Paderewskis Manru – Interdisziplinäre Annäherungen an eine aktuelle Oper

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Organisatoren
Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Yvonne Kleinmann, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Stefan Keym, Institut für Musikwissenschaft, Universität Leipzig; Boris Kehrmann, Oper Halle
Ort
Halle/Saale
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
18.03.2022 - 19.03.2022
Von
Laura Krebs, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

An der Oper Halle fand am 19. März 2022 die Premiere von Ignacy Jan Paderewskis einziger Oper „Manru“ (Uraufführung: Dresden 1901) statt. Anlässlich dieser Aufführung, der ersten Inszenierung der Oper in ihrer deutschen Originalfassung seit 1902, widmete sich ein öffentliches Symposium der breiten Kontextualisierung dieses außerhalb Polens weitgehend vergessenen Stückes. Während der zweitägigen Veranstaltung diskutierten Wissenschaftler:innen und Theatermacher:innen aus fünf Ländern Paderewskis Werk vor dem Hintergrund der europäischen Operntradition des 19. Jahrhunderts und als aktuelle Anverwandlung.

Die Organisator:innen skizzierten eingangs die Genese der interdisziplinären Kooperation und setzten aus Perspektiven der Musikwissenschaft, Geschichte und Theaterpraxis unterschiedliche Akzente.

Das erste Panel widmete sich der Oper „Manru“ und ihrem künstlerischen Kontext. DIDIER VAN MOERE (Paris) entwarf in seinem Einführungsvortrag ein Panorama der Entwicklung Paderewskis in seinen drei Tätigkeitsfeldern als Klaviervirtuose, Komponist und Politiker. Dabei machte er darauf aufmerksam, dass die Virtuosenkarriere Paderewski zu Reichtum und internationaler Prominenz verhalf, die er später zu politischen Zwecken nutzen konnte.

Daran anknüpfend ordnete KORDULA KNAUS (Bayreuth) Paderewskis einzige Oper in verschiedene Strömungen der europäischen Operngeschichte des 19. und frühen 20. Jh. (italienischer Verismo, französische grand opéra, Wagners Musikdrama, Nationalopern) ein und diskutierte Aspekte der Figurenkonstellation (Gender), Gesangsstil und Leitmotivik. Sie zeigte ferner Mehrdeutigkeit der Zuordnung von Motiven und Harmonien auf.

STEFAN KEYM (Leipzig) verortete „Manru“ in der polnischen Musiklandschaft um 1900. Als prägend für die Entwicklung der polnischen Musik stellte er die Dreiteilung des Landes heraus. Der politische Hintergrund spiegele sich auch in der berühmtesten polnischen Oper „Halka“ von Stanisław Moniuszko. Während „Halka“ zur Nationaloper wurde – so Keym –, verdrängte die ab 1905 aufkommende Strömung des Jungen Polen in der Musik Paderewski aus der musikalischen Szene.

Das zweite Panel widmete sich der literarischen Vorlage des Opernlibrettos, Józef Ignacy Kraszewskis Roman „Chata za wsią“ (Die Hütte hinter dem Dorf). GERNOT HOWANITZ (Innsbruck) ordnete Kraszewskis Roman in die gesamteuropäische Strömung der „Zigeunertexte“ ein, deren zentrales Merkmal der „Zigeuner“ als gesellschaftliches Konstrukt des Fremden sei. In „Chata za wsią“ identifizierte er neben zentralen Stereotypen auch ein Durchbrechen starrer Zuordnungen. Eine Zwischenposition wies Howanitz dem Schriftsteller auch in der polnischen Literatur zu: Obgleich Kraszewski zur Zeit der polnischen Romantik schrieb, seien seine Volkserzählungen bereits Vorläufer des Realismus.

YVONNE KLEINMANN (Halle) behandelte die Programmatik von Alfred Nossigs Libretto zu „Manru“ und seiner literarischen Vorlage, dem Roman von Józef Ignacy Kraszewski. Sie argumentierte, dass es beiden Autoren in ihren Texten nicht im Kern um „Zigeuner“ ging. Beide Texte verbinde auf einer politischen Ebene die Reflexion über Volk und Nation. Während sich Kraszewskis „Die Hütte hinterm Dorf“ als Hinwendung des Autors zur ostlawischen bäuerlichen Bevölkerung und Kritik am polnischen Adel lesen lasse, ging es Nossig vor dem Hintergrund seiner Studien zur Sozialhygiene der Juden um eine universelle Suche nach der richtigen Lebensform.

Das dritte Panel behandelte das „Zigeuner“-Motiv in seiner europäischen Tradition. DAVID CONWAY (London) sprach über den Librettisten Alfred Nossig und seine Perspektive auf die Roma. Juden und Roma habe ein niedrigerer gesellschaftlicher Status geeint, und Angehörige beider Gruppen seien häufig als Musiker:innen in Erscheinung getreten. Dabei – so Conways These – konnten Juden jedoch flexibler auf sozialen Wandel reagieren und fanden leichter als Roma Eintrittswege in die bürgerliche Gesellschaft.

ANNA G. PIOTROWSKA (Kraków) behandelte die Herkunft der Roma und ihre Beziehung zur Musik aus einer Perspektive der longue durée. Zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert in Europa angelangt, hätten die Roma traditionell verschiedene Berufe ausgeübt. Die Musik sei vergleichsweise spät als Erwerbstätigkeit hinzugekommen. Erst seit dem 18. Jahrhundert hätten die sogenannten Zigeunerkapellen die Wahrnehmung der Roma geprägt, und erst in der Folge – so Piotrowskas Erkenntnis – wurde die Musik der Roma auch in der europäischen Kunstmusik rezipiert.

Musikwissenschaftlich arbeitete STEFAN KEYM (Leipzig) die Vorbildrolle von Franz Liszt als Schlüssel zum Verständnis von Paderewskis Schaffen heraus. Eine wichtige Gemeinsamkeit sei ihr politisches Engagement, das zuerst Liszt unter seinem Credo „génie oblige“ vertreten habe. Beide habe zudem ihre nationale Orientierung verbunden. Auch kompositorisch zeigte Keym vielfältige Berührungspunkte auf: Die Darstellung des Verhaltens und der Musik der Roma in „Manru“ folge eng deren Beschreibung in Liszts Buch „Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn“ (1861).

Den Vortrag von ANDRÉ RAATZSCH (Heidelberg) verlas Boris Kehrmann. Raatzsch lobte die Oper „Manru“ und Kraszewskis Roman „Die Hütte am Ende des Dorfes“, deren präzise Exkurse zur Geschichte und Sprache der Sinti und Roma Gegenakzente zum Antiziganismus setzten. Die Premiere von „Manru“ nach über hundert Jahren betrachtete er als herausragendes Ereignis sowohl für die deutsche Kulturlandschaft als auch für die Sinti und Roma. Er betonte an dieser Stelle, dass die Identität der 1998 als nationale Minderheit anerkannten Sinti und Roma nicht im Gegensatz zu ihrer deutschen Identität stehe.

Den Festvortrag hielt PHILIPP THER (Wien), der die drei Schaffensschwerpunkte von Paderewski – als Starpianist, Opernkomponist und politischer Aktivist – sozial- und wirtschaftsgeschichtlich analysierte. Insbesondere widmete er sich der Frage, warum es trotz des internationalen Erfolgs von „Manru“ bei einer einzigen Oper blieb, und führte als Erklärung unter anderem ökonomische Motive ins Feld: Im Vergleich zu Paderewskis Klavierkonzerten hätten die Opernaufführungen dem wie ein Popstar gefeierten Pianisten wenig Einnahmen gebracht. Die politische Betätigung – so Thers These – sei erst auf der Grundlage von Paderewskis künstlerischer Popularität möglich, aber kaum mehr als ein Exkurs gewesen.

Das vierte Panel widmete sich den soziopolitischen Kontexten von Paderewskis „Manru“: EWA GRZĘDA (Wrocław) ergründete die Bedeutung der Goralen in der polnischen Kultur. Während die literarische Vorlage der Oper in Podolien spielt – so ihre Beobachtung –, verlegte Nossig den Ort des Geschehens in seinem Libretto in die hohe Tatra. Diese Veränderung deutete Grzęda als Ausdruck der wachsenden Bedeutung der goralischen Kultur für polnische Intellektuelle seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zur schwindenden Bedeutung der östlichen Gebiete des ehemaligen Polen-Litauen. Sie argumentierte, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer touristischen Erkundung der Tatra kam, die mit einer Mythologisierung der Goralen-Kultur einherging.

Das Blutmotiv in „Manru“ nahm KATRIN STEFFEN (Sussex) in Augenschein. Vor allem nach dem Kriterium des Blutes werde der Ausschluss der Hauptfigur Manru aus der Gemeinschaft der Goralen begründet. Ausgehend von biblischen Vorstellungen bis hin zur nationalsozialistischen Metapher des „Volkskörpers“, zeichnete Steffen die historischen Entwicklungen und Annahmen nach, die dazu führten, dass Gemeinschaften sich über Blut definierten. Für den Beginn des 20. Jahrhunderts konstatierte sie einerseits eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Erforschung von Blut, andererseits einen rasanten Bedeutungszuwachs verschiedener Blutmythologien, so dass eine Versachlichung des Diskurses nicht eingetreten sei.

Das letzte Panel des Symposions galt dem Ort von Paderewskis „Manru“ in Geschichte und Gegenwart, insbesondere der Aufführungspraxis und Rezeption der Oper. JUSTYNA KICA (Kraków) befasste sich mit der Rezeption der Weltpremiere von „Manru“ (1901) in der polnischen Presse. In einer umfassenden Presseschau stellte sie heraus, dass die Oper in der zeitgenössischen polnischen Presse vor allem als Erfolg polnischer Kultur im Ausland gefeiert wurde. Eine musikkritische Auseinandersetzung mit den Aufführungen sei demgegenüber zunächst in den Hintergrund getreten. Erst nach der Premiere der Oper im galizischen Lwów (heute Lviv) sei neben dem nationalen Element auch in der polnischen Presse ihre musikalische Dimension diskutiert und die Originalität des Werkes gelobt worden.

Den Abschluss des Panels bildete eine Podiumsdiskussion mit den Theatermacher:innen Katharina Kastening, Walter Sutcliffe und Boris Kehrmann von der Oper Halle sowie Dorota Karolczak, die an den Opernhäuser Warschau, Poznań und Halle wirkt. Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle) befragte die Theatermacher:innen zu ihren persönlichen Motivationen, das außerhalb Polens in Vergessenheit geratene Stück auf die Bühne zu bringen. Der Intendant Walter Sutcliffe sah in der Oper auf einzigartige Weise ein persönliches Drama mit einem ethnischen Konflikt vereint. Die Regisseurin Katharina Kastening hob hervor, wie wichtig es für sie war, anhand der Inszenierung die Struktur und die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen von Rassismus zu zeigen. Die Bühnenbildnerin Dorota Karolczak betrachtete „Manru“ auch als ein Plädoyer für mehr Toleranz. Vor eine besondere Herausforderung – so der Chefdramaturg Boris Kehrmann – habe die Beteiligten an der Oper Halle der vielfach verwendete Begriff „Zigeuner“ gestellt, der im Libretto sowohl im Sinne einer Fremdbezeichnung als auch einer Selbstbezeichnung der Roma vorkommt. Kontrovers diskutierten die Beteiligten, inwieweit der Gebrauch von rassistischer Sprache auf der Bühne legitim ist, um rassistisches Verhalten zu bekämpfen. Sutcliffe vertrat vehement den Standpunkt, eine Gesellschaft auf der Bühne müsse sich rassistisch zeigen und äußern, damit ein Stück über Rassismus entsteht.

In der Abschlussdiskussion debattierten die Teilnehmer:innen, ob die Hallenser Premiere die Chance biete, „Manru“ wieder in das internationale Opernrepertoire einzuführen. Erörtert wurde in diesem Zusammenhang zunächst, warum Paderewski selbst die Aufführung seiner Oper, die auch in Polen keine durchgängige Aufführungstradition vorweisen könne, nach 1902 nicht weiter förderte. Auch die musikalische Qualität und Innovativität der Oper im Kontext ihrer Zeit standen zur Debatte. Boris Kehrmann sah die besondere Qualität von Paderewski darin, in „Manru“ aus einem breiten musikalischen Erfahrungsschatz zu schöpfen und dessen Elemente originell zu einer Collage neu zusammenzusetzen, was durchaus innovativ gewesen sei. Yvonne Kleinmann warf die Frage auf, wie eine Analyse, die Musik und Librettotext berücksichtigt, aussehen könnte. Stefan Keym betonte abschließend, dass die Tagung vor allem deutlich gemacht habe, dass „Manru“ ein mehrdeutiges Kunstwerk sei, das sich einfachen Deutungen entziehe. Gerade darin bestehe der Reiz dieses Stücks.

Konferenzübersicht:

Boris Kehrmann (Halle/Saale), Yvonne Kleinmann (Halle/Saale), Stefan Keym (Leipzig): Begrüßung und Einführung

I.: Werk und künstlerischer Kontext
Moderation: Stefan Keym (Leipzig)

Didier van Moere (Paris): Paderewskis schöpferische und persönliche Entwicklung bis zu „Manru“

Kordula Knaus (Bayreuth): „Manru“ und die europäische Opernlandschaft um 1900

Stefan Keym (Leipzig): Der Platz von „Manru” in der polnischen Musik um 1900

II.: Der Stoff
Moderation: Laura Krebs (Halle/Saale)

Gernot Howanitz (Innsbruck): Das ,Zigeuner’-Motiv in der literarischen Vorlage. Im Reigen europäischer Zigeunertexte

Yvonne Kleinmann (Halle/Saale): Transformationen: Von Józef Ignacy Kraszewskis Roman „Chata za wsią” (Die Hütte hinter dem Dorf) zu Alfred Nossigs Libretto „Manru“

III.: „Manru“ und das ‚Zigeuner‘-Motiv in der europäischen Tradition
Moderation: Yvonne Kleinmann (Halle/Saale)

David Conway (London): „Beyond the Village” – Manru’s Jewish Librettist and his Roma Perspective

Anna G. Piotrowska (Kraków): „Gypsi Music” in European Culture: A Longue Durée Perspective

Stefan Keym (Leipzig): „Nationalkomponist“ oder „Zigeunermusikant“? Paderewski und Liszt

André Raatzsch (Heidelberg): Historische und gegenwärtige Perspektiven von Sinti und Roma auf das ‚Zigeuner‘-Motiv in „Manru“

Festvortrag

Philipp Ther (Wien): Ignacy Jan Paderewski – Starpianist, Opernkomponist, politischer Aktivist

IV.: Soziopolitische Kontexte
Moderation: Boris Kehrmann (Halle/Saale)

Ewa Grzęda (Wrocław): Die Bedeutung der Goralen in der polnischen Kultur des 19. Jahrhunderts – Realität und Kreation

Katrin Steffen (Sussex): Das Blutmotiv in „Manru“ vor dem Hintergrund deterministisch-biologistischer Theorien um 1900

V.: „Manrus“ Ort in Geschichte und Gegenwart
Moderation: Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle/Saale)

Justyna Kica (Kraków): „Celebration of Polish Music” – Manru’s World Premiere and Its Reception in the Polish Press (online)

Katharina Kastening, Walter Sutclife, Boris Kehrmann (Oper Halle), Dorota Karolczak (Oper Warschau, Oper Poznań, Oper Halle) im Gespräch mit Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle/Saale): Eine Oper, zwei Inszenierungen

VI.: Abschlussdiskussion
Moderation: Boris Kehrmann, Yvonne Kleinmann, Stefan Keym

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