Bad Pyrmont - ein Ort ohne Grenzen?

Bad Pyrmont - ein Ort ohne Grenzen?

Organisatoren
Forschungszentrum Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN), Universität Osnabrück
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2022 - 30.09.2022
Von
Samuel Arends, Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN), Universität Osnabrück; Marcel Lewerentz, Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN), Universität Osnabrück

Kur- und Badeorte erlangten im 18. Jahrhundert eine zunehmende Bedeutung. Ihre Funktion begrenzte sich nicht allein auf die Heilung und Regeneration, sondern sie waren auch ein Ort der Geselligkeit und der aufklärerischen sowie politischen Diskussion. Eine zentrale Rolle nahm dabei Bad Pyrmont ein, wie KATHLEEN BURREY (Osnabrück) und KARL PIOSECKA (Osnabrück) in ihren einleitenden Worten zur Tagung betonten. Als Teil des vom Land Niedersachsen geförderten Projektes Aufklärer in Staatsdiensten des Forschungszentrums IKFN (Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit) der Universität Osnabrück rückt auch die Bäderkultur in den Fokus und damit Pyrmont, das ein wichtiges Kommunikationszentrum der Aufklärung im Nordwesten darstellte. Prominente Kurgäste dieser Zeit, u.a. Justus Möser und Gotthold Ephraim Lessing, trafen hier im Rahmen der sogenannten „Brunnenfreiheit“ zusammen. Daneben kam es zur Interaktion zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten wie Fürsten, Gelehrten und Schriftstellern. Mit der offenen Konzeption der Tagung sollte der im Titel gestellten Frage nach dem grenzüberschreitenden Potenzial dieses Kurorts Rechnung getragen werden. Damit waren nicht nur Grenzen im topographischen Sinne gemeint, sondern auch kulturelle, soziale, politische und kommunikative. Welche Grenzen wurden eingerissen oder umgewandelt – z.B. in Zwischen- oder Möglichkeitsräume – und welche mussten im Kurort neu verhandelt und gezogen werden? Wie nahmen Brunnengäste und Durchreisende diesen Kurort für sich und ihre Handlungsspielräume wahr? Wie lässt sich das Verhältnis von „Aufklärung“ und „Brunnenfreiheit“ bestimmen?

Die erste Sektion der Tagung widmete sich dem Kurbad im 18. Jahrhundert und der Rolle Bad Pyrmonts. Eröffnet wurde dieser Teil durch den Vortrag ASTRID KÖHLERS (London) zur Beschreibung von Pyrmont (1784) des dortigen Brunnenarztes Heinrich Matthias Marcard. Köhler hob zu Beginn die elementare Bedeutung von Marcards Schrift für den Kurbaddiskurs heraus. Anders als Johann Philipp Seip habe Marcard mit seinem Werk die bisherigen Schriften zu Pyrmont fundamental aktualisiert, sodass dieses Referenzcharakter für künftige „Brunnenführer“ bekommen habe. Dabei legte der Brunnenarzt besonders Wert auf die Darstellung der Geselligkeit im Tagesablauf, die bei Seip noch als Nebenprodukt proklamiert worden sei. Vermehrte soziale Interaktion sei durch eine Verschiebung von einer Bade- zu einer weniger zeitintensiven Trinkkur möglich geworden. Die Kur der Seele war nach Marcard genauso zentral wie jene des Körpers. Dies begründe sich u.a. in der Annahme einer leibseelischen Gesamtheit in Form des Lebenskraftkonzeptes. Demnach habe auch die Umwelt Einfluss auf die Heilung des Kurgastes. Köhler betonte abschließend, dass Pyrmont in Marcards Beschreibung im Zuge der anthropologischen Wende zu einem Ort ganzheitlicher Heilung geworden sei und er Aspekte der Kur erkannt habe, welche für die kommenden Jahrhunderte von Relevanz blieben.

An den bei Marcard anklingenden Aspekt der Lebenskraft schloss REINHILD LOHAN (Graz) an. Sie betrachtete insbesondere dessen Bedeutung im medizinisch-sozialen Bereich des Kurbads. Eine zentrale Rolle nahm hierbei Christoph Wilhelm Hufeland ein, welcher zu einem der wesentlichen Multiplikatoren der Lebenskraft-Theorie gehörte. Diese ging davon aus, dass im menschlichen Körper eine immanente Kraft bestehe, deren Wirken erkennbar, aber weder medizinisch noch naturwissenschaftlich erklärbar sei. Krankheit wurde in diesem Zusammenhang zu einer Reaktion der Lebenskraft auf äußere Reize. Als eine Vermittlerin zwischen Seele und Körper sei sie demnach auch durch den Menschen beeinflussbar und könne zu einer Selbstheilungskraft werden. Hufeland habe in seinem Buch Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1797) einen therapeutischen Ansatz für die Lebenskraft durch eine Kur geliefert, bei dem die Bedeutung der Einnahme von Mineralwasser im Zentrum stehe.

Die Frage nach einer Utopizität Pyrmonts als Badeort stellte anschließend SANDRA MARKEWITZ (Vechta) mit Blick auf das schon diskutierte Werk Marcards. Mit dem zeitgenössischen Konzept der „Brunnenfreiheit“ war die Vorstellung einer Vereinigung gesellschaftlich getrennter Sphären an Badeorten verbunden, sodass diese entgrenzend gewirkt hätten. Marcard unterstütze einerseits das Bild des Bades als „Gleichmacher“. Der Ort Pyrmont zeige schon durch seine freie Tallage eine gewisse Offenheit. Dies führe zu einer fast theatralen Inszenierung bei Marcard. Inwieweit jedoch die angenommene Offenheit und somit Utopie auf Pyrmont zugetroffen habe, sei jedoch zu hinterfragen. Auch wenn eine Grenzüberschreitung gewünscht worden sei, so bestünde in Marcards Schrift andererseits der Hinweis auf den weiterhin existenten und wahrnehmbaren Adelsstolz fort. Insbesondere der Umgang mit der Kleidung sei ein Beispiel, durch welches deutlich werde, dass Herrschaft am Brunnen nicht gänzlich vergessen gewesen sei und die Utopie einer überständischen Gemeinsamkeit versagt habe. Die Kur behalte bei Marcard vielmehr ihren vornehmlich individuellen Charakter. Obwohl der Brunnenarzt neue Interaktionsformen anspreche, die sich für die Zeit der Kur entwickeln können, hätten diese keinen Anspruch auf eine Anwendung in der gesamten Gesellschaft gehabt. In diesem Zusammenhang gewinne der Heterotopie-Begriff Michel Foucaults eine zentrale Bedeutung, dessen Anwendung auf Pyrmont zu prüfen sei.

In ihrem Beitrag griff UTE LOTZ-HEUMANN (Tucson, AZ) diesen Gedanken der Heterotopie bei Kurorten auf und stellte die Frage, welche Rolle soziale Grenzen im Kuralltag spielten. Bereits Zeitgenossen hätten Kurorte als Zwischenräume definiert. Ihre Besonderheit liege darin, dass sie als räumlich und zeitlich abgegrenzte Räume existierten, aber der Alltag weiterhin in sie hineinreichte. Kurorte seien dabei als Projektionsfläche für die Gleichstellung des Bürgertums mit dem Adel aufgefasst worden. Neben der „Brunnenfreiheit“ habe der „Ton“ eines Ortes den Kurbaddiskurs geprägt, dessen Qualität Lotz-Heumann an Beispielen wie Tisch- und Kleiderordnungen sowie an der Interaktionsbereitschaft adliger Kurgäste mit Bürgerlichen zu bestimmen versuchte. In der Gesamtschau allerdings könnten Kurorte nicht uneingeschränkt als Heterotopien aufgefasst werden, schlussfolgerte Lotz-Heumann, da Adel und Bürgertum auf eine Abgrenzung zu Kurgästen aus niederen Ständen bedacht gewesen seien. Doch gerade für Adel und Bürgertum könne kein gänzliches Scheitern der Heterotopie-Idee konstatiert werden: Diesen sei es durchaus gelungen, für die Zeit der Kur Standesgrenzen zu durchbrechen. Daher seien Kurorte zwar keine Orte ohne Grenzen, aber dennoch Orte mit weniger Grenzen gewesen.

Im Abendvortrag beleuchtete ANETT LÜTTEKEN (Zürich) die zeitgenössische literarische und musikalische Verarbeitung von Kur- und Badeorten, die man als „Kurort-Marketing“ bezeichnen könne, und verglich u.a. die Tagesabläufe in verschiedenen Orten. Lütteken verwies exemplarisch auf die poetische Rühmung durch Valerius Wilhelm Neubeck, der in seinem Lehrgedicht Die Gesundbrunnen (1795) Pyrmont eine Sonderstellung vor anderen Kurorten eingeräumt habe, und auf Charlotte Wilhelmine von Donops Gedichtzyklus zu den Schönheiten und wundersamen Heilkräften Pyrmonts (1750). Neben solchen Preisungen sei ebenso eine Behandlung der Kur aus christlicher Perspektive im Diskurs wahrnehmbar, die als seelsorgerische Ratgeberliteratur den Kurgästen zur Erbauung dienen sollte. Allerdings hätten zeitgenössische Autoren die Kur nicht uneingeschränkt positiv dargestellt. In der Literatur sei insbesondere Kritik im Zusammenhang mit Hypochondrie und Reizüberflutung ausgeübt worden. Für Pyrmont liefere Georg Christian Sponagels Meine viertägigen Leiden im Bade zu Pyrmont (1809) ein spöttisch-sarkastisches Abbild auf die reale Kurwelt vor Ort. In ihrem Vortrag präsentierte Lütteken außerdem vielfältige musikalische Stücke, die explizit für Kurbäder geschrieben wurden oder von diesen inspiriert waren. Dieses musikalische Rahmenprogramm in Kurorten und das zeitgenössische Verständnis hinsichtlich der medizinischen Funktion sei ein bisher wenig untersuchtes Gebiet.

Die zweite Sektion widmete sich den zahlreichen Besuchen der Osnabrücker Familie Möser in Pyrmont und wurde von BRIGITTE ERKER (Weimar) mit ihrer Fallstudie zu der Tochter Justus Mösers, Jenny von Voigts, eröffnet. Sie verwies dabei auf das heterotopische Potenzial von Badeorten insbesondere für Frauen, für die sich hier Möglichkeiten geboten hätten, die ihnen aufgrund damaliger Geschlechternormen ansonsten eher verwehrt blieben. Dies zeige sich anschaulich am Beispiel Jenny von Voigts’, die ihren Vater bei seinen jährlichen Kuren stets begleitete. Erker illustrierte, wie stark Jenny von Voigts in gesellige Kreise in Pyrmont eingebunden war und wie es ihr gelang, zahlreiche Kontakte zu knüpfen. Besonders interessiert sei sie an Literaten gewesen, etwa Friedrich Nicolai, Joachim Heinrich Campe und Johanna Schopenhauer. Standesübergreifende Beziehungen hätten sich hingegen auf Ausnahmen beschränkt, wie z.B. auf Luise von Sachsen-Weimar. Grund hierfür sei auch Jennys Ablehnung von Etikette und höfischen Umgangsformen gewesen. Sie bevorzugte kleine Gesellschaften, wie sie an der Tafel von Justus Möser in Pyrmont zelebriert worden seien. Dies zeige laut Erker auch, dass Jennys vielfältige Kontakte ohne ihren berühmten Vater kaum möglich gewesen wären. Andererseits sei sie von vielen Zeitgenossen durchaus auch als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen worden, die mit ihren Teegesellschaften einen – für Pyrmont außergewöhnlich – eigenen privaten Zirkel gebildet habe.

Im Anschluss daran thematisierte JENNIFER STAAR (Osnabrück) den Zusammenhang zwischen den Kuraufenthalten Justus Mösers und seiner aufklärerischen Tätigkeit. Sie zeigte anhand eines netzwerkanalytischen Zugangs, dass es trotz schwieriger Quellenlage möglich sei, Verbindungslinien zwischen aufklärerischen Diskursen und Kuraufenthalten zu ziehen. Konkret illustrierte sie dies anhand des Diskurses über die Osnabrücker Medizinalordnung in den 1770er Jahren. Die Auseinandersetzung sei dabei als umfangreicher Kommunikationsprozess zu verstehen, in dem Möser dem Austausch mit überregionalen Experten einen besonderen Stellenwert zugemessen habe. Schon früh habe er daher den Briefkontakt zu den Ärzten Johann Peter Brinckmann und Christoph Ludwig Hoffmann gesucht. Die Akteure verabredeten sich gezielt für ein Treffen in Pyrmont, da sie den persönlichen Austausch bevorzugten. Daher habe Möser seinen Aufenthalt beispielsweise auch mit Brinckmann abgestimmt. Mithilfe der Kurlisten könne auf einen zeitgleichen Kurbesuch Mösers und Brinckmanns geschlossen werden, weshalb persönliche Gespräche über die Medizinalordnung anzunehmen seien. Darüber hinaus sind in den Verzeichnissen weitere Ärzte und Apotheker aufgeführt. Dies verdeutliche das enorme Potential zur Vernetzung und zum Austausch, das sich dem Aufklärer Möser im Rahmen seiner Kuraufenthalte in Pyrmont geboten habe.

Dass Pyrmont nicht nur als Ort aufklärerischer Geselligkeit angesehen werden kann, sondern auch als Inspirationsort für aufklärerische Projekte dienen konnte, zeigte KATHLEEN BURREY (Osnabrück) anhand Justus Mösers Projekt „Strumpfstricken“ auf. Während seines Kuraufenthaltes in Pyrmont habe sich der Aufklärer beeindruckt von der Wirtschaftlichkeit des Verkaufs Pyrmonter Strümpfe und dem Eifer der einheimischen Frauen gezeigt, die selbst auf dem Weg zu anderen Anlässen noch Strümpfe gestrickt hätten. Inspiriert von diesem Verhalten habe Möser in seinem Aufsatz Vorschlag zur Beschäftigung der Züchtlinge (1767) vorgeschlagen, an das geplante Zuchthaus in Osnabrück ein Arbeitshaus anzubinden, um die Insassen auf diese Weise in die Textilproduktion einzubinden und dadurch ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Auf der einen Seite habe er hierbei ökonomische Interessen verfolgt. Auf der anderen Seite könne auch von einem pädagogischen Ansatz ausgegangen werden, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verfolgt worden sei. Dass Möser seine durch Bad Pyrmont inspirierte Idee tatsächlich umsetzte, wies Burrey anhand der überlieferten Arbeits- und Verdienst-Register des Zuchthauses nach.

In der dritten Sektion stand die literarische Verarbeitung des Kurorts Bad Pyrmont im Vordergrund. Die Frage nach Charakter und Funktion des Theaters in Pyrmont stellte MARTIN RECTOR (Hannover) in seinem Vortrag. Dabei betonte er die dürftige Quellenlage, die ein lückenloses Bild über das Pyrmonter Theaterwesen unmöglich mache. Daher könne man zunächst lediglich vermuten, dass sich das Pyrmonter Publikum nicht dezidiert für das dortige Theater entschied, sondern eher aus einem Mangel an sonstigen Angeboten. Rector zog drei Fallstudien heran, die Einblicke in die Modalitäten und Rezeption des Theaters am Kurort sowie dessen Entwicklung geben sollten. Mit Hilfe des Theaterstücks Les Eaux de Pirmont (1669) von Samuel Chappuzeau und des Prosatextes Geschichte meiner Reise nach Pyrmont (1773) eines anonymen Autors analysierte er die zeitgenössische Kritik. Laut Rector müsse man dies nicht nur als übertriebene Persiflage, sondern auch als Reflex auf reale dürftige Theaterverhältnisse in Pyrmont verstehen. Als drittes zeigte Rector Goethes geringes Interesse für das Pyrmonter Theater um 1800 auf, was darin begründet gewesen sei, dass die dortige naturalistische Ausrichtung Goethes klassischen Vorstellungen diametral gegenübergestanden habe.

Der zweite Vortrag der Sektion widmete sich spezifisch der bereits am Vortag diskutierten Beschreibung von Pyrmont (1784) von Heinrich Matthias Marcard, die KARL PIOSECKA (Osnabrück) unter Berücksichtigung von Ästhetik und Ethik analysierte. Der Text erwecke dabei ein inszeniertes Idealbild der Pyrmont umgebenden Landschaft, das keine Rückschlüsse auf die topographischen Gegebenheiten vor Ort zulasse, sondern in dem vielmehr ein implizites ästhetisch-ethisches Programm erkennbar sei. Deutlich werde dies u.a. in der Begriffsverwendung Marcards, die sich an zeitgenössischen ästhetischen Diskursen orientiere. In aufklärerischer Manier habe dieser aus der Ästhetik der Landschaft eine Sozialethik abgeleitet. Marcard setze durch seine Beschreibungen und Verweise auf eine ideale Umgebung den realen Naturraum in einen ästhetischen Bildausschnitt. Die Gegend um Pyrmont sei auf diese Weise von einer reinen Natur zu einer inszenierten Landschaft erhoben worden. Piosecka schlussfolgerte, dass die ästhetische Landschaft dadurch insgesamt als Emanzipationssymbol für das Bürgertum und somit als ethisches Korrektiv gedient habe, indem mithilfe der aus der Ästhetisierung der Landschaft abgeleiteten Sozialethik eine verlorengegangene, natürliche und ideale Gesellschaftsordnung wiedergewonnen werden sollte.

MAXIMILIAN BACH (Freiburg) komplettierte die Sektion mit seiner literatursoziologischen Betrachtung der Kursatire Der schöne Geist in Pyrmont (1799) von Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr. Im Zentrum dieser Lokalposse stehen die sozialen und literarischen Karrierestrategien des Protagonisten und Erfolgsschriftstellers Arist, für den der temporäre Aufenthalt am Badeort als Sprungbrett für ein langfristiges Wirken in einer großen Residenzstadt dienen soll. Auf Basis seines kulturellen Kapitals als angesehener Literat erhoffe er sich das Vordringen in adlige Kreise. Bach illustrierte dies anhand von zwei Strategien. Seine Anbiederung bei den anwesenden Fürsten scheitere jedoch ebenso wie der anschließende Versuch, eine Verlobung mit einer adligen Dame zu erreichen. Letztendlich gelinge es ihm also nicht, Standesgrenzen zu überwinden. Hierdurch konterkariere Ramdohr die häufig mit Badeorten konnotierten bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen.

Im Anschluss an die dritte Sektion bot sich schließlich die Möglichkeit zum Austausch und zur Diskussion. OLAV KRÄMER (Osnabrück) lieferte hierfür zunächst ein kurzes Fazit der Tagungsbeiträge. Im Rahmen der Tagung sei für Kurbäder im Allgemeinen und Bad Pyrmont im Besonderen die postulierte Aufhebung sozialer Grenzen diskutiert worden. Es bestünde Konsens, dass sich solche Grenzüberschreitungen an Kurorten zwar nur in einem sehr geringen Maße zeigten, aber nichtsdestotrotz stattfanden. Die Andersartigkeit Pyrmonts im Vergleich zur Gesamtgesellschaft sei, wenn auch eingegrenzt, vorhanden gewesen. Dennoch hätten viele gesellschaftliche Strukturen auch hier weiterhin Geltung behalten. Dies treffe besonders, wie im Fall Jenny von Voigts’ gezeigt wurde, auf das kulturelle Kapital zu, welches essentiell für die Partizipation mit höheren Kreisen während einer Kur geblieben sei. Gerade dessen Konvertierung schien in Pyrmont zu einem hervorgehobenen Grad möglich gewesen zu sein. Zudem sei deutlich geworden, dass in Kurbädern eine gewisse Selbstinszenierung der Kurgäste ablesbar sei. Gäste hätten eine erwählte oder ihnen gesellschaftlich zugeschriebene Rolle gespielt. Die spezifische Qualität des auf der Tagung zentral betrachteten Kurorts Pyrmont liege in einer multiplen Partikularität: Der Ort sei besonders teuer und berühmt gewesen, was sich in der literarischen Verarbeitung gezeigt habe. Ebenso habe es hier sozial-kommunikative Möglichkeiten gegeben, die Aufklärer wie Möser anzogen. Dabei müsse allerdings kritisch gefragt werden, ob dies wirklich ein Alleinstellungsmerkmal Pyrmonts gewesen sei. Bei der in vielen Vorträgen hervorgehobenen literarischen Gestaltung und Deutung Pyrmonts zeige sich ein breites literarisches Spektrum. Dieses reiche von satirisch übertreibenden Gedichten über desillusionierende Berichte bis hin zu Projektionstexten für sozialethische Ideale auf den Kuralltag. Dabei sei eine Entwicklung von faktualem Anspruch zu einer Verselbstständigung von Pyrmont in den Texten hervorgetreten. Dieser Kurort erscheine als ein verdichtetes Symbol für die stattfindende Entwicklung im Kurwesen, sodass sich die Frage stelle, ob Bad Pyrmont Ende des 18. Jahrhunderts gar selber zu einem Topos geworden sei.

In der anschließenden Diskussion stimmten die Teilnehmenden den Einschätzungen Krämers zu und unterstrichen die Rolle Pyrmonts unter den europäischen Kurorten. Der häufig zitierte Foucault’sche Begriff der Heterotopie dominierte die Debatte. Seine Anwendung auf Bade- und Kurorte verdiene eine kritische Prüfung. Neben einzelnen bejahenden Stimmen, dass dieser Begriff mit Blick auf die Kurorte durchaus überstrapaziert sei, betonten andere Teilnehmende, dass dessen Attraktivität eben gerade in der Flexibilität des Konzepts liege. Dennoch sei die Arbeit mit dem Heterotopie-Konzept produktiver als mit dem zeitgenössischen Begriff der „Brunnenfreiheit“. Heterotopie spiegele sowohl positive als auch negative Aspekte wider. Darüber hinaus klangen neben den neugewonnenen Erkenntnissen auch zu füllende Desiderate an. Mit Blick auf die angenommenen, aber hinterfragten Grenzüberschreitungen müssten die Untersuchungen noch um den Aspekt der weiblichen Partizipation erweitert werden. Gleiches gelte für interreligiöse und, angesichts sich im 18. Jahrhundert intensivierender Nationalstereotype, internationale Grenzaufhebungen. Potenzial wurde ebenso in einer Analyse von Aufklärer- und Sozietätsnetzwerken gesehen. Gleichfalls sei die Frage des Zusammenhangs von Arbeit und Müßiggang zu untersuchen, da gerade jene, die am Kurort arbeiteten, um das Vergnügen möglich zu machen, bislang vergessen worden seien. Abschließend wurde kritisch ein Plädoyer für eine vertiefte Quellenkritik erhoben und die Rolle der Forschenden vergegenwärtigt. Zum einen dürfe bei der Analyse der Briefe, Berichte und Schriften zu Kurorten nicht vergessen werden, dass diese grundlegenden Texte den Charakter einer Selbstbelobigung hätten. Verfasserinnen und Verfasser seien alle Mitglieder einer spezifischen Szene in den Kurorten und verfolgten eine Selbstinszenierung. Zum anderen wurde auch die ambivalente Position der Forschenden unterschiedlicher Disziplinen unterstrichen: Indem nämlich die wissenschaftliche Community Kurbäder in ihren Untersuchungen teils desillusionieren würde, setze dennoch durch die gesonderte Fokussierung eine (Re-)Illusionierung ein.

Im Anschluss an die Tagung fand eine Exkursion nach Bad Pyrmont statt. Nach einer einleitenden Begrüßung durch den Bürgermeister Klaus Brome, in der er die zukünftige Entwicklung des Kurortes thematisierte, schloss DIETER ALFTER (Bad Pyrmont) mit seinem Vortrag zur Geschichte des Kurortes an die vorherigen Beiträge an. Dabei sprach Alfter über die Entdeckung des Kurzentrums durch die ersten Gäste der höfischen Welt und den dadurch entstandenen Kur-Tourismus, der insbesondere durch Abbildungen beworben worden sei. In seinem Überblick ging Alfter auf den praktischen Kuraufenthalt ein und darauf, wie sich dieser im Laufe der Zeit verändert und damit auch die Gestaltung des Kurortes beeinflusst habe: So entwickelte sich die Hauptallee zu einem gesellschaftlichen Zentrum, was u.a. am dort platzierten Theater und der Spielbank zu erkennen sei. Bei der anschließenden Führung durch die Kuranlagen konnten die Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer die zentralen Plätze des alltäglichen Kurlebens besichtigen und zuvor diskutierte Fragen noch vertiefen. So wurden die Grenzen der standesübergreifenden Geselligkeit bereits mit einem getrennten Aufbau der Hauptallee für die höheren und niederen Stände klar markiert. Mit einem Querschnitt komplettierte Melanie Mehring die Stadt- und Kurgeschichte Bad Pyrmonts mithilfe von Exponaten aus verschiedenen Jahrhunderten. Gärtnermeister Michael Mäkler gab einen Einblick in die Entwicklung der Kurparkgestaltung im Laufe der Jahrhunderte und ging auch auf aktuelle Herausforderungen wie den Klimawandel ein.

Konferenzübersicht:

Sektion I - Das Kurbad im 18. Jahrhundert

Astrid Köhler (London): Heinrich Matthias Marcards Beschreibung von Pyrmont und der Paradigmenwechsel im Kurbaddiskurs der Aufklärung

Reinhild Lohan (Graz): Das Phänomen ,Lebenskraftʽ im 18. Jahrhundert. Assoziationen im medizinisch-sozialen Bereich des Kurbades

Sandra Markewitz (Vechta): Kur, Utopie und Überschreitung: das Beispiel Bad Pyrmont

Ute Lotz-Heumann (Tucson, AZ): „...sich an freier Luft der Freiheit des Lebens zu erfreuen“. Die teutschen Kurorte im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Anett Lütteken (Zürich): „In Bad Pyrmont wird der Curgast alle Morgen von einer Hoboistengesellschaft aufgeweckt“. Kurwelt(en) des 18. Jahrhunderts im Vergleich

Sektion II - Familie Möser in Bad Pyrmont

Brigitte Erker (Weimar): „... ich war bei vielen der Gegenstand der Anmerckungen“. Über Jenny von Voigts Aufenthalte in Pyrmont

Jennifer Staar (Osnabrück): Kuraufenthalte als Teil aufklärerischer Geselligkeit? Justus Mösers Reisen nach Bad Pyrmont

Kathleen Burrey (Osnabrück): Bad Pyrmont als Ort der Inspiration – Justus Mösers Projekt ‚Strumpfstricken‘

Sektion III - Bad Pyrmont als literarische Bühne

Martin Rector (Hannover): Wozu das Theater? Wandernde Schauspielergesellschaften in Pyrmont zur Brunnenzeit

Karl Piosecka (Osnabrück): Schöne Landschaft – ideale Gesellschaft? Ästhetik und Ethik in Heinrich Matthias Marcards Beschreibung von Pyrmont (1784)

Maximilian Bach (Freiburg): Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohrs satirische Erzählung Der schöne Geist in Pyrmont (1799) aus literatursoziologischer und kulturgeschichtlicher Perspektive

Abschlussdiskussion mit Olav Krämer (Osnabrück)

Sektion IV - geschlossene Exkursion: Auf den Spuren der Brunnengäste

Dieter Alfter (Bad Pyrmont): „Bis wir uns in Pyrmont sehen …“ – Ein sommerliches Zentrum einer Regionen und Stände übergreifenden Kommunikation im 18. Jahrhundert