HT 2023: Ostmitteleuropäische Grenz-Gebiete in der Politik zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1939 bis 1941: Fragile Lage, unterschiedliche Interessen, wechselnde Vergangenheitsbilder

HT 2023: Ostmitteleuropäische Grenz-Gebiete in der Politik zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1939 bis 1941: Fragile Lage, unterschiedliche Interessen, wechselnde Vergangenheitsbilder

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Christoph Meißner, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die Geschichte Ostmitteleuropas zwischen dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages am 23. August 1939 und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 tritt in Deutschland häufig vor der darauffolgenden Periode des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion 1941–1945 in den Hintergrund. Doch ist es wichtig, diese Zeit nicht aus dem Blick zu verlieren, denn mit dem auch als Hitler-Stalin-Pakt bezeichneten Nichtangriffsvertrag ging die Unterzeichnung eines geheimen Zusatzprotokolls einher, in dem sich die beiden Vertragspartner auf eine Teilung Ostmitteleuropas in Einflusssphären einigten. Diese Teilung hatte Folgen, die bis heute wesentlicher Teil der europäischen Geschichte und für das Verständnis politischer Prozesse in Ostmitteleuropa nach dem Angriff der Russländischen Föderation auf die Ukraine 2014 von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. Daher war es sehr zu begrüßen, dass unter der Leitung von Tanja Penter (Heidelberg) und Carola Tischler (München/Berlin) auf dem Historikertag 2023 die Sektion „Ostmitteleuropäische Grenz-Gebiete in der Politik zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1939 bis 1941: Fragile Lage, unterschiedliche Interessen, wechselnde Vergangenheitsbilder“ stattfand. Die Beiträger:innen der Sektion widmeten sich in ihren Vorträgen wechselweise den historischen Ereignissen und der Erinnerung – in Belarus, der Ukraine sowie Bessarabien.

Dieses Prinzip wurde im ersten Vortrag gebrochen, indem YULIYA VON SAAL (München/Berlin) die historischen Ereignisse wie auch die Erinnerung in Belarus in den Blick nahm. Dabei konstatierte sie, dass die Geschichte im System des belarusischen Diktators Aljaksandr Lukaschenka immer wichtiger wird.

Um die Komplexität des geografischen Raumes zu verstehen, ging von Saal bis zur Gründung der belarusischen Nationalrepublik 1918 zurück und nahm den Vertrag von Riga 1921 als wichtige Zäsur der Grenzziehung in den Blick. Danach verlief die polnische Grenze deutlich weiter östlich, als der britische Außenminister Curzon nach dem Ersten Weltkrieg mit Blick auf die Nationalitäten in Ostmitteleuropa vorgeschlagen hatte. Dies war für den 17. September 1939 wichtig, als sowjetische Truppen in Erfüllung ihrer vertraglichen Vereinbarungen in Ostpolen einmarschierten. Stalin wollte aber nicht die im Zusatzprotokoll vereinbarte Grenze, sondern orientierte sich gemäß der Bevölkerungsstruktur an der Curzon-Line. Nach einer Einigung mit dem Deutschen Reich folgte ein schneller Anschluss der mehrheitlich von Belarusen und Ukrainern bevölkerten Gebiete an die Belarussische und Ukrainische Sowjetrepublik. Dieser wurde mit dem Willen der Bevölkerung und dem Schutz vor den Deutschen legitimiert. Die „Wiedervereinigung“ der Gebiete wurde als historische Gerechtigkeit und Korrektur der Fehler von Riga 1921 verstanden und ging mit einer gewaltsamen Russifizierung und gesellschaftlichen Umschichtung einher, die aus Terror und Gewaltmaßnahmen bestand.

Die sowjetische Geschichtsschreibung deutete dies als notwendige Maßnahme einer präventiven Kriegsvorbereitung. Dabei wurde die Zusammenarbeit mit der Wehrmacht ausgeblendete und der Krieg auf die Zeit zwischen 1941 und 1945 reduziert. Mit dem Zerfall der Sowjetunion kam auch in Belarus eine Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen auf, die sich aber nicht mit den polnischen Opfern und den ehemaligen ostpolnischen Gebieten befasste, sondern als rein nationale Angelegenheit der Belarusen gesehen wurde. Durch die Proteste nach den gefälschten Präsidentenwahlen 2020 erfuhr der 17. September erneut politische Aufmerksamkeit. Im Jahr 2021 wurde er als Tag der nationalen Einheit per Präsidentendekret zum staatlichen Feiertag. Dieser soll die Einheit eines tief gespaltenen Landes suggerieren und dient einer antipolnischen (bzw. antiwestlichen) Haltung, indem Polen ein revisionistischer Anspruch auf Westbelarus unterstellt wird. In Belarus gibt es heute keine unabhängige Geschichtswissenschaft, dennoch ist mehr als 80 Jahre nach dem Pakt die Thematik in Belarus so aktuell wie nie.

In einem zweiten Block widmeten sich CAROLA TISCHLER (München/Berlin) und KAI STRUVE (Halle-Wittenberg) der Ukraine. Tischler stellte die Frage, welche Rolle die Ukraine in den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1939–1941 spielte. Dabei nahm sie zwei Aspekte in den Blick, die Karpato-Ukraine 1938/39 und die „Bevölkerungsverschiebungen“ aus dem polnischen Grenzland (Kresy) 1939–1941. Die Karpato-Ukraine war im Vertrag von Trianon 1920 der Tschechoslowakei zugeschlagen worden. An ihrem Beispiel verdeutlichte Tischler die Wichtigkeit der Staatsbildungsprozesse im frühen 20. Jahrhundert für die Ziehung von Grenzen. Tischler sprach von einem „Spielball von fünf Mächten“ (Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien und Deutschland). Nach dem Münchner Abkommen 1938 hatte die Sowjetunion Interesse an dem Gebiet. Besonders die nun erneut aufkommende ukrainische Autonomiebewegung sah dieses kleine Gebiet als Ausgangspunkt für einen selbstständigen ukrainischen Staat. Das nationalsozialistische Deutschland hatte aber völlig andere Interessen und wollte nicht mehr für einen eigenständigen ukrainischen Staat eintreten, was Stalin in Moskau mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Seine Furcht war, dass das Deutsche Reich sich für eine Eigenständigkeit und damit eine Abspaltung der Sowjetukraine von der Sowjetunion und Angliederung an die Karpato-Ukraine aussprechen könnte.

Als Zweites betrachtete Tischler die Vereinbarungen der deutsch-sowjetischen Repatriierungskommission 1939/40 bei der „Bevölkerungsverschiebung“ in der Ukraine, in deren Folge 45.000 sogenannte „Volksdeutsche“ in das Wartheland umgesiedelt wurden. Dies geschah in den ersten Wochen nach der Übereinkunft vom 28. September 1939 ziemlich ungeregelt, wurde aber schnell durch die Kommission reguliert. Mit der Übergabe der Gebiete an die Sowjetunion schlossen sich viele Ukrainer den Deutschen an, um der sowjetischen Gewalt zu entkommen. Juden hingegen versuchten aufgrund der ihnen drohenden Verfolgung aus dem deutschen Gebiet auf sowjetisches zu gelangen. Als sich die Hoffnungen der Ukrainer nach einem besseren Leben nicht bestätigten, kehrte sich die Bewegung nach einem halben Jahr jedoch wieder um.

In den sowjetisch besetzten Gebieten begannen Anfang 1940 Deportationen ins sowjetische Hinterland (Sibirien und Kasachstan), die in vier Wellen bis Juni 1941 über 300.000 Menschen betrafen. Auch die jüdische Bevölkerung wurde hierbei erfasst und war von den Maßnahmen prozentual am meisten betroffen.

Struve stellte die Erinnerung in der Ukraine an die Ereignisse von 1939 bis 1941 vor, die eine vergleichsweise geringe Bedeutung hat. Dabei benannte er zwei Kontexte der Erinnerung: 1.) das sowjetische Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945 und 2.) regionale Erinnerungen an die sowjetische Okkupation der Westukraine 1939–1941, vor allem an den sowjetischen Massenmord an Gefängnisinsassen Ende Juni /Anfang Juli 1941.

Dem sowjetischen Narrativ der Vereinigung des ukrainischen Volkes stellt die moderne Ukraine den 22. Januar entgegen. An diesem Tag fand 1919 ein Vereinigungsbeschluss der Ukrainischen Volksrepublik mit der Westukrainischen Volksrepublik statt. 1999 wurde dieser Tag ein offizieller Feiertag.

Der sowjetische Mythos des Großen Vaterländischen Krieges hatte in der Ukraine bis 2014 einen großen Einfluss. Er wurde in der staatlichen Geschichtspolitik integrierend als „Großer Vaterländischer Krieg des ukrainischen Volkes“ genutzt. Ein Bruch setzte 2014/15 ein. Während die Russländische Föderation in ihrer Propaganda den Begriff gegen den Euromaidan verwendete, ging die Ukraine zu einer Betrachtung des Zweiten Weltkrieges zwischen 1939 und 1945 über und stellte die Mitverantwortung der Sowjetunion für den Zweiten Weltkrieg in den Vordergrund. Die Feiern zum Kriegsende wurden nun zweigeteilt am 8. und 9. Mai durchgeführt. Heute findet in der ukrainischen Geschichtswissenschaft eine Auseinandersetzung mit dem Großen Vaterländischen Krieg als Propagandabegriff statt.

Die Massenmorde in den Gefängnissen 1941 hatten vor allem in den 1990er-Jahren eine große Aufmerksamkeit. Ausdruck dessen war die Einrichtung des nationalen Museums „Lonzki-Gefängnis“ in Lviv. Dabei stand der Freiheitskampf der ukrainischen Nationalisten im Vordergrund, während antijüdische Gewalttaten und Pogrome nur am Rande Erwähnung fanden.

Als Fazit stellte Struve fest, dass die Westukraine 1939–1941 in der ukrainischen Geschichtsschreibung wenig thematisiert wird und im Schatten von anderen Phasen der sowjetischen Herrschaft und von Gewaltverbrechen steht, wie z.B. dem Holodomor 1932/33.

In einem letzten Block widmeten sich MARIANA HAUSLEITNER (Berlin) und OTTMAR TRASCA (Cluj-Naboca) der wenig bekannten Region Bessarabien. Hausleitner stellte heraus, dass die sowjetische Annexion Bessarabiens im Sommer 1940 historisch legitimiert wurde. Dieses Gebiet habe, so die sowjetische Argumentation, schon immer zum Russischen Reich gehört und war nach dem Ersten Weltkrieg 1918 zu Unrecht an Rumänien gegangen. Trotz der Uneinigkeit über Bessarabien nahmen Rumänien und die Sowjetunion 1934 wieder diplomatische Beziehungen auf. Während des Überfalls auf Polen im September 1939 wahrte Rumänien formal Neutralität. Für das Deutsche Reich blieb es aufgrund der Erdöllieferungen ein wichtiger Handelspartner. Im deutsch-sowjetischen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 hatte sich die Sowjetunion mit der spitzfindig formulierten Pluralform „diese Gebiete“ einen erweiterten Anspruch gesichert, der auch die Bukowina umfasste. Für die deutsche Diplomatie schien dies unwichtig, hatte sie doch Desinteresse signalisiert. In Folge der sowjetischen Annexion setzten auch in diesem Teil erhebliche Bevölkerungsverschiebungen ein. Rund 93.000 Deutsche ließen ihren Besitz zurück und wurden in Polen angesiedelt. Rumänen, die nach 1918 in Bessarabien politische Posten übernommen hatten, flohen zurück in die Heimat, während über 220.000 Juden aufgrund des zunehmenden Antisemitismus in Rumänien in die neuen sowjetischen Gebiete übersiedelten. Dort setzte eine umfassende Sowjetisierung ein, die Hausleitner mit der Formel „Gegner wegschaffen und Land neu verteilen“ zusammenfasste. Dabei wurden über 13.000 Menschen deportiert und auch unter den Bauern, die zunächst über das neue Land erfreut waren, regte sich aufgrund der Vorgaben zu Anbau und Abgaben Widerstand. In Rumänien verzichtete König Karol II. auf den Thron und der faschistische Ioan Antonescu übernahm die Führung des Landes. Er führte es 1941 an der Seite des Deutschen Reiches in den Krieg.

Trasca sprach über die Erinnerung an die Zeit 1939–1941 und die Geschichtspolitik in Moldau und Rumänien. Auch wenn rumänische Historiker schon 1946 einen Anspruch auf Bessarabien formulierten, blieb das Thema bis 1990 in der rumänischen Geschichtsschreibung aufgrund der Nähe zu Moskau ein weitgehendes Tabu. In der Moldavischen Sozialistischen Sowjetrepublik (MSSR) war ein Abweichen vom sowjetischen Standpunkt verboten. Erst nach dem Tod des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu und dem Zerfall der Sowjetunion setzte ein grundlegender Wandel ein. Rumänische Historiker widmeten sich nun dem Kontext und den Folgen des Hitler-Stalin-Paktes. Auch in der Republik Moldau setzten unabhängige Forschungen ein. Beiden war gemein, dass sie sich auf die Folgen für die Gesellschaft konzentrierten. Dabei standen vor allem die Deportationen und Säuberungen im Mittelpunkt.

In ihrem abschließenden Kommentar stellte TANJA PENTER (Heidelberg) das Desiderat einer vergleichenden und verflechtungsgeschichtlichen Perspektive heraus. Dabei machte sie drei Aspekte aus, die für künftige Forschungen von Interesse sein könnten: 1.) sowjetische Praktiken der Annexion, 2.) deren Legitimationsstrategien und 3.) das aktuelle Erinnern daran in den betroffenen Staaten.

In der abschließenden Diskussion wurde aufgrund der doppelten Besatzung im September 1939 die Frage aufgeworfen, ob Polen nicht als besonders prägnantes Beispiel für einen Diktaturvergleich dienen könne. Kai Struve führte dazu aus, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft grundsätzlich fragen müsse, wie sie das Verhältnis von nationalsozialistischen Verbrechen und stalinistischen Verbrechen in Ostmitteleuropa in der Zeit 1939–1945 in der Vergangenheit bewertet hat und wie sie in Zukunft damit umgehen möchte.

Das Verdienst der Sektion ist es, einen Teil des Zweiten Weltkrieges in den Blick genommen zu haben, der in Deutschland häufig im Erinnerungsschatten liegt, in den Ländern Ostmitteleuropas aber eine dominierende Stellung einnimmt. Für die Gestaltung künftiger Panels zum Thema wäre es wünschenswert, auch den Perspektiven aus Polen, Finnland und den baltischen Staaten eine Stimme zu geben.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Tanja Penter (Heidelberg) / Carola Tischler (München/Berlin)

Beate Fieseler (Düsseldorf): Einführung

Yuliya von Saal (München/Berlin): „Befreiung“ der ostpolnischen Gebiete (Kresy) 1939: fluide Grenzen, wechselnde Vergangenheitsbilder in BSSR/Belarus

Carola Tischler (München/Berlin): „Die ukrainische Frage“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1939–1941 – ausgewählte Aspekte

Kai Struve (Halle-Wittenberg): Die sowjetische Besetzung der Westukraine 1939–1941 in der ukrainischen Erinnerung und Geschichtsschreibung

Mariana Hausleitner (Berlin): Bessarabien in den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1939–1941

Ottmar Trasca (Cluj-Naboca): Die sowjetische Annexion von Bessarabien in der rumänischen und moldauischen Geschichtsschreibung

Tanja Penter (Heidelberg): Kommentar

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