36. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

36. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Organisatoren
Sarah Thieme, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms- Universität Münster; Martin Belz, Institut für Mainzer Kirchengeschichte, Bistum Mainz; Markus Leniger, Katholische Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn
PLZ
58239
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
11.11.2022 - 13.11.2022
Von
Sarah Thieme, Centrum für Religion und Moderne an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Martin Belz, Institut für Mainzer Kirchengeschichte, Bistum Mainz

Mehr als 40 Wissenschaftler:innen aus Kirchengeschichte und Geschichtswissenschaft trafen sich zur 36. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK), die wie gewohnt in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn stattfand. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung vom 19. bis ins 21. Jahrhundert.

Den Auftakt machte die Historikerin MARIA SCHUBERT (Bochum) mit ihrer Projektvorstellung über den Streit um die geplante Wiederaufbereitungsanlage (WAA) im oberpfälzischen Wackersdorf in den 1980er-Jahren, der massive lokale und bundesweite Proteste hervorrief. Wenig bekannt ist bisher, dass der Widerstand vor Ort stark christlich geprägt war. So trafen sich katholische und evangelische Christ:innen jahrelang zu sonntäglichen Andachten am „Franziskus-Marterl“ in einem Waldstück nahe der WAA und demonstrierten anschließend am Bauzaun. Die Historikerin gab einen Einblick in die vielfältigen christlichen Protestformen und -aktionen und verortete diese im Kontext einer sich in den 1980er-Jahren formierenden Umweltbewegung unter Katholik:innen, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem immer wichtigeren Bestandteil katholischer Glaubenspraxis entwickelte.

DOREEN BLAKE (Wien) befasste sich in ihrem Vortrag anhand von vier Feldern möglicher Feminisierung mit der Frage nach weiblicher Religiosität und katholischen Weiblichkeitskonstruktionen in der Katholischen Frauenorganisation Österreichs (KFO) vom Ersten Weltkrieg bis zum „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938. Dabei konnte sie zeigen, wie Weiblichkeit und weibliche Religiosität innerhalb des Vereins rezipiert wurden und was die Vorstellung, dass Religion weiblich sei, für die Mitglieder der KFO bei der konkreten Vereinsarbeit und im Alltag bedeuteten. Obwohl der Feminisierungsbegriff auch einige Problematiken beziehungsweise Unschärfen in sich trägt und Frauen oftmals als Handelnde ausschließt, zeigte eine differenzierte Betrachtung, dass kirchlich organisierte Frauenräume einen Ort für Frauen boten, um im Rahmen der gesellschaftlich und kirchlich gesteckten Grenzen handlungsmächtig zu agieren.

RONJA HOCHSTRAT (Heidelberg) präsentierte anschließend erste Ergebnisse aus ihrem Promotionsprojekt zur Kevelaer-Wallfahrt als transnationaler Frömmigkeitspraxis. Anhand der im Jahr 1937 unter niederländischen Pilger:innen entbrannten Diskussion um die Frage „Na Kevelaer of niet?“ („Nach Kevelaer oder nicht?“) nahm sie die vielfältigen Wallfahrtsmotive in den Blick und argumentierte, dass neben der Treue zur Tradition der Marienverehrung mit der Etablierung des NS-Regimes auch eine politische Komponente hinzukam; eine Wallfahrt nach Kevelaer galt einem Teil der niederländischen Katholik:innen zunehmend als ein Statement gegen die Kirchenpolitik des NS-Regimes und damit als Unterstützung ihrer deutschen Glaubensbrüder und -schwestern.

MICHAEL ZOK (Warschau) beleuchtete in seinem Beitrag zur „Katholische[n] Biopolitik“ am Beispiel Polens die Vorstellungen „korrekter“ Körperlichkeit, Sexualität sowie Demografie in einer Langzeitperspektive von der Phase des Spätsozialismus bis zum Postsozialismus. Auch wenn die katholische Kirche sowie katholische Laienorganisationen – wie Zok darstellte – während der Zeit der Volksrepublik Polen (zumeist) von der Macht ausgeschlossen waren, dienten sie als wichtiges sozialpolitisches sowie ethisches Korrektiv. Durch den Umbruch Ende der 1980er-Jahre gelangten sie in eine hegemoniale Position, sodass damalige Kritiker:innen gerade im Bereich von Sexualmoral, Sexualität und Familienpolitik einen Übergang von einem „roten zu einem schwarzen Totalitarismus“ sahen. In der gewählten Langzeitperspektive konnte Zok sowohl Kontinuitäten als auch Brüche in katholischen „biopolitischen“ Diskursen in Polen aufzeigen.

Das Promotionsprojekt von BENEDICT DAHM (Münster) untersucht die Rolle der Dogmatiker Joseph Ratzinger (1927–2022) und Hans Küng (1928–2021) im Kontext der Studentenbewegung von 1968. Er skizzierte in seinem Vortrag, wie Ratzinger und Küng als Ordinarien an der Universität Tübingen auf je eigene Weise auf die nachkonziliaren Dynamiken in der Kirche sowie auf die studentischen Unruhen in der Bundesrepublik reagierten. Beide Theologen erfuhren dabei zugleich ihrerseits eine starke Rezeption über den akademisch-theologischen Resonanzraum hinaus und boten damit unterschiedliche Distinktionsmöglichkeiten in den Umbrüchen der späten 1960er-Jahre. Anhand ausgewählter Quellen zeigte Dahm auf, wie die Untersuchung der dabei relevanten Diskursräume, Praktiken und Semantiken, der theologischen Denkformen sowie nicht zuletzt der spezifischen Umstände an der Universität Tübingen über den biographischen Gehalt hinaus Aufschluss über Interdependenzen zwischen katholischer Theologie, kirchlicher Öffentlichkeit und sozialer Praxis in der Bundesrepublik um 1968 geben.

STEPHEN WIßING (Münster) präsentierte sein geschichtswissenschaftliches Dissertationsprojekt zu katholisch-ethischen Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre im Spannungsfeld von demokratisch-pluraler Gesellschaft und kirchlich-autoritärer Moral, welches vom Kulminationspunkt „1968“ ausgeht und sich der daran anknüpfenden Debatte um die „Autonome Moral“ Alfons Auers (1915–2005) innerhalb der bundesrepublikanisch-katholischen Ethik der 1960er- und 1970er-Jahre mittels dreier Perspektiven widmet. Dass Theologen nun einen Wandel von Werten und Normen überhaupt für denkbar und legitim hielten, ist für den katholischen Bereich als der entscheidende Wertewandel anzusehen – so die These und erste Perspektive Wißings. Im Anschluss daran soll zweitens die moraltheologische Debatte am Beispiel der Professoren Auer (Universität Tübingen) und seines Antagonisten Bernhard Stoeckle (1927–2009, Universität Freiburg) im Rahmen einer Intellectual History der bundesrepublikanisch-katholischen Moraltheologie untersucht werden, um in einem dritten Zugang anhand des persönlichen Streits und fachlichen Konflikts Auers und Stoeckles der Frage nachzugehen, inwieweit konfliktuale Pluralität und fundamentale Dissense über normative Fragen möglicherweise zu einem elementaren Bestandteil des Katholischseins nach „1968“ geworden sind.

Im letzten Vortrag zu laufenden Qualifizierungsarbeiten, der den Titel „Von Eunuchen, Emanzen und Empfängnisverhütung – Was uns Buchrezensionen über das Katholischsein verraten“ trug, stellte CAROLIN HOSTERT-HACK (Tübingen) ihr Promotionsprojekt vor. Sie beschäftigt sich darin mit Rezensionen und Buchempfehlungen in 27 verschiedenen, überwiegend theologischen Fachzeitschriften zwischen 1965 und 1990 zu Werken mit den Themen Sexualität, Ehe und Familie, Rolle der Frau sowie Krise in der Kirche. Nach einer zeitlichen sowie kontextuellen Einordnung Uta Ranke-Heinemanns „Eunuchen für das Himmelreich“ aus dem Jahr 1988 zeigte sie exemplarisch auf, wie sie die dazugehörigen Rezensionen mithilfe von Netzwerkanalyse und Diskursanalyse sowie im Hinblick auf Praktiken, Semantiken und Emotionen untersucht.

Der Dokumentarfilm „Wie Gott uns schuf – Coming-Out in der katholischen Kirche“ (2022), der unter der Moderation von MARKUS LENIGER (Schwerte) vorgeführt und anschließend diskutiert wurde, leitete zum Thema der Generaldebatte über. Dabei wurden von den Teilnehmenden zum einen die emotionale Ergriffenheit thematisiert, die sich angesichts der im Film vorgestellten zum Teil tragischen Einzelschicksale von Menschen mit queeren Lebensentwürfen in der katholischen Kirche ergab. Zum anderen kam Erstaunen über die diskursive Diskrepanz zum Ausdruck, die dadurch entsteht, dass die katholische Kirche offiziell eine lehramtliche Position zu nicht-heterosexuellen Partnerschaften vertritt, die von der Mehrheit der Vertreter des Lehramtes und der kirchlichen Hierarchie dann aber auf Nachfrage der Medien nicht öffentlich verteidigt wird (nur einer von 27 angefragten deutschen Bischöfen, Helmut Dieser aus Aachen, war zum Gespräch mit den Regisseuren bereit – und dabei stellte er die kirchliche Lehre auf den Prüfstand!). Daraus ließen sich zum mindesten „Erosionen“ der den lehramtlichen Aussagen attribuierten Überzeugungskraft bis hinein in die Kirchenspitze ableiten.

Die diesjährige Generaldebatte widmete sich dem Thema „Doing gender catholically? (Körper)Praktiken und Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht im Katholizismus“. Im ersten Vortrag der Debatte blickte ALINA POTEMPA (Berlin) in gendertheoretischer Perspektive auf die unmittelbaren Reaktionen westdeutscher Katholik:innen auf die Enzyklika Humanae vitae im Sommer 1968. Anhand von Briefen an die Bischöfe sowie Leser:innenbriefen in Bistumszeitungen zeigte sie auf, dass die päpstliche Empfehlung der Knaus-Ogino-Verhütungsmethode eine rege Debatte über die „Natur“ geschlechtlicher Körper auslöste. Diese Debatte, so argumentierte sie, spiegelte die Ambivalenzen der „Sexuellen Revolution“ zwischen Repressions- und Befreiungsdiskursen über geschlechtliche Identitäten im Kontext von biologischen und sozialen Normierungsverfahren wider. Ein „Doing gender catholically“ nach Humanae vitae implizierte für die Historikerin eine hochpolitische katholische Subjektwerdung über geschlechtlich-sexuelles Verhalten im kirchlichen Machtsystem.

REGINA HEYDER (Mainz) analysierte im zweiten Vortrag der Generaldebatte Geschlechterkonzepte und Körperdiskurse im Kontext des sexuellen Missbrauchs an erwachsenen Frauen im Raum der Kirche. Ausgehend von autobiografischen Erzählungen aus dem deutschen und französischen Sprachraum zeigte sie auf, dass Stereotype und Narrative zu Körper und Geschlecht von Täter:innen und ihren institutionellen Kontexten eingesetzt werden, um Betroffene zu manipulieren und ihnen die Verantwortung für den Missbrauch zuzuschreiben. Für sich selbst beanspruchen Täter:innen dagegen eine individuelle Agency jenseits von Narrativen, die sie theologisch-spirituell begründen und inszenieren und dabei im Bewusstsein „epistemischer Privilegierung“ (Miranda Fricker) häufig auf den Begriff der Sünde rekurrieren. In den Anbahnungs- und Inszenierungsstrategien von zölibatär lebenden Priestern und Ordensfrauen ist der Körper der Täter:innen diskursiv meist abwesend, um den Zölibatsbruch zu verschleiern.

In der nachfolgenden Diskussion zu beiden Vorträgen diskutierten die Anwesenden intensiv über katholische Geschlechterbilder und spezifische (Körper)Praktiken sowie über soziale Prozesse geschlechtlicher Konstruktionen und Identitäten im Bereich von katholischer Kirche und Katholizismus seit Humanae vitae. Dabei konnten vielfältige Bögen zum Film „Wie Gott uns schuf“ und der Initiative „#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst“ sowie zu den vorangegangenen Vorträgen und Diskussionen gespannt werden, welche die Teilnehmer:innen – ebenso wie die gesamte Tagung – als äußerst fruchtbar für den interdisziplinären Austausch im Rahmen der Katholizismusforschung bewerteten.

Die nächste Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises wird vom 24. bis 26. November 2023 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfinden und steht wieder allen Interessierten offen.

Konferenzübersicht:

Maria Schubert (Bochum): „Der Gekreuzigte am Bauzaun“ – Christlicher Widerstand gegen die WAA Wackersdorf und der Katholizismus in der BRD der 1980er-Jahre

Doreen Blake (Wien): „Ganz anders das Frauwesen“. Weibliche Religiosität und Weiblichkeitskonstruktionen in der Katholischen Frauenorganisation Österreichs 1918–1938

Ronja Hochstrat (Heidelberg): „Wij gaan naar Kevelaer!“ Niederländische PilgerInnen im NS-Regime

Michael Zok (Warschau): „Katholische Biopolitik“. Reproduktionsrechte, Demografie und Nation im politischen Katholizismus im (post-)sozialistischen Polen

Benedict Dahm (Münster): Atheistischer Psychoterror und chimärische Weltrevolution. Joseph Ratzinger und Hans Küng als „Leuchtturmtheologen“ in der Studentenbewegung von 1968

Stephen Wißing (Münster): „Katholischer Wertewandel“ in der bundesrepublikanischen Moraltheologie um „1968“ im Spannungsfeld von demokratisch-pluralistischer Gesellschaft und kirchlich-autoritärer Moral. Ein Werkstattbericht

Carolin Hostert-Hack (Tübingen): Von Eunuchen, Emanzen und Empfängnisverhütung – Was uns Buchrezensionen über das Katholischsein verraten

Film und Diskussion: „Wie Gott uns schuf“ (2022), Moderation: Markus Leniger (Schwerte)

Sarah Thieme (Münster) und Martin Belz (Mainz): Einführung in das Thema der Generaldebatte: „Doing gender catholically? (Körper)Praktiken und Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht im Katholizismus“

Alina Potempa (Berlin): „Bodies that matter“? Körper- und Geschlechtskonstruktionen im westdeutschen Katholizismus nach Humanae vitae

Regina Heyder (Mainz): Geschlechterkonzepte und Körperdiskurse im Kontext des Missbrauchs an erwachsenen Frauen