Die vergessenen Akteure? Migrant:innen in der deutschen Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Die vergessenen Akteure? Migrant:innen in der deutschen Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte e. V. (AKKU); Stina Barrenscheen / Nele Falldorf, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen; Ingo Köhler, Hessisches Wirtschaftsarchiv, Darmstadt
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
02.11.2022 - 03.11.2022
Von
Johannes Sandhäger, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die 31. AKKU-Jahrestagung folgte einem interdisziplinären, multimethodischen Ansatz, um verschiedene migrations- und unternehmenshistorische Perspektiven auf die Geschichte von Migrant:innen als unternehmerische Akteur:innen in Deutschland zu diskutieren und miteinander zu verbinden. Mithilfe von Fallstudien zu immigrant entrepreneurship, migrantischer Agency in Unternehmen und migrant knowledge sollten die diversen Perspektiven von Migrant:innen in unternehmerischen Kontexten beleuchtet werden, die bisher in der Forschung nur unzureichend behandelt worden sind.1

MASSIMILIANO LIVI (Trier) stellte einen Teil seines Projektes vor, das Effekte der von Krisen ausgelösten Transformation der Arbeitswelt seit den 1970er-Jahren auf migrantische Entrepreneurship untersucht. Dabei beleuchtete er die Entwicklung migrantischer Arbeitsbiografien und Anpassungsstrategien in Italien und Deutschland. Als beispielhaft bezeichnete Livi die bisher wenig bekannte Geschichte der Stadt Prato in den 1980er- und 1990er-Jahren, einer Kleinstadt in der italienischen Toskana, die ein Zentrum für die Textilproduktion gewesen sei und die größte chinesische Gemeinde in Italien beheimatet habe. Seit ihrer Ankunft beteiligten sich chinesische Migrant:innen an kleinen Unternehmen. Zunächst in den Textilunternehmen vorgelagerten Bereichen als Zulieferunternehmer tätig, seien die Entrepreneurs zunehmend selbstständiger geworden. Bedingt durch gesellschaftliche und politische Veränderungen, die mit einer restriktiveren staatlichen Migrationspolitik einhergingen, habe sich eine chinesische Unternehmenslandschaft ausgebildet, die zum Rückgrat der Textilindustrie in der Region geworden sei und die Gesellschaft maßgeblich geprägt habe. Insgesamt wisse man noch wenig über die Integration im Untersuchungszeitraum, insbesondere bezüglich kultureller und sozialer Aspekte, die Livi untersuchen möchte.

Auf der Basis von Interviews analysierte MARGIT SCHULTE BEERBÜHL (Düsseldorf) die Geschichte von italienischen Eismacherfrauen, deren Rolle sich im deutschen Eisgewerbe im 20. Jahrhundert wandelte. Während bis zum Ersten Weltkrieg vor allem Männer saisonal aus den oberitalienischen Bergdörfern ins Deutsche Kaiserreich gewandert seien, begleiteten ihre Frauen sie bereits in der Zwischenkriegszeit. In dieser Zeit hätten viele Familien begonnen, ihren Lebensmittelpunkt ganzjährig nach Deutschland zu verlegen. Durch die Technisierung der Eisproduktion in der Nachkriegszeit hätten Frauen zentrale und bisher körperlich sehr anstrengende Aufgaben in der Herstellung übernehmen können. Allerdings seien traditionelle Geschlechterbilder weiterhin prägend für die Arbeitsteilung innerhalb der familiären Unternehmensstrukturen gewesen: Während die Männer meist im Verkauf tätig gewesen seien, seien ihre Ehefrauen oft mit Hilfsarbeiten wie dem Einkauf, Reinigungstätigkeiten und dem Zubereiten von Mahlzeiten betraut worden.

CHRISTOPH LORKE (Münster) hatte recherchiert, dass die Spielräume migrantischen Agierens in Gütersloh in den 1970er-Jahren von den engen Verflechtungen zwischen Stadtregierung und dort ansässigen großen Unternehmen beeinflusst waren. Denn dort sei nicht nur die Stadtverwaltung ein wichtiger Akteur gewesen, der die Rahmenbedingungen bestimmt habe, sondern auch das Medienunternehmen Bertelsmann, der Küchengerätehersteller Miele und das Textilunternehmen Vossen GmbH, die auch abseits des Arbeitsplatzes das Leben ihrer migrantischen Arbeitskräfte beeinflussen wollten. Als Beispiel stellte Lorke den Gütersloher Stadtteil Blankenhagen vor. Die Stadtverwaltung habe dort in den 1970er-Jahren sozialen Wohnungsbau betrieben und Integrationsprojekte wie die Eröffnung eines Kinderzentrums gefördert. Darüber hinaus habe sie den Koordinierungs- und Arbeitskreis zur Betreuung „ausländischer Mitbürger“ betrieben, der die Integrationsarbeit in der Stadt institutionalisieren sollte. Das Unternehmen Bertelsmann habe seit 1977 über die Unternehmensstiftung ebenfalls politischen Einfluss auf das Leben in Blankenhagen zu gewinnen versucht: So seien zum Beispiel Studien zur Integrationspolitik veröffentlicht worden. Die Hoffnung der Stadt und der Unternehmen, in der Nachkriegszeit einen durch die Migration ausgelösten neuen wirtschaftlichen Boom zu erfahren, habe sich allerdings nicht erfüllt. Aufgrund von Veränderungen sozialer und gesellschaftlicher Hierarchien sei es sowohl innerhalb der migrantischen Community als auch zwischen ihren Mitgliedern und der Stadtgesellschaft zu Konflikten gekommen. Die Debatten über den Zuzug seien immer hitziger geworden und die Bewohner:innen mit Migrationsgeschichte hätten rassistische Übergriffe erfahren müssen.

Zur Untersuchung der migrantischen Agency in Unternehmen und Gewerkschaften der Automobilindustrie in den ersten Jahren des „Gastarbeiter“-Regimes und der Entwicklungen der langfristigen Migrationserwartungen blickte SIMON GOEKE (München) auf den sogenannten Wilden Streik bei der Volkswagen AG im Jahr 1962. Der unangekündigte Streik der migrantischen Arbeitskräfte sei aus Sorge vor schlechter medizinischer Versorgung ausgebrochen, nachdem Menschen erkrankt und verstorben waren, und habe beigelegt werden können, nachdem eine bessere Vertretung im Betriebsrat zugesagt worden sei. Die Unternehmensleitung habe die Streikenden entlassen und zwischenzeitlich wieder befristete Verträge für Arbeitsmigrant:innen eingeführt. Langfristig hätten sich Unternehmensleitung, IG Metall und Betriebsrat aber um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und um eine verbesserte Unterbringung der Arbeitnehmer:innen bemüht, zum Beispiel infolge einer besseren Repräsentanz in Arbeitnehmergremien. Der Streik sei mehrere Jahre vor dem von der Forschung noch allgemein angenommenen Zeitraum der Wilden Streiks ab Ende der 1960er-Jahre ausgebrochen. Die migrantischen Arbeiter:innen hätten sich mit dem Streik sehr früh gegen Benachteiligungen am Arbeitsplatz eingesetzt und so den Wunsch nach Integration und Teilhabe an der Gesellschaft erkennen lassen. Diese Erkenntnis widerspreche dem gängigen Motiv der „Gastarbeiter:innen“-Geschichtsschreibung, dass bei den Migrant:innen zunächst der Wille zur Rückkehr in die Heimatländer vorgeherrscht habe und erst später der Wunsch aufgekommen sei, in der Bundesrepublik zu bleiben.

Für MARIO RIEDERER (München) war die Kooperations- und Konfliktgeschichte migrantischer Arbeitskräfte bei BMW wiederum ein Spiegelbild der Gewerkschafts- und Automobilgeschichte der Bundesrepublik. Das Unternehmen habe seit den 1960er-Jahren Arbeitsmigrant:innen angeworben, um den hohen Arbeitskräftebedarf zu decken. Die Unternehmensleitung habe diesen Schritt weniger als Chance, sondern mehr als notwendiges Übel und die vor allem aus der Türkei und Griechenland stammenden Arbeitskräfte als konjunkturellen Puffer gesehen. Auch der Betriebsrat habe sich bis Mitte der 1960er-Jahre sehr ablehnend geäußert: Die Migrant:innen seien eine Bedrohung für den Status der anderen Arbeiter:innen, ihr Anteil an der Belegschaft wurde als zu hoch angesehen. Aufgrund der dauerhaft hohen Nachfrage nach Arbeitskräften habe sich ab Mitte der 1960er-Jahre aber der Wunsch durchgesetzt, die migrantischen Arbeitskräfte länger an den Betrieb zu binden und in Ausbildung, Sprachkurse, Gebetsräume und mehrsprachige Publikationen zu investieren. 1972 seien erstmals migrantische Arbeitskräfte in den Betriebsrat gewählt worden. Die Listenwahl sei das bevorzugte Mittel zur migrantischen Partizipation im Betriebsrat gewesen. Allerdings blieben Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte laut Riederer bis 1983 im Betriebsrat unterrepräsentiert. Auch sonst sei die Geschichte nicht konfliktfrei gewesen: Der Wahrnehmung der Verantwortlichen im Betrieb, dass die Konflikte (wie zum Beispiel Wilde Streiks) innerhalb der Betriebsgemeinschaft überwiegen, spiegele sich auch in den Quellen des Unternehmensarchivs wider: Quellen zu Konflikten seien überrepräsentiert, während Integrationserfolge weit weniger Beachtung fänden.

JAN LOGEMANN (Göttingen) stellte am Beispiel des US-Unternehmens Knoll International seine Forschung zum Konzept des migrant knowledge und zu Wissenstransfers im Zuge von transatlantischer Immigration, Remigration und Zirkelmigration in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Logemann verstand migrant knowledge als breit angelegten Wissensbegriff, mit dessen Hilfe migrantisches Wissen als unternehmerischer Wettbewerbsvorteil untersucht und Fragen nach Wachstumspotentialen, kulturellen Wissenstransfers und der Untersuchung des Fremdseins als unternehmerische Chance beantwortet werden können. Aufgrund des Fokus der unternehmenshistorischen Forschungen auf Wissenstransfers von Eliten in eine geografische Richtung (brain drain) seien zirkuläre Wissenstransfers vernachlässigt worden. Unternehmerische Remigrant:innen profitierten von mehrfacher kultureller embeddedness und von der Lokalisierung multinationaler Unternehmen. Knoll International könne als ein solches Beispiel für Zirkelmigration einer hoch qualifizierten Gruppe dienen. Nach ihrer Emigration von Deutschland in die USA hätten Florence und Hans Knoll in den 1930er-Jahren ihr Unternehmen für Möbel im Stil des funktionalen Modernismus gegründet. Orientiert am Bauhaus, prägten sie und andere europäische Emigrant:innen die US-Möbelindustrie in den 1940er- und 1950er-Jahren. In der Nachkriegszeit habe Knoll International als US-amerikanisches Unternehmen die europäischen Märkte betreten. Für Logemann ist die Untersuchung der Grenzen migrantischen Erfolgs ein weiterer, bisher wenig beachteter Aspekt. Diese könnten zum Beispiel entstehen, wenn Migrant:innen mit Problemen bei der Anerkennung ihrer Qualifikation konfrontiert oder ihr Nutzen für die aufnehmende Gesellschaft bezweifelt würden. Ebenso könnten sich Migrant:innen als Außenstehende sehen bzw. von anderen so gesehen werden.

NELE FALLDORF (Göttingen) stellte eine Teilstudie zu hochqualifizierten chilenischen Migrant:innen vor, die nach dem Putsch in Chile 1973 in die Bundesrepublik geflohen waren und deren Erwerbsbiografien von den Erfahrungen der Flucht und ihrer Aufnahme in der Zielgesellschaft geprägt wurden. Der Schwerpunkt ihres Vortrags lag auf der Reise- und Ankunftsphase im Migrationsprozess. Für die Debatten im aufnehmenden Land – und damit auch für die Aufnahmebereitschaft der Institutionen und der Gesellschaft – waren laut Falldorf innenpolitische, arbeitsmarktpolitische und sicherheitspolitische Interessen in Westdeutschland entscheidend. Dazu zählte sie, dass die chilenischen Migrant:innen vor einem antikommunistischen Putsch in einem außereuropäischen Land geflohen seien. Noch in der bundesdeutschen Botschaft in Chile seien die Ausreisewilligen sicherheitsüberprüft worden und hätten Beratungsgespräche über ihre beruflichen Perspektiven absolvieren sollen. Die Perspektiven auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt spielten im Falle der chilenischen Migrant:innen eine entscheidende Rolle für die Bewilligung der Einreise, so Falldorf. In der Bundesrepublik angekommen, hätten die Migrant:innen die nur bis 1977 laufenden staatlichen Arbeitsmarktintegrationsmaßnahmen, wie Sprachkurse, nur teilweise angenommen. Viel wichtiger für die Integration in den Arbeitsmarkt sei die Unterstützung zivilgesellschaftlicher und unternehmerischer Initiativen und persönlicher Netzwerke gewesen. Dazu zähle zum Beispiel, dass ab 1974 chilenische Migrant:innen vor allem Unterkunft bei Bekannten fanden und diese häufig auch ihren Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichterten.

In der abschließenden Diskussionsrunde wurde die Notwendigkeit betont, die Unternehmensgeschichte um multiperspektivische Ansätze zu erweitern. Dabei sei das Ziel laut STINA BARRENSCHEEN (Göttingen) nicht nur die Betrachtung bisher nicht beachteter Akteur:innen, sondern auch eine Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes auf Perspektiven jenseits des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte der Eismacherfrauen und der Migrant:innen in der Automobilindustrie haben erste Schlaglichter auf ein bisher kaum beachtetes Forschungsfeld der Unternehmensgeschichte werfen können.

Im Rahmen der Tagung erhielt CAETANO FRANZ (Göttingen) den AKKU-Nachwuchspreis für die beste eingereichte Abschlussarbeit mit unternehmenshistorischen Bezug, in der er sich mit der Expansion der Sartorius AG nach China in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst hat. Zudem fand eine Podiumsdiskussion zur Rolle und Zukunft der Unternehmensgeschichte für Familienunternehmen in Deutschland statt.

Die Beiträge und Diskussionen haben sich einem bisher aus unternehmenshistorischer Perspektive vernachlässigten Themenfeld genähert. Es wurden verschiedene Formen migrantischen Unternehmertums, wie immigrant entrepreneurship, die Agency migrantischer Arbeitnehmer:innen in deutschen Unternehmen, migrantische Wissenstransfers und migrantische Arbeitsmarktpotenziale beleuchtet. Zugleich verdeutlichten die Tagung und das Aufzeigen der Potenziale weiterführender interdisziplinärer Forschung zu diesem Thema, dass dies nur als erster Schritt verstanden werden kann. So wurden Bereiche wie die Migrationsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik bzw. des 19. Jahrhunderts und der Nachwendezeit nur am Rande besprochen. Interessant dürften darüber hinaus Projekte zu deutschen Emigrant:innen in der Unternehmensgeschichte sein, ebenso das Einbeziehen einer europäischen Perspektive.

Konferenzübersicht:

Stina Barrenscheen (Göttingen), Nele Falldorf (Göttingen), Ingo Köhler (Darmstadt): Einführende Worte

Panel I: Immigrant Entrepreneurship

Massimiliano Livi (Trier): Migrantische Entrepreneurship in Deutschland und Italien seit den 1970er-Jahren. Ein Projekt und eine Case Study

Margrit Schulte Beerbühl (Düsseldorf): Im Schatten der Männer: Lebens- und Arbeitswelten italienischer Eismacherfrauen

Podiumsdiskussion: Familienunternehmen – mit Geschichte in die Gegenwart

Panel II: Migrantische Agency im Unternehmen

Christoph Lorke (Münster): Migrantisches Agieren zwischen Unternehmen und Stadtverwaltung. Handlungsmacht und Aneignungen am Beispiel der Stadt Gütersloh (ca. 1970er- bis 1990er-Jahre)

Mario Riederer (München): Miteinander und gegeneinander – der Betriebsrat und Migrant:innen bei BMW in München

Preisverleihung AKKU Nachwuchspreis

Panel III: Unternehmen, Migration und Wissen

Jan Logemann (Göttingen): Migrant Knowledge – Potentiale und Probleme: Wissenstransfers durch Migration in Unternehmen im 20. Jahrhundert

Nele Falldorf (Göttingen): Neustart? Arbeitsmarktintegration chilenischer Geflüchteter in den 1970er-Jahren

Schlussworte/Diskussion

Anmerkung:
1 Hartmut Berghoff / Andreas Fahrmeir, Unternehmer und Migration. Einleitung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 58 (2013), S. 141-148, hier S. 142.