Sequence Analysis in Linguistics and Social Theory

Sequence Analysis in Linguistics and Social Theory

Organisatoren
Clemens Knobloch / Christian Meyer / Andrea Ploder / Erhard Schüttpelz, Teilprojekt P02 „Medien der Praxeologie II: Zur Methodologiegeschichte der AV-Sequenzanalyse“ im SFB 1187 „Medien der Kooperation“; Teilprojekt P01 „Medien der Praxeologie I: Die ,Discovery Procedures‘ der Science and Technology Studies“ (Projektleitung: Tristan Thielmann, Anne Rawls, Michael Lynch); Teilprojekt B06 „Un/erbetene Beobachtung in Interaktion: ,Intelligente Persönliche Assistenten‘ (IPA)“ (Projektleitung: Stephan Habscheid und Dagmar Hoffmann)
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2021 - 30.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Christine Hrncal / Tim Moritz Hector, Germanistisches Seminar, SFB 1187 „Medien der Kooperation“ (TP B06), Universität Siegen

Die Beiträge der Online-Tagung diskutierten das Zusammenspiel von Ideen, Praktiken und Infrastrukturen in der Geschichte und aktuellen Nutzung sequenzanalytischer Zugänge in der Linguistik und Sozialtheorie.

SUSANNE GÜNTHNER (Münster) widmete sich verschiedenen Aspekten sequenzieller Praktiken der Personenreferenz und Ausprägungen interaktiver Dynamiken in deutschen und chinesischen Chat-Interaktionen. Auf der Basis medial-vermittelter Interaktionen, in denen chinesisch- wie auch deutschsprachige Teilnehmer:innen immer wieder auf nominale Selbst- und Fremdreferenzen zur Konstruktion eines translokalen „wir“ zurückgreifen, um so gemeinsame Familien- bzw. Paaridentitäten zu konstituieren, zeigte Günthner, wie Sequenzialität die Konstitution von Beziehungsformationen und Interaktionsmodalitäten in sprachlich distanten Kommunikationskulturen sowie in der medial vermittelten translokalen schriftlichen Kommunikation prägt. Sie ging den Fragen nach, wie sich die zeitliche Dynamik der Dialogzug-Abfolge in den Chats bemerkbar macht, welche Konsequenzen diese für das Handeln hat, wie Interagierende in der räumlich und zeitlich distanten Chat-Kommunikation sequenzielle Erwartungen an Folgereaktionen des virtuellen Gegenübers aufbauen und inwiefern sich Kollaborationen sequenziell organisiert abzeichnen. Dabei nahm sie die Schnittstelle zwischen universellen Prinzipien zwischenmenschlicher Kommunikation und kultur- und sprachspezifischen Ausprägungen in den Blick. Günthner stellte heraus, dass auch medial vermittelte Chat-Kommunikation von sequenziellen Prinzipien und Abläufen geprägt ist und dass die Sequenzialität in dieser Kommunikation auch für die kollaborativ organisierte Abstimmung von stances (Interaktionsmodalitäten) sowie die kontingente Aushandlung von Beziehungsformationen verantwortlich ist, die oft nur lateral mit den Handlungen verbunden sind.

Anschließend wurde diskutiert, ob in den untersuchten Chats Fremdreferenzen auf (abwesende) dritte Personen auftreten, die Auskunft über Beziehungsformationen der Beteiligten geben können. Außerdem wurde gefragt, über wie viele Züge sich die Aushandlung der Beziehung der Beteiligten untereinander typischerweise erstreckt, inwiefern die Sequenzialität Einfluss auf die Klärung sozialtheoretischer Terminologie (action, activity, practice) hat und ob der Gesprächs- bzw. Interaktionsbegriff ohne weiteres auf die Chat- bzw. Messenger-Kommunikation übertragen werden kann.

HUBERT KNOBLAUCH (Berlin) skizzierte allgemeine Spezifika der action sequence als Grundelement der Sozialtheorie. Hintergrund der vorgeschlagenen Ausarbeitung der action sequence ist, dass die hermeneutische Sequenzanalyse und ethnomethodologische Gesprächsanalyse als fruchtbare Methoden zum Verständnis der Mechanismen menschlicher Kommunikationsprozesse in realen Handlungskontexten theoretische Voraussetzungen implizieren, die bisher nur ansatzweise herausgearbeitet wurden. Knoblauch setzt action sequences als den zentralen empirischen Ausgangspunkt für ein Verständnis der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit. Unter Rückbezug auf Schütz und Weber sowie insbesondere Habermas und Luhmann zeigte er zunächst, wie Sequenzialität in der Sozialtheorie gerahmt wurde. Diese Ansätze ergänzte er um theoretische Einsichten, die zu einer „open theory of sequences“ führen. Am Beispiel des Zeigens skizzierte Knoblauch, wie – in diesem Fall per Kamera vermittelte – actions die Art der jeweiligen action transformieren. Neben der zeitlichen Struktur sollte der räumlichen Dimension ein erhöhter Stellenwert beigemessen werden. Intentionalitätstheorien greifen bei der Betrachtung der materiellen Umwelt zu kurz. Knoblauch schloss mit dem Hinweis, dass Sequenzialität nahezu zwangsläufig den Blick auf die räumliche Dimension erfordert, gleichzeitig aber auch zeigt, dass die räumliche und zeitliche Dimension unterschiedlichen Analysemustern folgen.

Im Fokus der anschließenden Diskussion standen Konzeptualisierungen verschiedener Aspekte wie Raum, Erfahrung, action, Intentionalität und Objektivierung. Außerdem wurde die Frage nach Unterschieden in der Sequenzialitäts-Debatte in Sozialtheorie und Linguistik erörtert, die u.a. den Ein- oder Ausschluss eines Konzepts von Intentionalität ausmachen. Knoblauch wies zudem darauf hin, dass es der Linguistik an handlungstheoretischer Fundierung fehle.

ANTONIA KRUMMHEUER (Aalborg) blickte auf die Rolle der Sequenzanalyse im Kontext der Erforschung von (situierter) Mensch-Computer-Interaktion (HCI), die sie an Beispielen aus ihren eigenen Forschungsarbeiten skizzierte. Seit Suchmans prominenter Studie „Plans and situated actions“ von 1987 haben mehrere Studien gezeigt, wie Konversationsanalyse (CA) die Mensch-Computer-Interaktion auf einer sehr konkreten interaktionalen Ebene bereichern kann. Obwohl die Konversationsanalyse in der Mensch-Computer-Interaktion nach wie vor wenig als Untersuchungsansatz herangezogen wird, kann sie heute dennoch als fruchtbarer Ansatz des Forschungsfeldes identifiziert werden und von der Analyse der Interaktion mit digitalen bzw. robotischen „Konversationspartnern“ profitieren. Krummheuer ging den Fragen nach, wie die Technologie-Affordanzen für die Interaktion verstanden werden können, wie und mit welchen Folgen die Technologie in der laufenden Interaktion eingesetzt wird sowie auf welche Art und Weise die Methoden der Beteiligten („member’s methods of doing x“) das Design der Systeme inspirieren können. Anhand der von ihr untersuchten Daten zeigte Krummheuer, dass die hybride Interaktion mit einem computergestützten Gesprächspartner Episoden von „Quasi-Konversation“ oder „künstlicher Interaktion“, Konstruktionen einer „Als ob-Interaktion“ und wiederkehrende Probleme bei der Etablierung einer „Illusion des wechselseitigen Verstehens“ auf Seiten der menschlichen Gesprächspartner aufweist. Sie zeigte auf, dass Dreizügigkeit ein Merkmal sequenzieller zwischenmenschlicher Interaktionen ist, während der Austausch zwischen Mensch und Maschine vor allem zweizügig ist. Von Menschen produzierte dritte Züge in solchen Sequenzfolgen sind überwiegend nicht an die Maschine, sondern an andere Menschen in der Umgebung gerichtet. Da immer mehr Interaktionen eine technische Seite aufweisen, besteht laut Krummheuer ein Bedarf an ethnografischem Kontextwissen, um Aktivitäten über verschiedene Kontexte hinaus zu verbinden.

Im Anschluss wurden die Konzeptualisierung von Körper bzw. Körperlichkeit sowie Entwicklungen in der Dialogperformanz technischer Artefakte wie zum Beispiel Roboter und virtuelle Agenten diskutiert. Es wurde festgestellt, dass es zwar einerseits schwieriger werden könnte, zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlichen Konversationsbeiträgen zu unterscheiden, dass aber andererseits die diskursiven und medial aufgebauten Erwartungen gleichwohl nicht eingelöst werden. Ferner wurde der (theoretische) Stellenwert von Kontextwissen bzw. verschiedener Wissenszugänge im Zusammenhang mit dem Konzept der Sequenzialität sowie der hybriden Interaktion erörtert.

Ausgangspunkt des Beitrags von JENS LOENHOFF (Duisburg-Essen) war die Annahme, dass die den sequenzanalytischen Verfahren korrespondierende Kritik an der objektivistischen und strukturalistischen Rückführung des Handelns auf vorgeblich Sinn und soziale Orientierung garantierende transsubjektive und transsituative Ordnungen zwischen einem entfesselten Kontextualismus und dem eher stillschweigenden Zugeständnis der Inanspruchnahme von Strukturmomenten und Formvorlagen, die dieser Interaktion einerseits vorausliegen und andererseits aber auch durch die situative Auslegung verändert werden, oszilliert. Nach einführenden Bemerkungen über Sequenzialität und Kontextualität des Handelns skizzierte Loenhoff den Zusammenhang von Explikation, Abstraktion und Generalisierung von Problemlösungen und ergänzte diese um Plausibilisierungen aus der sprach- und kommunikationstheoretischen Reflexion sowie um einige Überlegungen zum möglichen Verhältnis von Sequenzanalyse zu gesellschafts- und differenzierungstheoretischen Fragen. Dabei betonte er, dass das Verhältnis von Sequenzanalyse zu einer Gesellschaftstheorie bislang ungeklärt ist. Die feinkörnigen Beschreibungen der Sequenzanalyse könnten zwar zeigen, wie und mittels welcher kommunikativen und nicht-kommunikativen Vollzüge Sozialität hervorgebracht, Situationen initialisiert und als das verhandelt werden, was sie in den Augen der Beteiligten sind. Die Tendenz zu einem von Loenhoff als mitunter entfesselt bezeichneten Situationismus und der Überbetonung der Kreativität und Flexibilität des Handelns hinterlässt jedoch mehrere Problemkomplexe: Unter Bezug auf die Sprache gibt es trotz aller Situierung so etwas wie die Emanzipation der Sprache von ihren indexikalischen Kontexten, die Evolution von Darstellungsmitteln und eine sich mit ihr herausbildende eigenständige Kombinationslogik. Im Hinblick auf das zentrale Erkenntnisinteresse an den Formen der Handlungskoordination lässt sich, so Loenhoff, behaupten, dass die Stabilisierung entsprechender Erwartungserwartungen nicht durch die Begrenzung der Eigenlogik der interaktiven Bedeutungskonstitution realisiert wird. Der Vortrag schloss mit dem Hinweis, dass soziale Ordnung nicht immer und nicht ausschließlich das Produkt von lokalen sequenziell organisierten Interaktionssystemen sein kann und auch nicht so zu begreifen ist.

Die Diskussion umspannte den Raumbegriff, das Verständnis von Sequenzanalyse sowie das Problem des Spannungsverhältnisses zwischen Generalisierung und Situiertheit. Loenhoff betonte, dass sein Vortrag zwar kontextlosgelöste Konversationsanalysen und ethnografiefreie Linguistik kritisiere, nicht aber generell empirische Interaktionsforschung angreifen wolle.

Anhand des Forschungsprojektes „Elternhaus und Schule“, das Ulrich Oevermann und Kollegen Anfang der 1970er-Jahre leiteten, schilderte ANDREAS FRANZMANN (Siegburg / Frankfurt am Main) den ursprünglichen Entstehungskontext der Objektiven Hermeneutik unter Bezugnahme auf konkrete Umstände, Forschungsfragen, Datenerhebungsverfahren und technische Probleme. Im Anschluss skizzierte er den Sequenzbegriff sowie Grundregeln der Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneutik, bevor er sie an einem Datenbeispiel aus dem Vortrag von Susanne Günthner am ersten Tag der Tagung erläuterte.

In der Diskussion standen Fragen zur Herkunft der spezifischen Praxis der Lesarten-Bildung sowie zum spezifischen Sequenzialitäts-Verständnis in der Objektiven Hermeneutik, zum epistemischen Zugewinn über die Leistungen der Beteiligten selbst hinaus, sowie zum Stellenwert der Interpretationen der Beteiligten im Fokus.

LORENZA MONDADA (Basel) diskutierte verschiedene Formen der sequenziellen Organisation mit einem Fokus auf dem zeitlichen Ablauf von Reaktionen zu vorangehenden turns und actions. Dazu kontrastierte sie die Abfolge von auf einen ersten turn folgenden Reaktionen im Gespräch mit komplexeren Formen – wie der simultanen Abfolge – im Rahmen körperlicher Handlungen („bodily actions“). Zu Beginn skizzierte Mondada einige grundlegende Aspekte der Temporalität und Sequenzialität in Konversationsanalyse und Ethnomethodologie. Sie rückte zunächst den sich durch die Betonung von Temporalität und Sequenzialität ergebenden spezifischen Blick auf actions in Ethnomethodologie und Konversationsanalyse in den Fokus sowie zentrale Charakteristika eines sequenziell orientierten Ansatzes zur Analyse von Gesprächen. Mit der Frage, wann im sequenziellen Verlauf eine Reaktion auf eine Bitte auftreten kann, wendete sich Mondada am Beispiel von Interaktionen in verschiedenen Einkaufsgeschäften der zeitlichen Abfolge verkörperter Reaktionen zu. Sie sprach sich für eine Konzeptualisierung von Sequenzialität aus, die neben klar in der zweiten Position lokalisierten Reaktionen auch frühe Reaktionen sowie Formen von Mikrosequenzialität einbezieht, in denen simultan fortlaufende Anpassungen an eine laufende action realisiert werden.

Neben den Formen der zeitlichen Abfolge – Retrospektivität und Prospektivität – wurden anschließend Fragen zur Auslegung des Begriffs der Reflexivität, zum Zusammenhang von Gleichzeitigkeit und Räumlichkeit, zur Thematisierung der Rolle der die Interaktion filmenden Person als Beteiligte:r in der Analyse, zur Auffassung von Zeit aus der Perspektive der Beteiligten, zur Unterscheidung von Sequenzialität und Abfolge sowie die Frage, welche Arten von „joint activity“ unterschiedliche Arten von Sequenzialität erfordern, diskutiert.

BENJAMIN WAGENER (Halle) stellte die Dokumentarische Methode als Ansatz zur Analyse qualitativer Daten – von ursprünglich Gruppendiskussionen und Gesprächen über Interviews und andere Textformen bis hin zu Bildern und Videos –, ihre Genese sowie ihre sequenzanalytische Vorgehensweise vor. Er skizzierte zentrale Prinzipien der praxeologischen Wissenssoziologie als metatheoretischen Rahmen. Wagener zeigte auf, dass die Analyse im Rahmen der Dokumentarischen Methode auf eine empirische Konstruktion einer Typologie abzielt, die die Multidimensionalität von Räumen kollektiver Erfahrung („conjunctive experience“) auf der Basis einer komparativen Analyse reflektiert, und versucht, jenseits der expliziten Bedeutung in sozialer Interaktion deren implizite bzw. unausgesprochene Dimension herauszustellen. So wird die implizite Bedeutung einer Äußerung oder Handlung anhand ihrer Beziehung zum Kontext anderer sequenziell (in Texten) oder simultan (in Bildern) erscheinenden Äußerungen und Handlungen analysiert. Anschließend erläuterte Wagener mit Blick auf die formulierende und reflektierende Interpretation zentrale Schritte der Sequenzanalyse in der Dokumentarischen Methode sowie Spezifika der Interpretation von visuellen Daten (Bilder und Videos). Zum Abschluss illustrierte er die Prinzipien der Dokumentarischen Methode an einem Praxisbeispiel aus dem institutionellen Kontext Schule.

In der Diskussion wurden Fragen besprochen, die die Analyse visueller Daten betreffen, die Unterscheidung von visuellen Analysen und der Analyse sozialer Interaktion (Simultanität im Video vs. Räumlichkeit in der Situation), und es wurde erörtert, inwiefern die Dokumentarische Methode als Untersuchungsmethode zu neuen Erkenntnissen führt.

Die Tagung führte verschiedene Konzeptionen zentraler Termini wie „Sequenz“ und „Sequenzialität“ zusammen und gab Raum für die Diskussion unterschiedlicher Auffassungen der sequenziellen Organisation von Handlungen und Interaktion. So wurden divergierende methodologische und theoretische Ansätze sichtbar, gleichermaßen aber auch Verbindungen zwischen den Beiträgen und den darin präsentierten Herangehensweisen.

Konferenzübersicht:

Susanne Günthner (Münster): Aspekte der sequenziellen Organisation von Personenreferenzen in translokaler computer-vermittelter Kommunikation

Hubert Knoblauch (Berlin): The social theory of action sequences

Antonia Krummheuer (Aalborg): The analysis of artificial/hybrid sequences? How analyzing human-computer interaction challenged and innovated the field of conversation analysis

Jens Loenhoff (Duisburg-Essen): Explikation, Vergegenständlichung und die Formvorlagen des Handelns im Kontext von Sequenzialität und Sequenzanalyse

Andreas Franzmann (Siegburg / Frankfurt am Main): Zur historischen Entstehung der Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneutik

Lorenza Mondada (Basel): Responding and adjusting: the temporality and sequentiality of talk and embodied action

Benjamin Wagener (Halle/Saale): The sequence analysis of the Documentary Method, its historical development, and its relation to the simultaneous structure of visual data


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