Theorize this! – 2. digitale Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte

Theorize this! – 2. digitale Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte

Organisatoren
Sebastian Bischoff, Universität Paderborn; Maria Bormuth, Berlin; Julia König, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Dagmar Lieske, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin; Anna Schiff, Ruhr-Universität Bochum; Jelena Tomović, Universität Potsdam; Friederike Nastold, TOYTOYTOY, Mainz
Ort
digital (Mainz)
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.04.2021 - 24.04.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Hannes Hacke, Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität, Humboldt-Universität zu Berlin

Theorize this! Die Aufforderung im Titel der Tagung brachte den Wunsch nach einer stärkeren Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen in Forschungen zu (historischen) Sexualitäten auf den Punkt. Es war das erklärte Ziel, den Austausch über die unterschiedlichen methodischen und theoretischen Zugänge von Forscher:innen im Arbeitskreis zu vertiefen.

Diesem gewünschten Fokus trug gleich zu Beginn CHRISTINE KIRCHHOFF (Berlin) mit ihrer Keynote über die theoretischen Fundamente der Psychoanalyse Rechnung. Sie gab eine Einführung in die psychoanalytische Konzeption des Sexuellen als Psychosexualität und unterstrich vor allem die Bedeutung des Unbewussten und der Nachträglichkeit. Sie führte aus, dass der menschlichen Sexualität ein grundlegender Mangel innewohne, der durch den Urkonflikt der Ich-Triebe mit der Realität bedingt sei, die die Ich-Triebe dazu zwingen würde, auf unmittelbare Befriedigung zu verzichten, während sie weiter nach Befriedigung drängen.

Nach einer lebhaften Diskussion ging es im ersten Panel um konkrete erkenntnistheoretische Ansätze zur Erforschung von Sexualität in der Geschichte. JULIA KÖNIG (Mainz) legte einen Entwurf für eine kritische Theorie der kindlichen Sexualität dar. Sie hob Foucaults Geschichte der Gegenwart als einen produktiven Ansatz für die Erforschung von Sexualitäten hervor, schränkte aber ein, dass sein Fokus auf die „Pädagogisierung des kindlichen Sexes“ nur bestimmte Phänomene erfasse und zu erweitern sei. Denn Foucault habe nur die spezifische und strategische Funktion des Phänomens kindlicher Sexualität innerhalb bestimmter Diskurse – als eines von vier strategischen Komplexen des Sexualitätsdispositives – in den Blick genommen, es sei aber auch wichtig zu analysieren, wie kindliche Sexualität in unterschiedlichen historischen Konstellationen verfasst war. Mit Rückgriff auf Adorno machte König sich für einen „Vorrang des Objektes“ in der historischen Analyse von Sexualität stark und für eine historisch-systematische Herangehensweise, die durch eine Analyse der begrifflichen Bestimmungen etwas von der Sache selbst aufzuspüren versucht.

ELISA HEINRICH (Wien) beschäftigte sich mit der Frage, wie die engen Beziehungen zwischen Frauen in der deutschsprachigen Frauenbewegung um 1900, die sich heutigen Definitionen als eindeutig sexuell, freundschaftlich, politisch oder beruflich entzögen, terminologisch zu fassen seien. Meist fehlten explizite Quellen, die Aufschluss darüber geben könnten, ob es sich um sexuelle oder Liebesbeziehungen handelte. Nach einem Überblick über relevante Konzepte in der Geschichtswissenschaft – romantische Freundschaften, lesbische Beziehungen, Homosozialität – schlug Heinrich den Begriff der Intimität vor, um diese Beziehungen zu fassen. Er böte die Möglichkeit, einerseits von der Fixierung auf eine sexuelle Praxis wegzukommen und unterschiedliche Varianten an Beziehungen und sozialen Verhältnissen zu erfassen, anderseits aber auch Machtverhältnisse und Hierarchien zwischen den Frauen in den Blick zu bekommen.

Die Frage nach der Übereinstimmung von Begriffen in Quellen mit heutigen Begriffen und die Tatsache, dass in Quellen Sexualität meist nicht explizit benannt wird, war auch Thema von JELENA TOMOVIĆ (Potsdam), die in ihrer Dissertation die Verhandlung der Tatbestände Unzucht, Notzucht, Schwangerschaft, Ehebruch und Sodomie in Gerichtsakten des 18. und 19 Jahrhunderts untersucht. Sie plädierte für eine präzise Trennung von Forschungsbegriffen und Quellenbegriffen und für eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf Sexualität. Angesichts der oftmals impliziten Normen und der Nichtbenennung von Sexualität in den Quellen sei es wichtig, den Analysefokus nicht so sehr auf das was, sondern darauf zu legen, wie etwas geäußert bzw. festgehalten wurde. Da in den von ihr ausgewerteten Gerichtsakten meist nur indirekt über Sexualität gesprochen und dies vor allem argumentativ eingesetzt werde, kombinierte sie die Analyse der Gerichtsakten mit einer Analyse zeitgenössischer Literatur, um einen anderen Zugang zu Sexualitätsvorstellungen und -normen der Zeit zu bekommen.

Auch PAUL HORNTRICH (WIEN) erläuterte, dass er in seiner Dissertation auf ganz unterschiedliche Quellen wie Zeitschriften, Zeitungen, politische Debattenbeiträge, Parlamentsdebatten, Gerichtsakten, Film und Fotografie zurückgreift, um eine multiperspektivische Rekonstruktion des Phänomens Pornografie in Österreich zu leisten. Er kombiniert Methoden der historischen Diskursanalyse mit Ansätzen der Film- und Bildanalyse aus den Porn Studies, um sowohl Produktion, Distribution, die unterschiedlichen Verständnisse von Pornografie wie auch das pornografische Material selbst zu analysieren. In seinem Beitrag stellte er eine Fallstudie über den Film „Die Sünderin“ von 1951 vor und arbeitete heraus, welche Rolle der Begriff „Pornografie“ im Kulturkampf über Geschlechternormen in der Nachkriegszeit gespielt hat.

ANDREA ROTTMANN (Berlin) unterstrich die Bedeutung von sexuell-geschlechtlichen Subjektivitäten für die historische Forschung zu Sexualitäten und plädierte dafür, das Begriffspaar butch/fem, das sowohl geschlechtliches Auftreten wie auch sexuelle Rollen bezeichnet, als produktive Analysebegriffe auch für deutsche Kontexte anzuwenden. Anhand einer Gefangenenakte und den darin enthaltenen Spuren selbstermächtigender Praktiken eines/einer Gefangenen zeigte sie die Verwobenheit und Ko-Konstituierung von sexueller und geschlechtlicher Identität im Gefängnis auf. Durch Kleidungswahl, Selbstinszenierung und -bezeichnung, sexuelle und amouröse Beziehungen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses und das Zirkulieren von Fotografien konstituiere sich eine Identität weiblicher Männlichkeit, die gegen Restriktionen der Gefängnisordnung gelebt wurde. Rottmann wies auf das unausgereizte Potential von Gefängnisakten als Quelle für die Erforschung von lesbischen und queeren Subjektivitäten aus der Arbeiterklasse hin, die den bisherigen Fokus auf Personen, die nach §175 verfolgt wurden, erweitern können.

Im letzten Panel ging es weniger um theoretische und methodische Ansätze, sondern um die Herausforderungen bei der Darstellung von Sexualitätsgeschichte im Museum. ANINA FALASCA (Dresden) stellte das Konzept für eine neue Abteilung über Sexualität in der Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums vor, die sie ko-kuratiert hatte. Sie stellte heraus, welche Sprengkraft das Thema Sexualität im Museumsbereich immer noch habe, und dass es immer noch von vielen Ängsten begleitet sei. Überzeugend legte sie Strategien zum Umgang mit einer heteronormativ geprägten Sammlung bei gleichzeitigem Anspruch auf eine vielfältige und normkritische Darstellung von Sexualität dar. Sie betonte, dass sich vor allem die Kooperation mit Fokusgruppen aus der Dresdener Stadtgesellschaft und die enge Zusammenarbeit mit der Abteilung Bildung und Vermittlung als sehr hilfreich und bereichernd erwiesen hätten.

BIRGIT BOSOLD (Berlin) gab einen Überblick über die historische Entwicklung des ambivalenten und teilweise problematischen Verhältnisses der deutschen Schwulenbewegung zur Frage der Pädosexualität und pädosexuellen Akteuren und stellte die Idee für eine Sonderausstellung zu diesem Thema vor. Während viele Teilnehmende dies begrüßten, wurden mehrfach auch die problematischen Effekte betont, die sich durch eine Verengung des Themas auf das Verhältnis von Schwulen und Pädosexuellen ergeben; dies könne die homofeindliche Gleichsetzung von beiden bestärken. Bosold sah ebenfalls die Notwendigkeit einer umfassenderen kritischen Darstellung des Themas Pädosexualität, hob aber die Schwierigkeit hervor, für ein solches Thema Partner:innen und Finanzierung zu finden.

Insgesamt zeigte die Tagung eine vielfältige interdisziplinäre Forschungslandschaft, in der unterschiedlichste Themen mit Bezug zu Sexualität erforscht werden. Dass die Vorträge schon zuvor online verfügbar waren, erwies sich als großer Gewinn, da es möglich war, sie zu einem selbstgewählten Zeitpunkt vorab anzuschauen. So blieb auf der Tagung mehr Zeit für die Diskussion der Beiträge.

Ein Thema, dass sich durch viele Beiträge zog, war die Problematisierung des Verhältnisses von Gegenstand und (Forschungs-)Begriff und die Einordnung von Quellenbegriffen. Viele Beiträge zeigten zudem (wenn auch nicht immer explizit) die intersektionale Verschränkung von Sexualität mit anderen Differenzen wie Geschlecht und Klasse auf. Hier stach vor allem Julia Königs Beitrag heraus, die die Spezifik von Diskursen über kindliche Sexualität betonte und Generationendifferenz als eine spezifische Differenzlinie neben sexuality, race, class und gender positionierte.

Auffällig war, dass kein Tagungsbeitrag einen expliziten Bezug zum Thema der Keynote – der Psychoanalyse – herstellte. So blieb sie ein einsamer Input in einem Forschungsfeld, das scheinbar von dekonstruktivistischen, diskursanalytischen und praxeologischen Ansätzen dominiert ist. Der Vortrag von Christine Kirchhoff führte jedoch zumindest kurzfristig zu einer tieferen Diskussion über erkenntnistheoretische Fragen und den Status von Sexualität. Während einige Teilnehmende die Zentralität des „Königs Sex“ hinterfragten und argumentierten, dass es produktiver sei, Sexualität als eine Praktik unter vielen zu begreifen, argumentierten andere, dass Sexualität kein Thema wie jedes anderes sei, da die Forschung zu Sexualitäten in der Geschichte immer auch eine (unbewusste) Beschäftigung mit der eigenen Sexualität sei. Es wurde jedoch nicht wirklich klar, welche methodischen und theoretischen Perspektiven die Psychoanalyse über die Reflexion der eigenen sexuellen Geschichte und Positionierung hinaus für eine historische Analyse von Sexualitäten zu bieten hat.

Zudem blieb dieser vertiefte Austausch über unterschiedliche theoretische Ansätze leider ein Einzelfall, was jedoch nicht den Vorträgen anzulasten, sondern eher der Struktur der Tagung geschuldet war. Es bedarf eventuell anderer Formate als Panelvorträge zu einzelnen Themen, wenn die Diskussion und der Austausch noch stärker auf theoretische und methodologische Ansätze zur Erforschung von Sexualitäten in der Geschichte fokussiert werden soll.
Eine Stärke der Tagung war ihre interdisziplinäre und inter-institutionelle Ausrichtung. Diese gilt es auszubauen, auch angesichts der andauernden Marginalisierung des Themas Sexualität in den Geschichtswissenschaften. Es ist zu hoffen, dass der Arbeitskreis Sexualitäten in der Geschichte zu einer stärkeren Wahrnehmung der Relevanz und Vielfältigkeit des Themas weiter beitragen kann.

Konferenzübersicht:

Moderation: Sebastian Bischoff (Paderborn), Julia König (Mainz), Dagmar Lieske (Berlin)

Keynote

Christine Kirchhoff (Berlin): Was hat die Geschichte mit der Sexualität zu tun?

Panel I: Intimität, innige Praktiken und der Vorrang des Objekts – neue erkenntnistheoretische Perspektiven in der historischen Sexualforschung

Julia König (Mainz): Zum Vorrang des Objekts in historischer Forschung zu (kindlicher) Sexualität

Jelena Tomović (Potsdam): Innige Praktiken sozialer Kommunikation 1700-1850 – ein „sexual turn"?

Elisa Heinrich (Wien): Intimität schreiben. Zur Historiografie von Beziehungen in Frauenbewegungen um 1900

Panel II: Legitime Sexualitäten: Porno-Boom und Inzest

Julia Reus (Bochum): „In sittlicher Beziehung verdorben“ oder ein „Zustand der Bewusstseinsstörung“? Inzestdiskurse in der jungen Bundesrepublik Deutschland 

Paul Horntrich (Wien): Pornographie in Österreich: Mediale Diskussionen und rechtliche Regulierung in den frühen 1950er Jahren am Beispiel des Films „Die Sünderin"

Moderation: Friederike Nastold (Mainz), Anna Schiff (Bochum), Jelena Tomović (Potsdam)

Panel III: Transitionen, Zuweisungen und Aneignungen im Feld von Sexualitäten und Geschlecht

Jamal Herdzik (Freiburg): Transgender im modernen Iran

Andrea Rottmann (Berlin): „Lesbierin“, Butch oder Transgender? Queere Subjektivitäten in einer West-Berliner Gefangenenakte aus den 1960er-Jahren  

Lecture Performance

Vera Piechulla (Berlin): Ich verfluche Dich Descartes, denn Du hast mir mal das Leben versaut – ein anatomisches Theater in drei Akten

Panel IV: Objekte im (historischen) Kontext: Darstellbarkeiten und Positionierungen

Anina Falasca (Dresden): Sexualitäten ausstellen: Neukonzeption des Raumes 4 der Dauerausstellung „Abenteuer Mensch“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden 

Birgit Bosold (Berlin): Pädokomplex. Die Sexualisierung von Gewalt und die Gewalt der Sexualisierung. Schwule, Lesben und die „Pädo-Frage" – Ausstellungskonzept