HT 2021: Behinderung im späten Staatssozialismus. Alltagsgeschichte von behinderten Menschen in osteuropäischen Gesellschaften

HT 2021: Behinderung im späten Staatssozialismus. Alltagsgeschichte von behinderten Menschen in osteuropäischen Gesellschaften

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Jan-Christian Wilkening, Abteilung Didaktik der Geschichte, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)

Die Fachsektion „Behinderung im späten Staatssozialismus. Alltagsgeschichte von behinderten Menschen in osteuropäischen Gesellschaften“ wurde moderiert und eingeleitet von GABRIELE LINGELBACH (Kiel), umfasste drei verschiedene Vorträge und einen Kommentar zum Abschluss der Präsentationen, sowie im letzten Abschnitt des Programms eine Diskussion mit dem Plenum über die Forschungsergebnisse.

Im ersten Vortrag der Fachsektion thematisierte CLAIRE SHAW (Warwick) die Deaf Culture gehörloser Menschen in der späten Sowjetunion. Shaw konzentrierte sich dabei vor allem auf die Darstellung des Spannungsverhältnisses von Inklusion und Exklusion, die das Leben der sowjetischen Deaf Community maßgeblich bestimmte: So sei mittels der Errichtung von behindertengerechten Bauten, wie zum Beispiel spezifischen Fabriken, Wohngelegenheiten und Clubs, die Integration von gehörlosen sowjetischen Bürger:innen gezielt durch den Staat in Folge legislativer Bestrebungen in den 1950er- und 1960er-Jahren gefördert worden. Nach Shaws Verständnis wurden diese Deaf Spaces von der Gehörlosencommunity sowohl als Symbole für die Beendigung ihrer bisherigen Marginalisierung als auch Beginn einer aktiveren politischen Teilnahme interpretiert, die sie zu vollwertigen Mitgliedern der sowjetischen Gesellschaft werden ließe. Doch obgleich die Deaf Community selbst das behindertengerechte Bauen als Fortschritt verstanden habe, hätten die Deaf Spaces zeitgleich dafür gesorgt, dass das Phänomen Gehörlosigkeit nun auch für die nicht-gehörlose Gesellschaft sichtbarer und ab den 1960er-Jahren zunehmend als Abweichung von der propagierten sowjetischen Norm begriffen wurde. In einer Gesellschaft, die großen Wert auf ideologische und kulturelle Konformität legte, repräsentierte das behindertengerechte Bauen für die Gehörlosencommunity in der Sowjetunion folglich eine klare Trennung zwischen der hörenden und nicht-hörenden Gesellschaft. Der Auf- und Ausbau von Deaf Spaces in der späten Sowjetunion könne somit sowohl als identitätsformend und -stärkend für die Gemeinschaft der gehörlosen sowjetischen Bürger:innen verstanden als auch als Anstoßpunkt für Kritik der hörenden Gesellschaft am Status der behinderten Mitmenschen begriffen werden, so das Fazit von Shaw.

Im anschließenden Vortrag setzte sich PIA SCHMÜSER (Kiel) mit den Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der DDR auseinander. Sie eruierte, inwiefern der Alltag von behinderten Menschen und ihren Familien durch die Faktoren Arbeit, Rehabilitation, Teilhabebarrieren und staatliche Fürsorge bestimmt wurde. Dafür untergliederte sie ihren Vortrag in drei Abschnitte: Zunächst ging Schmüser auf den Selbstanspruch der staatlichen Führung der DDR ein, die sich dem sozialistischen Idealbild entsprechend dem Ziel verschrieben hatte, für alle ihre Bürger:innen – unabhängig von potenziellen Behinderungsformen – zu sorgen. Darauf aufbauend erklärte sie, wie die DDR trotz wachsender Bemühungen in den 1970er-Jahren dem eigenen Verständnis aufgrund fehlender Bau- und Betreuungsmaßnahmen realpolitisch hinterherhinkte und dadurch vor allem die Lebenslagen von Menschen mit geistigen Behinderungen negativ beeinflusste. In diesem Zusammenhang verwies Schmüser auf die Widersprüchlichkeit der Deutung von Behinderung in der DDR: Während die staatliche Führung den Umgang mit behinderten Menschen als ein erfolgreiches staatliches Rehabilitations- und Integrationsprojekt verstand, fanden Betroffene und ihre Familien ein System vor, das nur ungenügende Rehabilitations- und Unterstützungsmaßnahmen bereitstellte, um Menschen mit Behinderungen in der DDR hinreichend zu helfen. Dass dieser Widerspruch durchaus als ein solcher von den betroffenen Familien wahrgenommen und als Argument angeführt wurde, um die eigenen Interessen durchzusetzen, skizzierte Schmüser im letzten Abschnitt des Vortrags anhand des Beispiels der Thematisierung der Arbeits(un-)fähigkeit in staatlichen Eingaben. So beschrieben beispielsweise Mütter die Unvereinbarkeit von Arbeitstätigkeit und Betreuung ihrer behinderten Kinder, um einen Platz in den verfügbaren Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu bekommen, und forderten auf diesem Wege vom Staat das Einlösen des Versprechens der Fürsorge gegenüber den Bürger:innen ein.

Auch der letzte Vortrag der Sektion thematisierte den Widerspruch zwischen staatlicher Programmatik und Lebenswirklichkeit, der das Leben von Menschen mit Behinderungen in der DDR maßgeblich beeinflusste. ULRIKE WINKLER (München) fokussierte sich in diesem Zusammenhang auf die Wohn- und Mobilitätssituation behinderter Menschen, die sie den Zuhörer:innen anhand von drei architektonischen Beispielen in den Städten Halle an der Saale, Karl-Marx-Stadt und Greifswald illustrierte. Winkler vertrat die These, dass die drei Beispiele sinnbildlich für den unterschiedlichen Umgang mit Menschen mit körperlichen und Sinnesbehinderungen in der DDR stehen: Beispielsweise ließe sich in Halle durch den Bau eines Boulevards für Fußgänger zwar einerseits das staatliche Bemühen erkennen, Menschen mit Gehbehinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mittels der Absenkung von Bordsteinen zu ermöglichen, andererseits aber zeitgleich die entstandenen Einschränkungen für blinde und sehgeschädigte Bürger:innen nachvollziehen, die in Folge des Abbaus baulicher Orientierungspunkte aufgekommen waren. Daran anschließend rekonstruierte Winkler den Fall eines Vaters, der mit Hilfe seiner Kollegen einen Treppensteiger konstruierte, um seinem Sohn ein stückweit die Mobilität wiederzugeben, die er in Folge einer bestehenden Lähmung eingebüßt hatte. Das Beispiel verdeutlichte die Möglichkeiten zur Selbsthilfe, die Bürger:innen mitunter hatten, falls der Staat wie im Fall des gelähmten Sohnes nicht eingreifen konnte bzw. wollte. Das letzte Fallbeispiel des Vortrags beschäftigte sich wiederum mit der Wahrnehmung von Behinderung innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft. Anhand der Diskussion einer Hausgemeinschaft über den Bau bzw. Abriss einer Rollstuhlrampe, der erst durch staatliches Eingreifen geschlichtet wurde, zeigt sich, so die Vortragende, dass nicht alle ostdeutschen Bürger:innen die Integration von behinderten Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden und einige scheinbar Probleme damit hatten, das Thema „Behinderung“ im persönlichen Umfeld sichtbar werden zu lassen. Abschließend betonte Winkler die Singularität der beschriebenen Phänomene, stellte aber auch fest, dass die bisherigen Ergebnisse darauf schließen lassen, dass das von Mary Fulbrook1 skizzierte komplexe moralische und politische Handlungsfeld in der DDR durchaus auch auf die Lebenssituationen von Menschen mit körperlichen und Sinnesbehinderungen zutraf.

Den thematischen Schlusspunkt der Sektion setzte SEBASTIAN BARSCH (Kiel) mit seinem Kommentar zu den Vorträgen. Barsch ging in seinem Beitrag der Frage nach, ob und inwieweit die von Shaw, Schmüser und Winkler vorgestellten Phänomene des Umgangs und der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung in sozialistischen Staaten tatsächlich als spezifische Charakteristika eines sozialistischen Verständnisses von Behinderung gedeutet werden können bzw. müssen. So ließe sich etwa im Kontext der dargestellten Inklusions- und Exklusionsdynamiken der sowjetischen Gehörlosencommunity durchaus eine Parallele zu gehörlosen Menschen in den USA ziehen, die ebenfalls das Spannungsfeld zwischen kultureller Aneignung, erlebter Ausgrenzung und gewünschter Assimilation kritisierten. Doch trotz dieser systemunabhängigen Kritik könne die Identität der Deaf Community der Sowjetunion dennoch als eine spezifisch sowjetische gedeutet werden, da die kollektive Identität des Ideals des sowjetischen Bürgers tatsächlich der subkulturellen Identität an vielen Punkten übergeordnet wurde. Im Zusammenhang der von Schmüser herausgearbeiteten Betonung des Mantras der Arbeitsfähigkeitserhaltung zur Durchsetzung von Unterbringungswünschen behinderter Familienmitglieder verwies Barsch auf einen vergleichbar hohen Stellenwert der Arbeit in der ehemaligen BRD, den der Redner vor allem am Ausbau der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen seit den 1970er-Jahren festmachte. Somit sei im Westen ebenfalls ein Primat der Integration über Arbeitsfähigkeit nachvollziehbar, wodurch das speziell Sozialistische in der Wahrnehmung von behinderten Menschen nur schwer mittels der Hervorhebung der Arbeitsfähigkeit zum Vorschein gebracht werden könnte. Auch die von Winkler geschilderte fehlende Toleranz gegenüber behinderten Mitbürger:innen in der DDR erachtet Barsch als ein kaum für den Sozialismus typisches Spezifikum, zeigten sich doch in der BRD ähnliche gesellschaftliche Tendenzen im Westen Deutschlands. Aufgrund dieser vergleichbaren Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland kam Barsch letztendlich zu dem Schluss, dass die bis dato getätigte historische Forschung noch nicht ausreichend ist, um hinreichende Aussagen über den Bedingungsfaktor „Sozialismus“ für den Alltag und die Identität von Menschen mit Behinderungen treffen zu können.

Barsch beendete seinen Kommentar mit drei Fragen an die Vortragenden, die die abschließende Diskussion der Fachsektion einleiteten. Auf die Frage hin, inwiefern Disability Historians ein noch größeres Augenmerk auf die politischen bzw. nationalen Identitäten von behinderten Menschen legen müssten, erklärte Shaw, dass ein solches Vorgehen durchaus von Vorteil wäre, dabei aber stets die Auslotung des Verhältnisses von disability, impairment und body in der jeweiligen untersuchten Konstellation mitgedacht werden müsste. Schließlich seien körperliche Voraussetzungen unabhängig von Nation oder Staatsform durchaus miteinander vergleichbar, jedoch die Umgangsweise mit jener Körperlichkeit stark von Interpretationen der Gesellschaften bzw. Politik abhängig. Schmüser antwortete auf die Frage, ob bzw. inwieweit der von staatlicher Seite propagierte hohe Stellenwert der Arbeit in der DDR mitunter von Historiker:innen unhinterfragt übernommen wird, dass diese Gefahr zwar bestünde, systemische Spezifika wie das planwirtschaftliche System oder anhaltende wirtschaftliche Defizite aber durchaus existierten. Diese Umstände ließen „Arbeit“ zu dem bestimmenden Thema in den Interaktionen zwischen Gesellschaft und Staat werden, wodurch ihr ein wichtiger Platz in der historischen Erforschung der DDR zukäme. Zudem plädierte Schmüser zum einen dafür, Systemunterschiede im Zusammenhang von Arbeit eher über die theoretisch-diskursive Ebene zu erforschen, beispielsweise über das systemspezifische Framing von Arbeit oder die Konnotationen, die jenem Begriff zugeschrieben werden, und zum anderen generell mehr vergleichende historische Untersuchungen durchzuführen, um das genuin Sozialistische in der Ausgestaltung von Behinderung näher eingrenzen zu können. Winkler nahm zum Abschluss der Beantwortungsrunde Stellung zu der Frage, ob sich eine Art anthropologische Konstante in der Umgangsweise mit behinderten Menschen nachvollziehen ließe, die unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Diskriminierung und Ausgrenzung jener Personengruppe beiträgt. Winkler stimmte insofern zu, als dass sie die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen als eine konstante Verhaltensvariable beschrieb, obgleich sie die konkreten Verhaltensmuster gegenüber der thematisierten Personengruppe als Spektrum versteht, das von diversen Faktoren konstituiert wird.

Abschließend wurden Fragen von Zuhörer:innen beantwortet. Von besonderem Interesse war hierbei der Vortrag von Shaw, der Nachfragen zum Einfluss des Stalinismus auf das Behinderungsverständnis in der Sowjetunion und zu Ausdifferenzierungsmöglichkeiten innerhalb der Deaf Community evozierte. Shaw gab in diesem Zusammenhang einen kurzen Überblick über das breite Feld der Interpretationen von Behinderung zur Zeit des Stalinismus, das von Ausgrenzung bis Stärkung der Identität von behinderten Bürger:innen reichte und erklärte bezüglich der Dynamiken innerhalb der Gehörlosencommunity, dass es insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu Abgrenzungsversuchen von Seiten der Veteranen gekommen sei, die sich weit weniger über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gehörlosen definieren wollten als dies von staatlicher Seite angedacht gewesen sei. Im Kontext der beiden Vorträge über Menschen mit Behinderungen in der DDR wurde von Seiten des Plenums gefragt, inwiefern die thematisierte Kritik über die ostdeutsche Behindertenhilfe als Ausdruck einer generellen Systemkritik verstanden werden könne. Schmüser und Winkler betonten in ihren Reaktionen beide, dass kaum von einer systematischen Kritik an der Staatsführung der DDR, sehr wohl aber von einer Politisierung der Behindertenhilfe durch Betroffene gesprochen werden kann.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Fachsektion anhand mehrerer Beispiele die In- und Exklusionsdynamiken verdeutlichen konnte, die das Leben von behinderten Menschen in der Sowjetunion und DDR bestimmte. Im Zuge weiterer Forschung gilt es jedoch zu klären, ob und inwieweit diese skizzierten Lebensumstände als ein Spezifikum sozialistischer Staaten interpretiert werden können.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sebastian Barsch (Kiel), Gabriele Lingelbach (Kiel), Claire Shaw (Warwick)

Gabriele Lingelbach: Begrüßung

Claire Shaw: Making Space(s) for the ‘People of Silence’: Deaf Culture and Everyday Life in Late Soviet Socialism

Pia Schmüser (Kiel): Familien mit behinderten Angehörigen in der DDR zwischen Arbeitsalltag, Rehabilitation, staatlicher Fürsorge und Teilhabebarrieren

Ulrike Winkler (München): Für „Unsere Menschen“!? Mobilität und Wohnen im Alltag von Menschen mit Behinderungen in der DDR

Sebastian Barsch: Kommentar

Diskussion

Anmerkung:
1 Winkler bezog sich auf folgendes Werk: Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008, S. 29.


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