem Umgang mit Katastrophen, in Evakuierungsplänen und deren Umsetzungen sichtbar werden. Welche Leben sind es wert, evakuiert zu werden? Wie werden Evakuierungspläne gestaltet und zugänglich gemacht? Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde der britischen Bevölkerung beispielsweise nahegelegt, Haustiere entweder abzugeben oder zu „zerstören”. Eine direkte Folge war die Tötung von 750.000 Haustieren bereits während der ersten Kriegswoche. Später gab es „Community pet preparedness”-Programme, die den Tieren zwar keinen intrinsischen Wert, aber eine Relevanz für die psychische Gesundheit von Menschen zugestehen und sie dadurch, unter dem Slogan „Take your Pet with You”, zu einem erhaltenswerten Teil von Evakuierungsplänen machen. Adey zeichnete nach, wie Evakuierungskonzepte entstehen und welche Bandbreite sie abdecken: von Anleitungen, wie ein Haustier „human” „zerstört” werden kann, über Zoos, die vorsehen, eine große Zahl ihrer Tiere im Katastrophenfall verenden zu lassen, bis hin zur Frage, wer zuerst behandelt wird, u.a. im Beispiel des New Orleans Memorial Hospital während der Überschwemmungen nach Hurricane Katrina.

KAMRAN SAFI (Radolfzell) berichtete in der zweiten Keynote von seiner Forschung am Max-Planck-Institut für Ornithologie. Die Untersuchungen der tierlichen Bewegungsdaten dienen den BiologInnen als Grundlage dafür, das Verhalten von Tieren besser zu verstehen und darauf aufbauend neue Erkenntnisse über evolutionäre und artenspezifische Zusammenhänge zu gewinnen. Safi betrachtete „Bewegung“ dabei als omnipräsenten biologischen Prozess: Leben ist Bewegung, und wer sich bewegt, lebt. Bewegung erscheint dabei nicht nur als biologisches Faktum, sondern als lebensnotwendiges Potential. Nicht mobil zu sein bzw. sein zu können, bedeutet für viele Arten den sicheren Tod und macht die Frage nach den Bewegungsmöglichkeiten von Tieren zu einem Problem der Biodiversität. Als Beispiel dafür, wie eng Im/mobilität mit (Über-)Leben und Tod verbunden ist, präsentierte er eine Simulation auf der Basis von Bewegungsdaten von Störchen, die, je nachdem, wie effizient sie sich durch Thermik bewegen, eine höhere oder verminderte Chance haben, die Migration zu überleben. Safi betonte, dass die Untersuchung tierlicher Wanderungen einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie wir Natur und unseren Umgang mit der Welt wahrnehmen und gestalten.

In der dritten Keynote stellte BIRGIT NEUMANN (Düsseldorf) Mobilitätsformen in und von Weltliteratur vor. Die grundlegende Frage des Vortrags lautete, worin die Privilegien bestehen, die die Mobilität von Literatur bedingen. Wer darf schreiben, wer darf lesen, wer wird übersetzt, und wer darf wohin reisen und Texte verbreiten? Laut Neumann ist es essentiell, die auch heute noch oft an westlichen Kulturen orientierten Vorrechte zu überwinden und den globalen Literaturmarkt heterogener zu gestalten. Weltliteratur kann dazu beitragen, literarische Monokulturen zu verhindern, und stellt dadurch einen entscheidenden Bestandteil jeder Kultur sowie der zunehmend vernetzten Welt dar.

Da es im Rahmen der Winter School auch immer wieder um die Frage ging, wie Wissen selbst mobil werden und wie und wo es zirkulieren kann, gab es jenseits der Keynotes und Workshops ein umfangreiches Rahmenprogramm, das universitäre Räume umgestaltete oder verließ. Teil des Rahmenprogramms war die Ausstellung „Living Room” von SUSANNE SCHMITT (München), bestehend aus einem Audiowalk, der in einem zum Ausstellungsraum mit Tierpräparaten umgestalteten Seminarraum der Würzburger Philosophischen Fakultät stattfand. Der Audiowalk entstammt Schmitts Projekt „How to not be a stuffed animal”, in Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Laurie Young und unterstützt von der Kulturwissenschaftlerin Anna Lipphardt. Er kann in jedem beliebigen Naturhistorischen Museum stattfinden, wo er sensibilisiert, alternative Narrative anbietet und es ermöglicht, sich dem Ausgestellten und den damit verbundenen Bedeutungen anzunähern und über die inszenierte Mobilität und gleichzeitige Immobilität der präparierten Tierkörper nachzudenken.

Einen weiteren Impuls zum Nachdenken über Konfigurationen der Mobilität setzte der Ausflug zum CampusGarten, geführt von dem Geologen PASCAL BUNK (Würzburg). Der Garten, der auf einer zuvor zugewachsenen Fläche angelegt wurde und als Projekt auf Zeit von Anfang an ein künftiges Weiterwandern antizipiert, bringt Bewegung in die Zusammensetzung der lokalen Flora und Fauna. Pascal Bunk hob insbesondere auf den Anteil nicht-menschlicher AkteurInnen an der transformativen Gestaltung von gemeinsamen (Lebens-)Räumen ab.

Im Würzburger Kino Central wurde zudem eine Vorstellung des Films „Transit” (2018) von Christian Petzold (Berlin) organisiert. Der frei auf Anna Seghers‘ gleichnamigem Roman basierende Spielfilm thematisiert erzwungene und verhinderte Mobilität(en), Modi des Wartens, Bleibens, Flüchtens und Migirierens. Die Themenkomplexe des Films ergaben spannende Synergie-Effekte mit den in der Winter School erarbeiteten Texten zu Migration, Grenzregimen, Regulierung von Mobilität(en), erzwungenem Stillstand und Hypermobilisierung.

In der Würzburger Stadtbibliothek fand die öffentliche Lesung von MARICA BODROŽIĆ (Berlin) statt, die Auszüge aus ihrem Essay Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe und aus ihrem Roman Das Wasser unserer Träume vorstellte. Zwischen und nach der Lektüre nahm die Autorin sich Zeit, zunächst im Dialog mit der Moderatorin Frederike Middelhoff und dann im Plenum, die Einflüsse auf das Schreiben sowie wiederkehrende Motive ihrer Texte zu reflektieren. Dabei spiegelte sich ihre eigene Mobilität (ihre deutsch-kroatische Biographie und ihre zahlreichen Reise- und Spracherfahrungen) in der wiederkehrenden Wasser- sowie den astralen Metaphern ihrer Texte wider.

Der Abschlussworkshop diente dazu, die drei Themenbereiche zusammenzuführen und im großen Plenum die Möglichkeit für Fragen und Anregungen zu geben. Dazu fassten die Teilnehmenden aller Workshops ihre Arbeitsergebnisse der vergangenen Tage zusammen. Die Gruppe, die sich mit „Transgression“ auseinandergesetzt hatte, veranschaulichte anhand des Videos Inside the Tiger (SAGSI-Group 2014) die Grenzüberschreitung vom Menschlichen zum Tierlichen. Währenddessen wurden diejenigen Fragen im Raum performativ in Bewegung gebracht, mit denen sich das Seminar beschäftigte hatte: Was ist Transgression? Wer setzt Grenzen fest und wer überschreitet sie? Was sind Grenzen, ist Grenzüberschreitung per se transgressiv, und was bedeutet das im Bezug auf Mobilität(en)? Die Teilnehmenden des Workshops „Transition” wählten eine interaktive Abschlusspräsentation und bewegten sich mit allen Teilnehmenden sowie Organisierenden der Winter School durch den Raum, wobei nach Anleitung verschiedene Bewegungsformen und Interaktionsmuster erprobt wurden. Zuletzt gaben die Teilnehmenden des Workshops „Transformation” einen Überblick über die vorgestellten Forschungsprojekte und betrachteten den Form- und Transformationsbegriff aus einer literaturtheoretischen Perspektive. Nach jeder der drei Präsentationen hatten die übrigen Teilnehmenden die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen, sich auszutauschen und Anregungen für weitere gemeinsame Projekte zu diskutieren.

Durch ihren transdisziplinären Ansatz, das inspirierende Rahmenprogramm, den intensiven Austausch in Kleingruppen sowie im Plenum bot die Winter School Raum für Austausch, das Erproben theoretischer und praktischer Annäherungen an gemeinsame und individuelle Fragestellungen mit Handwerkszeug aus ganz verschiedenen Theorie- und Fachkontexten. Die oft beschworene, aber selten praktizierte Transdisziplinarität konnte in diesem experimentierfreundlichen, konstruktiven Umfeld ausprobiert und ausgelotet werden. Mobilität, in ihrer Abgrenzung zu Bewegung, erwies sich als produktives, aber auch wirkmächtiges Konzept zur Aushandlung von Transitions-, Transformations- und Transgressionsprozessen. Besonders die Frage nach den möglichen Subjekten ebenjener Vorgänge birgt Potenzial zum Weiterdenken und -diskutieren über Fächer- und Mediengrenzen hinweg – ob nun intersektional oder multispezifisch. Teilnehmende und Organisierende wünschen sich weiterführenden Austausch und neue Projekte, in denen sowohl theoretisch weitergedacht als auch praktisch gearbeitet werden kann. Gemeinsame Veranstaltungen sind geplant; das Thema „More-than-Human Mobilities” wird ausgebaut.

Konferenzübersicht:

PETER ADEY (London): Evacuation Mobilities

KAMRAN SAFI (Radolfzell): From Animal Movement to Understanding Animal Behaviour and its Consequences for our Perception of the Natural World

BIRGIT NEUMANN (Düsseldorf): Histories of Entanglement: Mobility of and in World Literatures

SUSANNE SCHMITT (München): Living Room

PASCAL BUNK (Würzburg): CampusGarten

MARICA BODROŽIĆ (Berlin): Lesung aus Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe und Das Wasser unserer Träume