Pläne, Provisorien, Gefühlspolitik. Welche Zukunft hatten die 1950er Jahre? 30. Rhöndorfer Gespräch

Pläne, Provisorien, Gefühlspolitik. Welche Zukunft hatten die 1950er Jahre? 30. Rhöndorfer Gespräch

Organisatoren
Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus
PLZ
53604
Ort
Bad Honnef
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
24.03.2022 - 25.03.2022
Von
Sönke Hebing, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit (19.-21-Jh.) mit ihren Wissens- und Technikkulturen, RWTH Aachen

Die Geschichte vergangener Zukünfte hat in der historischen Forschung der letzten Jahre eine Blüte erlebt. Dabei wurden die 1950er-Jahre oft eher vernachlässigt, konzentrierte sich die Forschung doch lange auf die Planungseuphorie der 1960er-Jahre. Vor diesem Hintergrund widmete sich das 30. Rhöndorfer Gespräch unter dem Titel „Pläne, Provisorien, Gefühlspolitik“ der Zukunft der 1950er-Jahre. Die hybrid organisierte Tagung wurde von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus ausgerichtet und wissenschaftlich geplant und geleitet von Birgit Aschmann (Berlin) und Elke Seefried (Aachen).

Nach einem Grußwort von Jürgen Rüttgers, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus und Ministerpräsident a.D., betonte BIRGIT ASCHMANN (Berlin) in ihrer Eröffnung die Zeitenwende, vor deren Hintergrund die Tagung stattfand. Covid-19-Pandemie und der russische Einmarsch in die Ukraine hätten gezeigt, wie schnell Zukünfte Vergangenheit sein können, schließlich hatten sich die Zukunftsvorstellungen, die noch kurz zuvor als plausibel galten, plötzlich als illusionär erwiesen. Das habe wiederum Rückwirkungen auf die Entwicklung neuer Zukunftskonzepte: Das Zukunftsvertrauen der Deutschen sei zuletzt so niedrig gewesen wie seit den 1950er-Jahren nicht mehr. Damalige Fragen und Probleme, etwa nach atomarer Bedrohung und der Relevanz Europas, stellten sich heute in bedrückender Weise erneut.

Blicke man auf die „Zukunftsgeschichtsschreibung“ zur deutschen Geschichte, so Aschmann und Seefried, seien die „langen“ 1950er-Jahre bislang knapp abgehandelt worden. Das Jahrzehnt gelte als Zeit des Wiederaufbaus, in der Bundesrepublik als Dekade vor der Planungsbegeisterung der 1960er-Jahre, in der DDR als Phase des Aufbaus der Planwirtschaft und des marxistisch-leninistischen Glaubens an den gesetzmäßigen Fortschritt. Das 30. Rhöndorfer Gespräch betrachte demgegenüber die Pluralität der „Zukünfte“ in beiden deutschen Gesellschaften zwischen doppelter Staatsgründung und Mauerbau einerseits sowie dem Ende der Ära Adenauer andererseits; sie fahnde nach dominierenden Zeitregimen und wolle zugleich mit einer Verbindung politik-, sozial-, emotions- und wissensgeschichtlicher Perspektiven einen methodischen Beitrag zur Zukunfts-Geschichte liefern. Elke Seefried umriss fünf Frageperspektiven, die für die Tagung im Mittelpunkt stehen sollten: Erstens gehe es um Erwartungen und Fortschrittsverständnisse: Angesichts der Verwerfungen des NS-Regimes und des Weltkrieges signalisierten bundesdeutsche Umfragen um 1950, dass kollektive Erwartungen begrenzt, politische Utopien erodiert waren – im Gegensatz zur DDR, in der offiziell die Orientierung am fixen Telos des Kommunismus gesetzt gewesen sei. Es sei zu diskutieren, warum und wann sich Erwartungshorizonte in West und Ost verschoben. Zweitens solle die Geschichte der Kommunikation und Emotionalisierung von Zukünften näher in den Blick genommen werden. Dies gelte etwa für die in den 1950er-Jahren politisch omnipräsente Beschwörung der „Sicherheit“ und ebenso für Objekte, die Emotionalisierungen der Zukunft transportierten – wie das Atom als Heilsbringer oder Angstobjekt. Bedeutsam sei drittens das individuelle wie auch kollektive Zukunftshandeln – das Planen, die Vorsorge oder die zivilgesellschaftliche Neugestaltung von Zukunft. Viertens stelle sich die Frage nach der Binnenperiodisierung des Jahrzehnts und Differenzierung gängiger übergreifender Deutungsmuster wie das der „konservativen Modernisierung“ (Hans-Peter Schwarz, Axel Schildt), der „Republik der Angst“ (Frank Biess) oder einer „hochmodernen“ Ära der Fortschrittsgläubigkeit, die von den 1880er-Jahren bis in die 1950er- und 1960er-Jahre gereicht habe (Ulrich Herbert, Anselm Doering-Manteuffel). Schließlich müsse fünftens die deutsch-deutsche Dimension des Vergleichs, der Abgrenzung oder Verflechtung im internationalen Kontext immer mitgedacht werden: Beide deutschen Staaten hätten sich in den 1950er-Jahren als Provisorien verstanden und zugleich sei noch eine gemeinsame Zukunft imaginiert worden.

Das erste Panel zu „Zeitregimen in beiden deutsche Nachkriegsstaaten“ eröffnete FRANK BÖSCH (Potsdam) mit einem Panorama zu Vergangenheit und Zukunft in beiden deutschen Staaten. Das Jahrzehnt sei den Zeitgenossen als eine „Scharnierzeit“ im Übergang in eine veränderte Welt erschienen. In der bundesdeutschen Gesellschaft habe ein Zweckpessimismus ohne große Erwartungen vorgeherrscht, der jedoch gestaltende Kraft entwickelt habe. Für Adenauer und die CDU habe Regieren nicht das langfristige Verfolgen eines Programms, sondern „Fahren auf Sicht“ bedeutet. Erst der wirtschaftliche Aufschwung habe langfristige Weichenstellungen wie die Rentenreform 1957 ermöglicht. In der DDR dagegen habe ein ideologischer Zweckoptimismus vorgeherrscht. Dort war das Handeln auf den Aufbau des Sozialismus und das Erreichen der kommunistischen Utopie ausgerichtet.

Die zukunftsgestaltende Kraft von Ängsten betonte FRANK BIESS (San Diego). Er sah die Bundesrepublik der 1950er-Jahre geprägt durch die Abfolge von Vergeltungsangst, Kriegsängsten und Modernisierungsängsten Unmittelbare Bedrohungsszenarien durch die Besatzer seien Ängsten vor dem möglichen Atomkrieg und schließlich der Sorge vor der Automation gewichen. Insgesamt stellte Biess eine enge Verzahnung von nationaler und persönlicher Zukunftserwartung fest. Die persönlichen Kriegserfahrungen und Traumata seien auf die Antizipation neuer Bedrohungsszenarien übertragen worden und hätten so über die individuelle Zukunftsgestaltung hinaus Wirkmächtigkeit erlangt.

Das zweite Panel zu „Zukunftspraktiken im Alltag“ eröffnete GÜNTHER SCHULZ (Bonn), indem er das „Sparen“ als auf die Zukunft gerichtete Praktik in den Mittelpunkt rückte. Wohlstand für die Zukunft zu sichern, werde hier als menschliches Grundbedürfnis deutlich. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Sicherung der Grundbedürfnisse habe sich auch das Sparen verändert. Insgesamt habe sich die Sparquote im Verlauf der 1950er-Jahre vervielfacht, aber auch der Konsum sei sprunghaft gestiegen. Politisch sei diesen Entwicklungen ambivalent begegnet worden. Adenauers Kulturpessimismus und Mahnung zur Mäßigung habe Erhards Wohlstandsversprechen gegenübergestanden.

Anhand der Praktik der „Familienplanung“ relativierte MONIKA WIENFORT (Potsdam) die Dichotomie zwischen den 1950er-Jahren als Restaurations- und den 1960ern als Aufbruchsepoche. Der individuelle Wunsch nach Festlegung der Familiengröße sei in den 1950er-Jahren – und nicht erst mit der Anti-Baby-Pille – aufgekommen. Die soziale und politische Bewegung, die unter dem Schlagwort der „bewussten Elternschaft“ für bessere Kontrollmöglichkeiten eintrat und die Angst vor Überbevölkerung betonte, habe starke Bezüge in die 1920er-Jahre und die NS-Zeit aufgewiesen. Dagegen hätten ältere, konservative „Gegenexperten“ und Taschenbücher zur Eheberatung das Idealbild der Natürlichkeit hervorgehoben. Auch im Katholizismus sei unter dem Druck veränderter Realitäten die Familienplanung zunehmend zur individuellen Gewissensfrage geworden.

Den ersten Tagungstag beschloss ein von Birgit Aschmann moderiertes Abendgespräch zwischen ANDREAS WIRSCHING (München) und DOMINIK GEPPERT (Potsdam) zur „Vergangenheit und Zukunft der Europäischen Integration“. Dabei ging es insbesondere um Adenauers persönliche Prägung zwischen Katholizismus und der Erfahrung des NS-Staates, seine Politik der Westintegration und der Bindung an Frankreich sowie die europäische Integration. Diese Prozesse seien offen und die heutige Europäische Union nicht vorherbestimmt gewesen. Viele heutige europäische Probleme – etwa die Konkurrenz zwischen normativen und ökonomischen Prägungen oder der Gegensatz zwischen Brüsseler Technokratie und Nationalstaaten – stünden nicht direkt mit Adenauers Europapolitik in Zusammenhang, berührten aber ähnliche Fragen nach Sicherheit, Verlässlichkeit und Wohlstand. Es bestehe die Gefahr Parallelen zwischen Adenauers Zeit und der Gegenwart überzustrapazieren, doch seien seine Vorstellungen und Ansätze gerade angesichts der gegenwärtigen Zeitenwende hochaktuell.

Am zweiten Tagungstag zeigte DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) am Beispiel der „Generationenkonflikte“ in den „langen Fünfzigerjahren“ starke Wandlungsprozesse auf. Zwar werde die Dramatik dieser Konflikte oft überschätzt, doch sei die Zukunftswahrnehmung eine Generationenfrage gewesen. Unterschiedliche Praktiken wie die „Renaissance der Aussteuerkiste“ als Ausdruck neuer (weiblicher) Sparsamkeit und die „Gammler“ mit ihrer Abwehrhaltung gegenüber der Leistungsgesellschaft hätten zeitgleich existiert. Verbesserte Bildung, die mit dem späteren Eintritt in die Berufstätigkeit verbundene „Postadoleszenz“, mehr Freizeit und höherer Wohlstand hätten die Kultur des „Sich-Aufsparen“ durch das „Leben im Moment“ ersetzt. Insgesamt habe die Jugend eine sozio-kulturelle Vorreiterrolle eingenommen.

Mit dem „VW und Trabi als Antriebsmotor der Wirtschaft“ als Ausgangspunkt nahm WERNER PLUMPE (Frankfurt am Main) die ökonomische Entwicklung der 1950er-Jahre in den Blick. Er erteilte dem Mythos des Wirtschaftswunders eine Absage. Von Aufbruch könne angesichts der personellen und strukturellen Kontinuitäten kaum eine Rede sein. Erst die hohen wirtschaftlichen Zuwachsraten seit Ende der 1950er-Jahre hätten diesen Mythos gestützt. Auch die verbesserten Konsummöglichkeiten seien kaum als Ausdruck utopischer Potentiale zu verstehen. Insgesamt sei die paradoxe Situation eingetreten, dass in der BRD bei nur geringer Abgrenzung zur Vergangenheit der wirtschaftliche Wandel ebenjene Abgrenzung herbeigeführt habe, während in der DDR eine deutliche Abkehr von der Vergangenheit stattfand, dort aber Knappheit und Not weiterhin bestanden.

Das vierte und letzte Panel beschäftigte sich mit „Kultur und Wissenschaft“ und wurde eröffnet durch NICOLAI HANNIG (Darmstadt), der sich der Geschichte des Atoms „vom Heilsbringer zum Angstobjekt“ annahm. Der Umgang mit Atomkraft habe sich deutlich von der Atomeuphorie der 1960er-Jahre unterschieden. Im Bereich der Medizintechnik habe sich das Bewusstsein aus alltäglichen Erfahrungen der 1920er-Jahre gespeist. In der radiologischen Medizin sei jahrzehntelange Erfahrung verfügbar gewesen, sodass Gefahren und Potentiale besser abgewogen werden konnten. Dagegen habe sich im Bereich der Atommüllentsorgung erst langsam ein Gefahrenbewusstsein entwickelt. Lange Zeitbezüge seien selten gewesen, galten doch die geringe Menge radioaktiven Abfalls und das noch fehlende Wissen als Hindernis für langfristige Prognosen.

Den letzten Vortrag steuerte LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) bei, der sich den Angeboten für Zeit und Ewigkeit in den christlichen Kirchen widmete. Theologische Gedanken seien eng mit Zukunftsvorstellungen verbunden, weil sich Glaube, Hoffnungen und Ängste tief in den Menschen einschrieben. Christliche Jenseitsvorstellungen seien immer komplex gewesen. Die 1950er-Jahre verstand Hölscher als Zwischenzeit zwischen der NS-Utopie des „Tausendjährigen Reichs“ und der Planungseuphorie der 1960er-Jahre. Die Kirchen seien durch beide Weltkriege in Legitimationsprobleme geraten, worauf die christliche Theologie zum einen mit einer existenzialistischen Hinwendung zu irdischer Existenz und Tod sowie zum anderen mit einer Umdeutung des Begriffs der „Säkularisierung“ im Sinne einer Verweltlichung zugunsten der Anschlussfähigkeit religiöser Vorstellungen reagiert habe.

Abschließend wiesen Birgit Aschmann und Elke Seefried auf wesentliche Erkenntnisse der Tagung hin. Erstens habe sich in methodischer Hinsicht die Verbindung des emotionsgeschichtlichen und praxeologischen Ansatzes als enorm fruchtbar für die Geschichte von Zukunftserwartungen, -kommunikation und -praktiken gezeigt. Zweitens seien die großen Deutungsmuster etwa von der „Hochmoderne“ oder von einer linear verlaufenden „Modernisierung“, „Liberalisierung“ und „Demokratisierung“ für das erste Nachkriegsjahrzehnt nicht erhärtet worden. Hingegen habe sich die auch in der sozialgeschichtlichen Forschung diskutierte Zäsur der Zeit um 1957 bestätigt. Drittens habe die deutsch-deutsche Vergleichs- und Abgrenzungsgeschichte auch die westdeutschen Spezifika deutlicher hervortreten lassen. Indes seien internationale Einflüsse noch stärker einzubeziehen. Jedenfalls habe sich die Notwendigkeit gezeigt, die Zukünfte der 1950er-Jahre in ihrer Spezifik als eigenständige Epoche näher in den Blick zu nehmen.

Konferenzübersicht:

Jürgen Rüttgers (Bad Honnef): Begrüßung

Birgit Aschmann (Berlin) / Elke Seefried (Aachen): Einführung

Panel 1: Politik für Provisorien? Zeitregime in beiden deutschen Nachkriegsstaaten
Moderation: Birgit Aschmann (Berlin)

Frank Bösch (Potsdam): Zukunft und Vergangenheit in den Gründungsdiskursen der Bundesrepublik und DDR

Frank Biess (San Diego): Angst vor der Vergangenheit und Zukunftsplanung

Panel 2: Zukunftspraktiken im Alltag
Moderation: Marie Luise-Recker (Frankfurt am Main)

Günther Schulz (Bonn): Sparen

Monika Wienfort (Potsdam): Familienplanung

Abendgespräch
Moderation: Birgit Aschmann (Berlin)

Dominik Geppert (Potsdam) / Andreas Wirsching (München): Adenauers Zukunft? Vergangenheit und Zukunft der Europäischen Integration

Panel 3: Objekte der Verheißung und Bedrohung
Moderation: Monika Wienfort (Potsdam)

Detlef Siegfried (Kopenhagen): Streit um Zeit: Generationenkonflikte

Werner Plumpe (Frankfurt am Main): VW und Trabi als Antriebsmotor der Wirtschaft

Panel 4: Kultur und Wissenschaft
Moderation: Elke Seefried (Aachen)

Nicolai Hannig (Darmstadt): Das Atom. Vom Heilsbringer zum Angstobjekt

Lucian Hölscher (Bochum): Kirche: Angebote zu Zeit und Ewigkeit

Abschlussdiskussion und Schlussworte