Orte des Widerspruchs? Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur angesichts gegenwärtiger Herausforderungen

Orte des Widerspruchs? Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur angesichts gegenwärtiger Herausforderungen

Organisatoren
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; Stephan Linck, Evangelische Akademie der Nordkirche; Karl Heinrich Pohl, Universität Kiel; Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek
Veranstaltungsort
Landesbibliothek Kiel
Förderer
Bürgerstiftung schleswig-holsteinische Gedenkstätten, Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, Der Landesbeauftragte für politische Bildung
PLZ
24103
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
12.06.2022 -
Von
Mareike Witkowski, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Zu den vielen Herausforderungen, denen die Gedenkstätten gegenüberstehen, kam am 24. Februar 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine weitere hinzu. Mit welchen Schwierigkeiten die Gedenkstätten konfrontiert sind, wie sich diese bewältigen lassen und wie die zukünftige Gedenkstättenarbeit aussehen könnte, waren zentrale Fragen, denen die Referenten und Referentinnen der Tagung nachgingen.

KARL HEINRICH POHL (Kiel) verwies in seiner Begrüßung auf die bereits vor einigen Jahren einsetzende Debatte um die Zukunft der Gedenkstätten. Gedenkstätten waren Zeichen der (verspäteten) Aufarbeitung der NS-Zeit und zugleich wurden sie zu zentralen Akteuren der Erinnerungskultur. Die „Erfolgsgeschichte“ der Gedenkstätten, so Pohl, hatte ihren Preis darin, dass die Urwüchsigkeit nach und nach durch „staatliche Vereinnahmung“ abgelöst wurde. Die Aufrechterhaltung des Gedenkens an die NS-Zeit gehört heute zum elementaren Selbstverständnis der Bundesrepublik. Gerade dies erschwere aber eine kritische Auseinandersetzung mit den Gedenkstätten. Zentrale Fragen, beispielsweise wie einer Normierung und damit Abnutzung des Gedenkens entgegengewirkt werden kann, müssten kritisch diskutiert werden. „Nie wieder Krieg“ war lange Zeit die Formel, auf die sich fast alle einigen konnten. Die Einigung auf diese Formel war deswegen so einfach, weil sie nie weiter durchdekliniert werden musste. Dies ist spätestens seit dem 24. Februar 2022 anders. Wie die Formel gefüllt werden kann oder ob sie ganz obsolet geworden ist, gelte es zu debattieren.

„Hier und heute“ gehe ein Erinnerungskonsens zu Ende, führte MARTIN SABROW (Potsdam) in seinem Eröffnungsvortrag sich auf Goethe beziehend aus und meinte damit den 24. Februar 2022. In den späten 1970er-Jahren sei der Schweigekonsens von einem Aufarbeitungskonsens abgelöst worden. Seit einigen Jahren deute sich aber ein Ende der Aufarbeitungsepoche an. Es werde, so Martin Sabrow, zunehmend zwischen Wahrheits- und Erinnerungswert unterschieden. Der Holocaust wird als historische Tatsache anerkannt, daraus ergäbe sich aber für zunehmend mehr Menschen kein Erinnerungsimperativ mehr. Dies führte Martin Sabrow auf vier Punkte zurück: 1. von der Aufklärung zur Affirmation; die gelungene Aufarbeitung der NS-Verbrechen würde zunehmend zur Legitimierung aktueller Handlungen herangezogen und die ritualisierte Erinnerung münde mehr und mehr in Selbstgefälligkeit. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen verlöre das aufrüttelnde Moment. Die Trivialisierung zeige sich beispielsweise in der Gleichsetzung der NS-Diktatur mit einer vermeintlichen Corona-Diktatur in der Querdenkerszene. 2. der Verlust der Unmittelbarkeit: Mit wachsendem Abstand zu den Verbrechen des Nationalsozialismus können immer weniger Menschen noch persönlich von ihrem Schicksal berichten. Die Epoche der Aufarbeitung, so Martin Sabrow, sei auch die Epoche der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gewesen, die die Ereignisse beglaubigten. Für wie schwerwiegend das Fehlen der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gehalten würde, zeigen die großen Anstrengungen, das vermeintliche Erleben der Authentizität mittels 3D-Hologrammen weiterhin zu ermöglichen. 3. die Ersetzung von Distanz durch Identifikation: Geschichte werde zunehmend als Identitätsressource vereinnahmt. Dies geschehe sowohl auf der nationalen als auch auf der persönlichen Ebene. So hat beispielsweise die polnische Regierung 2018 durch das so genannte „Holocaust-Gesetz“ die Benennung einer Mitverantwortung Polens an der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen unter Strafe gestellt. Neben der nationalstaatlichen Vereinnahmung der Geschichte nehmen, so Martin Sabrow, die Stimmen aus der Gesellschaft zu, die etablierte historische Sichtweisen unter Identitätsaspekten infrage stellen. Die Forderung nach einer Dekolonisierung führte in zahlreichen Städten zu Umbenennungen von bspw. Carl-Peters-Straßen. Die historischen Umstände treten in den Hintergrund, zentral sind heutige Blickweisen und mögliche Betroffenheit. Identität werde über Historizität gestellt. 4. der Verlust der Zukunftsgewissheit: Der Glaube an eine sichere, bessere Zukunft verliert sich im Angesicht der Krisen immer mehr. Die erfolgreiche Aufarbeitung der Vergangenheit, so die lang geglaubte Hoffnung, ermögliche ein Lernen aus der Geschichte und stärke die Gegenwartsgesellschaft. Die Rückkehr des Krieges stelle die Lernerfahrung einer ganzen Generation infrage. Der Krieg in der Ukraine sei nicht nur eine politische Zeitenwende, sondern markiere zugleich auch einen erinnerungskulturellen Bruch. Kämpfende deutsche Soldaten sind in der deutschen Erinnerung negativ besetzt, was sich auch auf die heutige Haltung zur Unterstützung der Ukraine auswirke. Es dränge sich daher die Frage auf, ob man nicht möglicherweise eine neue Schuld auf sich lade.

Die sich anschließende Diskussion drehte sich vor allem um die von Martin Sabrow aufgeworfene Frage, ob der konstatierte erinnerungskulturelle Bruch auch Ausdruck eines generationellen Wandelns sei oder ob es sich um eine umfassendere Krise des Historischen handele.

Im ersten Podium stand die Frage im Mittelpunkt, wie sich der Krieg in der Ukraine auf die Arbeit der Gedenkstätten auswirke. JENS-CHRISTIAN WAGNER (Weimar), Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und JÖRG MORRÉ (Berlin), Direktor des Museums Berlin-Karlshorst, berichteten über die aktuellen Probleme im Umgang mit den offiziellen Vertretern und Vertreterinnen des russischen Staates anlässlich der Gedenkfeiern im Mai 2022. Vor besonderen Herausforderungen standen die Mitarbeitenden der Gedenkstätte Buchenwald/Mittelbau Dora. Im März 2022 starb bei einem Bombenangriff auf Charkiw Boris Romantschenko, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald und Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Die darauffolgende öffentliche Aufforderung, dass die Vertretung des russischen Staates nicht an der Gedenkveranstaltung teilnehmen möge, wurde in der Folge breit diskutiert. Jens-Christian Wagner hob hervor, dass das Gedenken an die Häftlinge aus der Sowjetunion und auch der maßgebliche Beitrag der Roten Armee bei der Befreiung Deutschlands vom nationalsozialistischen Regime davon unbeeindruckt zentrale Prämissen der eigenen Arbeit seien. Sowohl Jens-Christian Wagner als auch Jörg Morré beschrieben den dünnen Grad, selber eine klare, ethisch und wissenschaftlich fundierte politische Haltung zu haben, sich jedoch nicht für innen- oder außenpolitische Auseinandersetzungen instrumentalisieren zu lassen. Die Osteuropahistorikerin EKATHARINA MAKHOTINA (Bonn) konstatierte, dass es in der deutschen Gesellschaft eine große Wissenslücke über die Gräuel im Osten während des Zweiten Weltkriegs gibt und in der Öffentlichkeit häufig keine Differenzierung zwischen den osteuropäischen Opfergruppen vorgenommen wird. In den osteuropäischen Gesellschaften hingegen ist die Erinnerung sehr lebendig. Von russischer, staatlicher Seite werde die Geschichte für die eigene politische Narration instrumentalisiert. Gezielt wird unter anderem über die Botschaften versucht, Einfluss auf die Erinnerungspolitik im Westen zu nehmen. Leitendes Motiv sei dabei zunehmend die Vergeltung und nicht die Versöhnung. Von der versuchten Einflussnahme berichteten auch Jens-Christian Wagner und Jörg Morré, die sich mit zahlreichen Anfragen und „Richtigstellungen“ der russischen Botschaft konfrontiert sehen.

Die zweite Diskussionsrunde stand unter der Frage, in welche Richtung sich die Gedenkstättenarbeit entwickeln sollte. JÖRG SKRIEBELEIT (Flossenbürg), Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, stellte die Frage in den Raum, ob die Gedenkstätten sich nicht vom Begriff der „Gedenkstätte“ lösen sollten und sich viel stärker als „Memory Labs“ verstehen müssten. ALFONS KENKMANN (Leipzig) verwies auf die sehr disparate Gedenkstättenlandschaft, die von den etablierten, großen Häusern bis hin zu kleinen Gedenkorten reicht. Letztere vertrat ANDREAS EHRESMANN (Sandbostel), Leiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Er machte auf die schwierige personelle und finanzielle Lage der kleineren Häuser aufmerksam. Einig waren sich die Podiumsteilnehmer, dass Gedenkstätten „Orte des Widerspruchs“ sein könnten, an denen auch den an die Häuser herangetragenen Erwartungen diskursiv widersprochen werden sollte. Gedenkstätten können nur in einem begrenzten Rahmen gegen Antisemitismus und Rassismus wirken und stellen sicher kein Allheilmittel gegen extremistische und antisemitische Strömungen dar. An diesen Befund anknüpfend stand die Frage im Raum, ob und wie die Gedenkstätten ihre Arbeit in Zukunft ausrichten müssten, um ihre politische Rolle stärker auszufüllen. Jörg Skriebeleit plädierte für eine „Selbstbeunruhigung“, die ein sich ständiges Infragestellen meine, und das Schaffen von „Möglichkeitsräumen“ für neue Formate. Alfons Kenkmann stellte sich gegen den Vorwurf, in den Gedenkstätten werde politisch vorgegebene „Volkspädagogik“ durchgeführt, sondern verwies auf das bereits genutzte Potential des außerschulischen Lernortes. Andreas Ehresmann verdeutlichte ebenfalls die andere Logik, nach der Gedenkstätten im Gegensatz zu Schulen funktionieren, und hob die damit verbundenen Möglichkeiten hervor.

ULRIKE JUREIT (Hamburg) übernahm die schwierige Aufgabe, in ihrem Abschlussvortrag eine Zwischenbilanz zu ziehen und weiterführende Überlegungen zu formulieren. Sie verwies auf das sich abzeichnende Ende der Ära der Aufarbeitung und des Erinnerungskonsenses. Von rechter Seite sei letzterer aufgekündigt worden. In rechten und rechtsextremistischen Kreisen wird der Holocaust heute zumeist nicht mehr geleugnet, sondern er wird marginalisiert und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Dieses Ende des Erinnerungskonsenses hänge eng mit größeren gesellschaftlichen Prozessen zusammen, beispielsweise den demografischen Entwicklungen, den Tod der letzten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen und den Wandel hin zu einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. Die Gedenkstättenarbeit sieht sich vor zahlreiche Herausforderungen gestellt, die sich mit den im Laufe des Tages gefallenen Schlagworten „Von der Aufklärung zur Affirmation“, „Eventisierung der Geschichte“ und „Krise des Historischen im Allgemeinen“ umschreiben lassen.

Gedenkstätten, so Ulrike Jureit, müssten ihr eigenes Selbstverständnis als Institution und als Akteure überdenken. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Gedenkstätten in die Situation gebracht, sich politisch äußern zu müssen. In dieser situativen Herausforderung sei deutlich geworden, dass verstärkt darüber nachgedacht werden müsste, welche Expertise Gedenkstätten in politische Debatten einbringen können. Ebenfalls überdacht werden müsste das stark geänderte Verhältnis von Staat und Gedenkstätten. Beide befanden sich lange Zeit in einer diskursiven Auseinandersetzung. Heute bilden Gedenkstätten nicht selten die Kulisse für politische Inszenierungen. Die Gedenkstätten befinden sich dabei häufig in einem Dilemma. Auf der einen Seite weisen sie den Anspruch zurück, gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus immunisieren zu können. Zugleich ziehen sie aus dieser an sie gestellten Aufgabe ein hohes Maß an Legitimation und damit auch staatlicher finanzieller Unterstützung. So problematisch der Terminus „aus der Geschichte lernen“ auch sein mag, gelte es die Frage zu debattieren, welche Erkenntnisse und Lehren wir aus der Geschichte ziehen wollen. In dieser Debatte spielen Gedenkstätten, so Ulrike Jureit, im Moment eine ziemlich marginale Rolle.

Gedenkstätten werden viele Beschreibungen beigegeben. Sie seien beispielsweise Bildungsorte, Gedenkorte oder Lernorte. Deutlich seltener wird benannt, dass sie auch Friedhöfe sind. Die Erinnerung an diese Funktion helfe möglicherweise, so Ulrike Jureit, die teilweise „Überdidaktisierung“ zu überdenken. Es bedürfe vielmehr eine Rückbesinnung auf die Inhalte und einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen.

Martin Sabrows gleich zu Beginn der Tagung eingebrachter Hinweis, er können nur Fragen und Probleme aufwerfen, hätte aber keine fertigen Lösungen, ließe sich auf alle Diskussionsbeiträge übertragen. Allein die Tatsache aber, dass nach einer recht statischen Phase der Gedenkstättenarbeit seit einiger Zeit die zentralen Fragen nach der Selbstverortung, dem Selbstverständnis und der Zukunft gestellt werden, zeigt den Schwung, der in die Gedenkstättenlandschaft gekommen ist. Nun gilt es, sich in die Mühen der Ebene zu begeben und vor Ort die aufgeworfenen Fragen auszubuchstabieren und vom Abstraktem ins Konkrete zu übersetzen.

Konferenzübersicht:1

Martin Lätzel (Kiel): Grußwort

Karl Heinrich Pohl (Kiel): Grußwort

Martin Sabrow (Potsdam): Erinnern in der Zeitenwende – Zur Krise des Projektes historische Aufklärung

Podium I: »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus«? Gedenkstättenarbeit angesichts des Krieges in der Ukraine
Moderation: Stephan Linck, Evangelische Akademie der Nordkirche

Ekatharina Makhotina (Bonn) / Jörg Morré (Berlin) / Jens-Christian Wagner (Buchenwald / Weimar)

Podium II: Orte des Widerspruchs? Herausforderungen und Perspektiven der Gedenkstättenarbeit
Moderation: Andreas Eberhardt, Gründungsdirektor und Geschäftsführer der Alfred Landecker Foundation

Alfons Kenkmann (Leipzig) / Jörg Skriebeleit (Flossenbürg) / Andreas Ehresmann (Sandbostel)

Ulrike Jureit (Hamburg): Gedenkstätten und Erinnerungsorte im Krisenmodus? Zwischenbilanz zu einer Selbstverständnisdebatte, die gerade erst begonnen hat

Anmerkung:
1 Die einzelnen Beiträge sind durch die Evangelische Akademie der Nordkirche online zur Verfügung gestellt worden: https://www.youtube.com/playlist?list=PLS_SuO1GJ4v50UdM3DK6Evgzt5V1nQQ7Z (22.08.2022)

Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts