Tourismus und Aussöhnung in Europa

Tourismus und Aussöhnung in Europa

Organisatoren
Jan-Hinnerk Antons, Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg; David Feest, Nordost-Institut Lüneburg
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.09.2022 - 02.09.2022
Von
Melanie Hussinger, Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Vor dem Hintergrund einer alltagsgeschichtlichen Perspektive auf eine europäische Aussöhnung im Zeitalter der Weltkriege und des Ost-West-Konfliktes widmete sich der Workshop verschiedenen Facetten transnationaler touristischer Reisen. Inwiefern trugen durch Tourismus entstandene persönliche Kontakte zum Abbau von inkorporierten, transgenerationalen Feindbildern bei? Inwieweit wurden touristische Kontakte vom Fortbestehen eben dieser Feindbilder erschwert? Welchen Beitrag leistete der internationale Tourismus zur Aussöhnung, und wo stand die frühere Kriegsgegnerschaft dem Tourismus im Wege? Diese und weitere zentrale Fragen wurden an unterschiedlichen Fallbeispielen am Nordost-Institut in Lüneburg verhandelt.

Was grundsätzlich unter europäischer Aussöhnung verstanden werden kann, erörterte JAN-HINNERK ANTONS (Hamburg) in seinem Einführungsstatement: Der von verschiedenen Disziplinen – etwa theologischer, psychologischer oder geschichtswissenschaftlicher – zu beleuchtende Begriff der Aussöhnung zeichne sich vor allem durch seine Prozesshaftigkeit aus. Aussöhnung sei demnach kein Zustand, der erreicht werden soll, sondern vielmehr eine absichtsvolle Dynamik. Dass das Zusammendenken von Tourismus und Aussöhnung bislang in der Forschung vernachlässigt wurde, stellte Antons gleichsam heraus. Die Perspektive von unten verweise dabei auf den multimotivationalen Charakter von Tourismus; von klassischen Auslandsreisen zu Bildungsreisen bis zum heritage tourism, die nicht zwangsläufig eine Versöhnungsintention beinhalten.

Mit Kontinuitäten und Neuanfängen entlang des transnationalen Tourismus beschäftigte sich das erste Panel des Workshops. Im eröffnenden Vortrag zu transnationalen Begegnungen im europäischen Tourismus zwischen 1900 und 1930 stellte CLAUDIA C. GATZKA (Freiburg) das Wechselverhältnis von transnationalem touristischem Austausch und nationalen Feindbildern heraus. Die Bedeutung des Klassencharakters touristischer Unternehmungen betonend, verdeutlichte Gatzka das Wirken imperialer Formatierung des tourist gaze im europäischen Tourismus.

Mit der Wiederaufnahme deutsch-niederländischer touristischer Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich MATTHIAS FRESE (Münster). Obgleich die vorsichtige Annäherung beider Länder im Vordergrund gestanden habe, sei das eigentliche Ziel bei den Tourismusorganisationen und Reiseanbietern in beiden Ländern die Herstellung sowie der Ausbau neuer touristischer Kontakte und damit des touristischen Geschäfts gewesen. Der von deutscher Seite unausgesprochene Begriff der Aussöhnung sei dabei ein subkutanes Ziel zur eigenen Entlastung gewesen.

HALYNA ROSHCHYNA (Hamburg) stellte die vielfältige Tourismusgeschichte der ukrainischen Karpaten in der Zwischen- und Nachkriegszeit dar. Besonders die 1911 in Lemberg gegründete Jugend- und Pionierorganisation Plast habe sich als Organisator touristischer Reisen durch die Karpaten hervorgetan, die darauf abgezielt haben, das nationale Bewusstsein zu schärfen.

KIRSTEN BÖNKER (Köln) läutete das zweite Panel zu Praktiken der Versöhnung und Freundschaft ein. Mit einer Fallstudie zur Städtepartnerschaft zwischen Leningrad und Hamburg im Kalten Krieg verdeutlichte sie, dass Kommunikation und Reisen durch den Eisernen Vorhang bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zunahmen und dabei von einer Sprache begleitet wurden, die zusehends auf Annäherung ausgerichtet war, auch wenn der translokale Kommunikationsraum relativ beschränkt blieb.

Den Blick auf Südosteuropa richtend, referierte NIKOLA BAKOVIC (Gießen) zu einem Beispiel der innerstaatlichen Städtepartnerschaft – dem „Zug der Brüderlichkeit und Einheit“. Dieser verkehrte von 1961 bis 1989 zwischen Serbien und Slowenien und habe den ideologischen Rahmen für die Artikulation vielzähliger touristischer Praktiken geboten, der von einer Vielzahl von Akteur:innen auf kommunaler und republikanischer Ebene zur Förderung verschiedener institutioneller und kollektiver Interessen und Agenden genutzt wurde.

Sodann richtete JAN-HINNERK ANTONS (Hamburg) den Blick auf die transnationalen touristischen Verflechtungen zwischen Deutschland und Dänemark im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Obgleich die Bundesrepublik bereits Anfang der 1950er-Jahre zum beliebtesten Reiseziel der Dän:innen avancierte, hätten die NS-Besatzung und die damit verbundenen Verbrechen im dänischen kollektiven Gedächtnis nachgehallt. So hätten insbesondere revisionistische Forderungen aus der Bundesrepublik in den 1950er- und 60er-Jahren einer Versöhnung im Wege gestanden, die zur von der Bundesrepublik intendierten moralischen Wiederauferstehung hätte beitragen können.

Resümierend betonte Jörn Happel, dass Tourismus auch als Aneignungsprozess des Anderen, als othering verstanden werden könne. Bianca Hoenig warf auf, dass eine vermeintliche Versöhnung auch eine Dynamik entfalten könne, die in die konträre Richtung gehe. Insofern könne auch von „Entsöhnung“, von Entflechtung die Rede sein, was an mehreren Beispielen der Referent:innen deutlich geworden wäre. Zudem plädierte sie dafür, den Tourismusbegriff auch im Kontext der NS-Besatzungen, beispielsweise die dänische „Sahnefront“ im Wehrmachtsjargon, operabel zu machen. Grundsätzlich ließen sich zwei Formen des Tourismus ausmachen – symmetrischer und asymmetrischer –, wobei letzterer etwa in Empire-Strukturen Ausdruck erhielte, so Claudia Gatzka. Auch die nicht zu vernachlässigende ökonomische Bedeutung des Tourismus wurde hervorgehoben. So wären Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung des bundesdeutschen Tourismus verstärkt von ökonomischen Interessen geprägt gewesen. Dass der bilaterale Kontakt durchaus auch von Erfolg und Gegenseitigkeit geprägt sein kann, verdeutlichte noch einmal Kirsten Bönker am Beispiel der Hamburg-Leningrader Städtepartnerschaft. Insbesondere die sowjetische Seite habe im transnationalen Reiseverkehr zwischen dem „bösen Regime“ und dem „guten Volk“, das Absolution durch die Anerkennung der UdSSR erhalten könne, unterschieden, so David Feest. Wo die Grenzen des mitunter Jahrzehnte umfassenden Aussöhnungsprozesses liegen, hat sich am 24. Februar 2022 gezeigt, als Hamburg die Städtepartnerschaft aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt hat.

Das dritte Panel hob Tourismus auf eine erinnerungskulturelle Ebene, indem es sich unter anderem dem Zusammenspiel von touristischen Besuchen von Gedenkstätten und Erinnerungsorten widmete. Mit dem heritage tourism und der Denkmalpflege am Beispiel deutsch-polnischer Beziehungen befasste sich LIONEL PICARD (Dijon). Der in den 1970er-Jahren aufkommende deutsche Heimattourismus avancierte vom Vermittler sentimentaler Gefühle für die alte Heimat zum Umsetzer konkreter Projekte für die Pflege des deutschen Kulturerbes, aber auch der deutsch-polnischen Aussöhnung.

Unter emotionsgeschichtlicher Herangehensweise analysierte ALEXEY KOTELVAS (Hamburg) sowjetische Reiseberichte, die nach der Europareise des Schiffs Pobeda 1956 entstanden waren. Kotelvas stellte heraus, dass das „emotionale Regime“ der frühen Tauwetterjahre seine Semantik mit Blick auf die Darstellung und Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges änderte. So haben öffentliche Darstellungen des Krieges nicht mehr nur als Argument für die Überlegenheit des sowjetischen Systems gedient, sondern auch als Mittel zur Stärkung der emotionalen Bindungen zu den europäischen Völkern.

Das Phänomen des dark tourism in den Blick nehmend, erörterte der Soziolge ILYA SULZHYTSKI (Greifswald) mit digitalen Methoden, welche Bedeutung den von Besucher:innen der Konzentrationslager-Gedenkstätten in Polen hinterlassenen TripAdvisor-Einträgen für einen Aussöhnungsprozess beigemessen werden kann.

Dass der Tourismusbegriff insbesondere für NS-Gedenkstätten anders gedacht werden müsse, wurde sodann Kern der Diskussion. So stünde gerade vermeintlich normales touristisches Verhalten der Funktion des Ortes als Gedenkstätte diametral entgegen. Daneben betonte Ilya Sulzhytski, dass die Gedenkstätte Auschwitz vielmehr von einer Zukunftsvision getragen werde als vom Konzept der Aussöhnung. Bianca Hoenig fragte, in welchem Verhältnis Aussöhnung und Gedenken stünden und ob Aussöhnung überhaupt zukunftsgerichtet sein müsse.

Den Charakter des multimotivationalen Tourismus unterstreichend, warf das letzte Panel den Blick auf (vermeintlich) politische Motive für touristische Besuche der Sowjetunion. KIM FREDERICHSEN (Copenhagen) veranschaulichte am Beispiel der dänisch-sowjetischen Freundschaftsassoziation entlang eines intent-experience-perception/reception-Modells, dass der dänische Tourismus in Form organisierter Pauschalreisen in die Sowjetunion einen gewissen Einfluss bei der Überwindung der ideologischen Kluft des Kalten Krieges ausüben konnte und die Versöhnung mit den „Anderen“ jenseits des Eisernen Vorhangs gefördert hat.

Mithilfe der Analyse von KGB- und CIA-Dokumenten warf ODETA RUDLING (Greifswald) den Blick auf ethnic tourism in die Litauische Sozialistische Sowjetrepublik (LSSR) ab Mitte der 1950er- bis in die 1970er-Jahre. Ethnischer Tourismus sei ein Quellenbegriff, den die sowjetischen Sicherheitsbehörden für litauische Landsleuten aus den USA oder anderen westlichen Staaten verwendeten, die die LSSR besuchten und als besonders verdächtig galten. Die Aktivitäten der litauischen Reisenden könnten als Fern-Nationalismus verstanden werden, der darauf abzielte, die nationale Identität zu bewahren und zu entwickeln, so Rudling.

Dass die Annäherung der Gäste an die politischen Ideale des Gastgeberlandes das explizite Ziel des sowjetischen Fremdenverkehrs gewesen sei, betonte DAVID FEEST (Lüneburg), der sich – unter Heranziehung von Berichten der Verwaltung für Auslandstourismus beim Ministerrat der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ESSR) sowie KGB-Berichten – mit dem Tourismus nach Tallinn von der zweiten Hälfte der 1960er- bis in die frühen 70er-Jahre auseinandersetzte. Aussöhnung sei bei diesen touristischen Begegnungen ein tragendes Element gewesen, auch wenn die von sowjetischer Seite vorausgesetzten starren Kategorien die tatsächlichen Haltungen der Reisenden gegenüber ihrem Gastgeberland ausgeblendet hätten.

Im abschließenden Kommentar plädierte Bianca Hoenig für ein grundsätzliches Nachschärfen bei der Verwendung der Begriffe Tourismus und Aussöhnung. Tourismus beinhalte mannigfaltige Motive, die sich überschneiden könnten, was im Workshops an unterschiedlichen Beispielen deutlich geworden sei. Doch welche Angebote könnten nun tourism studies machen? Innerhalb der Forschung sei ein verstärkter Fokus auf den tourist gaze sowie touristische Praktiken an sich dienlich. Aber auch die Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen Eigenem und Fremden sei von Bedeutung. Aussöhnung erfordere wie Tourismus eine konkrete Praxis; sie sei kein Zustand, sondern prozessual. Aussöhnung fordere geradezu nach Aktualisierung in Form von Ritualen. Je konkreter Aussöhnung praktiziert werde, desto wirkmächtiger sei sie. Um erfolgreich zu sein, benötige sie gemeinsame Themen und spezifische Situationen. Als durchgängiges und damit nicht zu vernachlässigendes Motiv hob Hoenig schließlich die Wirtschaftlichkeit hervor. In Ost und West sei die Versöhnung immer auch ein Verkaufsargument für touristische Reisen gewesen. Überspitzt ließe sich formulieren, dass Tourismus fähig sei, (schmerzhafte) Vergangenheit in Ware umzuwandeln, wodurch diese Vergangenheit bearbeitet werden könne.

Konferenzübersicht:

Jan-Hinnerk Antons (Hamburg) / David Feest (Lüneburg): Begrüßung und Einführung

Panel 1: Kontinuitäten und Neuanfänge
Moderation: Joachim Tauber

Claudia Gatzka (Freiburg): Die touristische Metropole als europäischer Begegnungsraum. Hauptstadttourismus und interkulturelle Wahrnehmungen in Reiseführern der Vorkriegs- und Zwischenkriegszeit

Matthias Frese (Münster): Deutsche und niederländische Annäherungen. Rekonstruktion und Intensivierung abgebrochener Kontakte durch touristische Besuche nach dem Zweiten Weltkrieg

Halyna Roshchyna (Hamburg): Die Entdeckung der Berge. Tourismus in den ukrainischen Karpaten in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit

Panel 2: Praktiken der Versöhnung und Freundschaft
Moderation: Jörn Happel

Kirsten Bönker (Köln): „Mit den Sowjets über den Jungfernstieg“: Reisen als Praktik der Versöhnung in der Städtepartnerschaft Hamburg – Leningrad im Kalten Krieg

Nikola Bakovic (Gießen): Brothers to friends. The Train of Brotherhood and Unity (1961–1989) and the Intra-National Town-Twinning in the Second Yugoslavia

Jan-Hinnerk Antons (Hamburg): Besetzen und Besuchen. Deutsch-dänische Tourismusbeziehungen im Schatten des Zweiten Weltkrieges

Panel 3: Reisen und Gedenken: Gedenkstätten und Erinnerungsorte
Moderation: Lena Radauer

Lionel Picard (Dijon): Die deutsch-polnische Aussöhnung mit Denkmalpflege und Heimwehtourismus fördern

Alexey Kotelvas (Hamburg): War and Peace: The Image of World War II in the Emotional Regime of Early Thaw Travelogues

Ilya Sulzhytski (Greifswald): Can Dark Tourism Promote Reconciliation? Some Insights from TripAdvisor Reviews of Nazi Death Camps in Poland

Panel 4: Tourist:innen mit Mission – Politische Motive für Besuche der (ehemaligen) Sowjetunion
Moderation: Melanie Hussinger

Kim Frederichsen (Copenhagen): More than pilgrimages? Travelling to the USSR with the Danish-Soviet Friendship Association

Odeta Rudling (Greifswald): The „Ethnic Tourism“ to Soviet Lithuania and the Activities of Long-Distance Nationalism, 1955–1972

David Feest (Lüneburg): Begegnungen nach Plan? Estnische Reiseleiter:innen und politische Konflikte mit westlichen Tourist:innen

Kommentar: Bianca Hoenig