Die European Association of Jewish Studies stellte ihren diesjährigen Kongress unter das Motto der Diversität. An fünf Konferenztagen wurden insgesamt 185 Sessions, jeweils drei Runde Tische und sogenannte Early Career Researchers Workshops sowie zwei Keynote Lectures zu einer großen Bandbreite an Themen angeboten. Laut Veranstalter nahmen rund 700 Forschende und Studierende aus über 30 Ländern teil. Neben den Vorträgen vor Ort wurden einige Präsentationen von ukrainischen Wissenschaftler:innen über Zoom zugeschaltet. Die Vorträge waren begleitet von einem kulturellen Programm, zu dem beispielsweise eine Führung zur Buchausstellung der Frankfurter Judaica Sammlung, ein Konzert und zwei Führungen im Jüdischen Museum Frankfurt gehörten. Die Teilnehmenden erhielten außerdem freien Zugang zu rund 30 weiteren Museen und Ausstellungen. Neben Ständen der Fachverlage fand sich die Ausstellung der Judaica Sammlung im Konferenzgebäude. Aufgrund des umfangreichen Programms und des vielfältigen Angebots von zeitgleich bis zu 14 Panels, kann der folgende Bericht nur ausgewählte Schlaglichter auf die Konferenz abbilden.
Die alle vier Jahre stattfindende Konferenz der Dachorganisation zur Repräsentation des akademischen Feldes der Jüdischen Studien in Europa wurde am Sonntagnachmittag mit Grußworten und einer ersten Keynote Lecture von JUDITH OLSZOWY-SCHLANGER (Oxford) eröffnet. Olszowy-Schlanger zog einen Zusammenhang zwischen der Paläographie von Funden aus der Kairoer Genizah, antiker und mittelalterlicher hebräischer Schriften, dem Standort Frankfurt als historischem Ort von Netzwerken, dem Buchdruck sowie Büchermessen und den auf der Konferenz vertretenen Forschungsthemen. Sie stellte das Buch, als wissenschaftliches Medium, das alle Forschenden verbinde, und die Bibliothek in den Mittelpunkt ihres Vortrags.
Eines der zwölf Eröffnungspanels am ersten Konferenztag beschäftigte sich passend zum koscheren Catering am Vorabend mit historischen wie zeitgenössischen Speisekulturen. Es war insofern eine anregende Perspektive, als dass Essen in der Vergangenheit oft als triviale Kultur behandelt wurde. Die drei vorgestellten Arbeiten bewiesen das Gegenteil und zeigten einleuchtend, dass Speisekulturen, gerade im Kontext von Migration und Marginalisierung, als komplexe Symbole der kulturellen Alterität verstanden werden müssen. SUSANNE BELOVARI (Illinois) eröffnete das Panel mit einer Spurensuche nach den Jüdischen Einflüssen in der traditionellen Wiener Küche. Diese sei eine „inklusive Küche“, da sie oftmals ohne jegliche Kompromisse koscher oder sogar koscher für Pessach sei. Ihre umfangreiche Archivarbeit mit privaten, aber auch publizierten Kochbüchern, bildete die enge Verflechtung der jüdischen Bevölkerung in der Gastronomie und Lebensmittel Branche in Wien zwischen dem 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts ab. Die analysierten Kochbücher zeigen außerdem, so Belovari, was Leute „besonders und weitergebenswürdig“ fanden und sind dadurch als wichtige zeitgeschichtliche Quellen zu behandeln. Die im Anschluss präsentierte interviewbasierte Studie von ILZE OLEHNOVICA (Daugavpils) beschäftigte sich mit Kindheitserinnerungen von Juden und Jüdinnen an die Speisekultur im russischsprachigen südöstlichen Lettland zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren. Auch wenn die jüdische Identität in der sowjetischen Ära oft zweitrangig war oder abgelehnt wurde, so zeigte Olehnovicas Auswertung der Interviews eine starke kulturelle Identifikation über die jüdische Speise- und Alltagskultur der Familien. Als dritte Studie stellte NORA L. RUBEL (Rochester) die These der „Ottholenghisierung“ der zeitgenössischen jüdischen Küche auf. Die Auswertung von Speisekarten von Restaurants wie Dizingoff in New York, Shouk in Washington, Zahav in Philadelphia, Saba in New York und Safta in Denver, zeige interessante Adaptionen jüdischer oder israelischer Speisen, die sich gleichermaßen an jüdische als auch an nicht-jüdische Gäste richten. Das Bedürfnis nach „comfort food“, Authentizität und Tradition führe in Restaurants wie diesen weltweit zur Kombination traditionell jüdischer Speisen mit moderner Kochkunst, nicht-koscheren Produkten und Haute Cuisine. Die Frage, was jüdisches Essen überhaupt ist sowie die Spannung zur koscheren Küche als dessen, was eine jüdische Küche definieren könnte, stellten einen roten Faden der drei Vorträge dar.
Ein im Anschluss stattfindendes Panel in der Sektion Modern Jewish Literature, zu der lediglich drei weitere Panels über die Tage hinweg zählten, versuchte das Schreiben russischer Autor:innen in Israel sowie den amerikanischen Schriftsteller Philip Roth unter einer räumlichen Perspektive zusammenzubringen. ISADORA SINAY (São Paulo) diskutierte die Uneindeutigkeit der Zugehörigkeitskonzepte bei Roth. Sinay zeigte einleuchtend wie Roths literarisches Alter Ego Nathan Zuckermann zwischen Israel, den USA und Osteuropa hin- und hergerissen ist und warf anhand der Geschichte Zuckermanns in Roths Schreiben die Frage auf, inwiefern die europäische Verfolgungserfahrung zur jüdischen Erfahrung gehöre und was jüdisches Schreiben als solches ausmache. HELENA RIMON (Ariel) sowie ALEKSEI SURIN (Ramat-Gan) betrachteten dagegen städtische Repräsentationen in der russischsprachigen Literatur israelischer Autor:innen. Surin zeigte anhand dreier Beispiele nachvollziehbar verschiedene Bedeutungshorizonte der israelischen Städte Tel Aviv, Jerusalem und Haifa auf. Er plädierte außerdem dafür, die russische Literatur in Israel sowohl als Literatur „In-Between“ als auch als israelische Literatur zu lesen, da sie zwar verschiedene kulturelle Bezüge aufweise aber auch eine enge Verwurzelung in der jüdischen Kultur und Tradition abbilde. In den ambivalenten Bezugnahmen auf Israel als jüdischem Ort können Sinay und Surins Forschungen zusammengedacht werden.
KATE-MIRIAM LOEWENTHAL (London), VICTORIA LISEK (London), und NAFTALI LOEWENTHAL (London) diskutierten in ihren Beiträgen Praxen und Herausforderungen unter Heredim heute. Kate-Miriam Loewenthals interviewbasierte Studie zur Inanspruchnahme von Psychotherapie unter haredischen Frauen in London aus dem Jahr 2022 gewährt so beispielsweise seltene Einblicke in ein generell tabuisiertes Thema. Sie konstatierte ein zunehmendes Problembewusstsein hinsichtlich der psychischen Gesundheit in der religiösen Gemeinschaft. Waren viele Rabbinen traditionell gegen psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen so zeichne sich seit den 1990 und 2000er-Jahren eine deutliche Öffnung ab, die mit der Schaffung eigener Infrastruktur einhergehe. Loewenthal nannte etwa ein Dutzend Beispiele von Psychotherapeuten in den USA und Großbritannien die sich an ein haredisches Publikum richten und nannte Organisationen wie Chizuk, Talking Matters oder Bikur Cholim D’Sattmar als Beispiele für Organisationen, die sich dem Thema annehmen. Trotz der zunehmenden Anerkennung sind Themen wie Stress, Burn-out, Depressionen, Traumata, Missbrauch oder Beziehungsprobleme in der Gemeinschaft nach wie vor schambehaftet und werden als Privatsphäre behandelt, da sie einen großen Einfluss auf das Ansehen von Familien und beispielsweise auch auf Schidduchim haben, so Loewenthal. Lisek beschäftigte sich ebenfalls mit weiblichen Stimmen, allerdings in Textform, und verglich die zwei sehr spezifischen Medien der sogenannten “Off the Derekh” Memoiren sowie Ratgeberliteratur für junge religiöse Frauen. Trotz beachtlicher Unterschiede in Inhalt, Stil und Publikum, so teilen beide einen starken jüdischen Wertekodex sowie ein ähnliches Verständnis von Gemeinschaft. Aus beiden folge laut Liska die Frage, wie in einer Minderheit Kontinuität gewährleistet werden kann. Naftali Loewenthal wandte den Blick schließlich auf Männer in der religiösen Gemeinschaft. Er analysierte den Ferbrengen, eine Praxis hassidischer Versammlungen bei Chabad, ebenfalls unter der Bezugnahme auf das Geschlechterverhältnis. Die Auswertung seiner anonymen Interviews zeigte beispielsweise, dass die Höhe der Hingabe als gemischte Veranstaltung den Teilnehmern nicht erreichen zu sein scheint. In seiner Response ordnete MICHAEL BERKOWITZ (London) die Vorträge in einen breiteren Kontext ein. Berkowitz betonte den Begriff der Gemeinschaft in allen drei Vorträgen und verglich die Ergebnisse mit anderen Gemeinschaften. So ließen sich einige Erkenntnisse auch auf andere Communities, beispielsweise auf die afroamerikanische oder afrokaribische Kultur in den USA übertragen. Männlich dominierte Orte und Praxen seien kein Alleinstellungsmerkmal jüdischer Kontexte. Berkowitz warnte unteranderem auch davor, die haredische oder hassidische Kultur als einheitliche zu begreifen. Man neige oft dazu ein simplifiziertes Bild zu zeichnen und vernachlässige dabei, dass jeder Rebbe einen eignen Stil mitbringe, der die Gemeindemitglieder stark prägt.
Am zweiten Konferenztag präsentierte STEFAN VOGT (Frankfurt am Main) Überlegungen zum Verhältnis der Postcolonial Studies und den in ihnen immer wieder aufkommenden antisemitischen Tendenzen. Vogt plädierte für intersektionale Ansatzpunkte in der Gegenwart, da diese dabei helfen die jüdische Geschichte inklusive der Geschichte von Antisemitismus zu verstehen. Eine Bezugnahme aufeinander könne einen Beitrag dazu leisten, „minority cultures“ und Identität sowie Universalismus und Partikularismus zu diskutieren. DORON AVRAHAM (Ramat Gan) ergänzte Vogts Vortrag um eine historische Perspektive. Er begründete den deutschen Kolonialismus als ein wichtiges Feld in dem auch die jüdische Zugehörigkeit zur deutschen Nation und zum Weiß-Sein historisch verhandelt wurde. In Bezug auf den deutschen Kolonialismus argumentierte Avraham dafür, dass dieser den deutschen Nationalismus selbst ethnischer gemacht hatte. Judentum und Deutschtum seien bis dahin keine festen Kategorien gewesen. Die jüdische Identität in Deutschland wurde bis dahin nicht ausschließlich durch Interaktion mit diesen beiden Polen, sondern auch in Austausch mit anderen Verortungen konstruiert, so Avraham. Erst der koloniale Einfluss beförderte die klar rassifizierten Konflikte und stellte Juden und Jüdinnen vor die Frage der eigenen Identifikation mit Unterdrückten oder dem vermeintlich Überlegenen, so der Referent. Das Panel wurde durch einen Vortrag von SEBASTIAN MUSCH (Osnabrück) über die Staatenlosigkeit dreier jüdischer Intellektueller – Hannah Arendt, Günther Anders, Kurt Grossmann – ergänzt. Zwar führte die persönliche Erfahrung der drei jeweils zur Auseinandersetzung mit anderen Fluchtbewegungen, ihre Versuche eine umfassende transatlantische Figur zu konturieren seien durch die spezifische Erfahrung als „Jüdische Flüchtlinge“ aber zu kurzsichtig gewesen, so der Referent.
Ebenfalls mit einer postkolonialen Perspektive beschäftigten sich DARIO MICCOLI (Venedig), PIERA ROSETTO (Venedig) und MARTINO OPPIZZI (Rom) am letzten Konferenztag. Die drei Forschungen, die sich jeweils auf unterschiedliche Quellen stützten, nahmen Aspekte von Männlichkeit und Migration aus Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum in den 1940er bis 1970er-Jahren in ihren Fokus. Sowohl geographisch als auch hinsichtlich der Methodologie unterschieden sich die Forschungen stark. Nichtsdestotrotz zeigten die Vorträge, wie die Divergenz von Geschlechterverhältnis, Kolonialismus und Antisemitismus auf unterschiedliche Weise zusammengedacht werden können. Die drei Vorträge beleuchteten das Jüdisch-Sein und Weiß-Sein unter dem Aspekt unterschiedlicher geschlechtlicher Verortungen und leisteten damit einen Beitrag zur Differenzierung des Verständnisses kollektiver Identitäten.
Das Zusammenspiel von jüdischer und geschlechtlicher Identität wurde auch von VÉRONIQUE SINA (Frankfurt am Main) und MARC SIEGEL (Mainz) in einem Panel zu Gender und Judentum in amerikanischen (Post-)Underground Comic, einem Medium, das in den Jewish Studies bisher kaum beachtet wurde, aufgegriffen. Gerade in der Betrachtung der US-Amerikanischen Comic-Underground-Szene der 1960/70er Jahre werde aber der Einfluss jüdischer Künstler:innen auf den Comic als Genre insgesamt besonders deutlich, so Sinas These. Der Vortrag warf außerdem die grundlegende Frage auf, welche Rolle die jüdische Herkunft der Künstler:innen im Comic spielt und was einen Comic jüdisch mache.
Passend zu der aktuellen Wechselausstellung „Ausgeblendet–Eingeblendet: Jüdische Filmgeschichte in der Bundesrepublik“ im Jüdischen Museum Frankfurt, gaben LUCY ALEJANDRA PIZANA PÉREZ (Potsdam-Babelsberg), TIRZA SEENE (Potsdam-Babelsberg), ULRIKE SCHNEIDER (Potsdam-Babelsberg) und JOHANNES PRAETORIUS-RHEINS (Potsdam-Babelsberg) Einblicke in die seit 2022 laufenden DFG Forschungsprojekte Jüdischer Film und Jüdisches Film Erbe.1 Péres‘ vergleichende Forschung beschäftigt sich mit jüdischen Film Festivals in San Francisco, Berlin-Brandenburg und Mexico City, Seene stellte Überlegungen zum sogenannten strukturellem Antisemitismus im Film vor und Schneider beschäftigte sich mit jüdischen Perspektiven, Themen und Filmschaffenden im ostdeutschen DEFA Film. Anhand der Dokumentation Memento von Karlheinz Mund (1965/66) über jüdische Friedhöfe in Berlin, stellte Schneider das Spannungsverhältnis zwischen dem offiziellen antifaschistischen Erinnerungsdiskurs der DDR sowie der jüdischen Perspektive auf die Erfahrung der Shoa dar. In ihrer Arbeit stellt sie die Frage, inwiefern die DEFA Filme auch als jüdisches Filmerbe zu begreifen sind und welches politische Interesse in ihrer Produktion, Aufführung und Bezeichnung liegen kann. Es ist auffällig, dass dieser Vortrag der Einzige im Programm war, der sich mit jüdischen Perspektiven in der DDR beschäftigte. Alle Beiträge, wie auch Praetorius-Rheins abschließende Projektvorstellung der Datenbank Juedischefilmgeschichte.de, knüpften an die Frage an, was als jüdischer Film zu bezeichnen ist und was einen Film jüdisch mache, die bereits in Bezug auf den Underground Comic oder jüdische Speisekulturen aufgeworfen wurde.
In der Sektion Shoah and Antisemitism wurden insgesamt sechs Panels gelistet. Drei biografische Studien wurden zu Beginn des dritten Konferenztages unter dem Titel Antisemitism and Shoa in Poland zusammengefasst. Zwei präsentierte Forschungen in diesem Panel beschäftigten sich mit amtstragenden politischen Persönlichkeiten. Józef Beck, polnischer Außenminister zwischen 1932 und 1939, stand im Fokus von KINGA CZECHOWSKAs (Bydgoszcz) Studie, während sich MICHAL TREBACZ (Lodz) mit Shmuel Zygielbojm, einem jüdischen Mitglied des Nationalrates der Republik Polen in London, beschäftigte. Obwohl Breslau 1933 nicht zu Polen zählte, wurde JONATHAN KAPLANs (Frankfurt am Main) Vortrag dem Panel zugeordnet. Kaplan, der sich hauptsächlich mit der NS-Aufarbeitung insbesondere in der DDR beschäftigt, widmete sich in diesem Projekt der Biografie Walter Steinfelds, einem nur wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 in Breslau ermordeten jüdischen und kommunistischen Studenten. Kaplan stellte die provokative Frage, ob Steinfeld als erstes Opfer des Holocausts zu werten sei. In der Berichterstattung über den Mord in der deutsch-jüdischen, bürgerlichen und linken Presse in Deutschland, wie auch hebräischen Presse in Palästina und der internationalen Presse zeige sich die Komplexität des Falls. Die jeweilige Bezeichnung Steinfelds, als Kommunist oder Jude, ist entscheidend für seine Erinnerung.
Sehr spezifische linguistische Fragen des modern Hebräischen wurden unteranderem von YAEL RESHEF (Jerusalem) und YEHUDIT HENSHKE (Ramat Gan) behandelt. Henshke präsentierte Ergebnisse ihrer aktuellen Studie unter mizrahischen Sprecher:innen des Hebräischen. Ihre Untersuchung belegt nicht konsistente Aussprachemuster mizrahischer Sprecher:innen im modernen Hebräisch. Das untersuchte Vokal Zere aber, wird von mizrahischen Sprecher:innen tendenziell und im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsgruppen in Israel selten als Diphthong (ej) realisiert. Laut Henshke neigen Mizrahim über die Generationen so nach wie vor also dazu, eine vokalische Differenz im Modern Hebräischen zu bewahren. Ebenfalls mit linguistischen Fragen beschäftigten sich DAVID TOROLLO (London), MARTA KACPRZAK (Warschau) und BRANKA ARRIVÉ (Paris) am darauffolgenden Tag. In den Vorträgen wurde insbesondere die Vielfalt und Komplexität der judeo-spanischen Sprache deutlich. Kacprzak beispielsweise legte außerdem interessante Vergleiche von Übersetzungen und Adaptionen westlicher Klassiker wie Gullivers Reisen oder Robinson Crusoe vor.
Die Vorträge von TOM KELLNER (Halle-Wittenberg) zur Übersetzung hebräischer Literatur ins Deutsche, OLAF GLÖCKNERs (Potsdam) Forschung zur Konversion in Deutschland und INA SCHAUMs (Frankfurt am Main) interviewbasierte Studie zu Liebesbeziehungen jüdischer Menschen wurden als Schlaglichter der deutschen Jüdischen Studien in einem Panel zusammengefasst. In ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung und Herangehensweise gaben die drei Vorträge Einblicke in die Vielfalt jüdischer Lebenswelten in Deutschland. Sie bildeten sowohl innerjüdische als auch nicht-jüdische Vorstellungen vom Jüdisch-Sein wie auch Wahrnehmungen von Juden und Jüdinnen und Israelis (z.B. anhand der israelischen Literatur) ab. DANI KRANZ (Beer Sheva) wies in ihrer Response auf die Inter- und Transdisziplinarität des Fachs hin und diskutierte sowohl die Gegenwart und Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland als auch der Disziplin der Jüdischen Studien.
Die zweite Keynote Lecture am Mittwochabend wirkte wie ein Gespräch unter Freunden. RICHARD I. COHEN (Hebrew University) und DAVID B. RUDERMAN (University of Pennsylvania) diskutierten anhand von Fragen, die sie sich gegenseitig stellten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der historisch angelegten Jüdischen Studien als geisteswissenschaftlichem Fach. Ansteckend und humorvoll sprachen Cohen und Ruderman über ihre eigenen Erfahrungen, Veränderungen und Herausforderungen in der Disziplin. Sie problematisierten die zunehmende Prekarisierung in der Wissenschaft und appellierten an die Verantwortung der älteren Generation gegenüber dem akademischen Nachwuchs. Nicht zuletzt betonten sie auch die Gefahren des Rechtsrucks in Europa und in Israel auf die freie Forschung. Parallel und auf der im Anschluss stattfindenden Generalversammlung wurden auch die EAJS-Ämter für die Amtszeit 2023-2027 neugewählt.
Passend zu Cohens und Rudermans Plädoyer zum Engagement für den akademischen Nachwuchs wurden im Rahmen der Konferenz drei sogenannte Early Career Researcher Workshops und eine eigene Sektion von EAJS Emerge Sessions angeboten. Eine Session davon wurde von SASHA GOLDSTEIN-SABBAH (Groningen) und ANNELIES KUYT (Frankfurt am Main) von den Frankfurter Judaistischen Beiträgen geleitet und setzte sich mit Fragen der akademischen Veröffentlichung auseinander.
Insgesamt bildete die Konferenz ein breites Themenspektrum aktueller Forschungen im Feld der Jüdischen Studien in Europa und Israel ab. An fünf Tagen wurden vielfältige Zugänge zur jüdischen Tradition, Geschichte und Kultur diskutiert, etliche Fragen aufgeworfen und unterschiedlichste Ansätze präsentiert, diese zu beantworten oder sie in der Zukunft weiter zu untersuchen. Nachdem die vorangegangene Konferenz aufgrund der Corona Pandemie nicht wie geplant umgesetzt werden konnte, war die 12. EAJS Konferenz in Frankfurt am Main ein guter Anlass zur internationalen Begegnung und zum Dialog. Dem Titel und Vorsatz der Diversität wurde die Konferenz, trotz beispielsweise eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses der Referierenden, aber nur teilweise gerecht. Denn einige Fragen und Perspektiven blieben offen. Einerseits kamen auf dem Kongress verschiedene Disziplinen, die jüdische Theologie, die Linguistik, die Kultur-, Geschichts- und Literaturwissenschaft, in den Dialog. Andererseits spiegelte das Programm ein doch recht traditionelles Forschungsfeld der Disziplin wider. Der Blick ins Programm zeigt, dass theologische Perspektiven nach wie vor das Feld dominieren. Während beispielsweise unter der Sektion Modern Judaism historische, religiöse und kulturelle Forschung subsumiert war, waren die Themen Manuscript studies, Bible and its reception, Rabbinic Literature and its reception, Liturgy and Ritual sowie Ancient Judaism in sich deutlich ausdifferenzierter und damit quantitativ auch umfangreicher vertreten. Dies kann auch mit den Schwerpunkten der Frankfurter Judaistik als Ausrichterin der Konferenz begründet werden. Nichtsdestotrotz ließ sich eine Öffnung hinsichtlich neuer Forschungsperspektiven, beispielsweise den Queer- und Postcolonial Studies, beobachten. Viele Forschungen der Moderne konzentrierten sich trotzdem auf ein weißes, westliches Judentum. Explizit nicht-aschkenazische, nicht-weiße oder mizrahische Perspektiven spielten letztlich in nur sehr wenigen Panels eine Rolle. Israel Studies als eigene Sektion waren ebenfalls nicht vertreten und ein Panel zur aktuellen politischen Lage in Israel wurde erst nachträglich in der Mittagspause des zweiten Konferenztages ergänzt. Angesichts der starken Prägung jüdischen Lebens in Europa durch die Realität in Israel lässt sich dies als Desiderat der europäischen Jüdischen Studien bezeichnen.
Ein einzelnes Ergebnis der 12. EAJS-Konferenz lässt sich im Hinblick auf die Bandbreite der Forschungsarbeiten nur schwer festhalten. Vielleicht, dass die Disziplin an sich interdisziplinär war und ist, aber auch, dass es dies angesichts eines generellen gesellschaftlichen religiösen und rechten Backlashs weiter zu verteidigen und das Fach multiperspektivisch zu öffnen gilt, um den fruchtbaren Dialog der Disziplinen auch in der Zukunft weiter zu gewährleisten.
Konferenzübersicht:
Keynote Lecture
Judith Olszowy-Schlanger (Oxford): The People of Many Books. The Birth and Spread of Jewish Bibliophilia in the Middle Ages
Regional Jewish Food
Chair: David Rotman (Jerusalem)
Susanne Belovari (Urbana-Champaign): Industry, Biographies, and Culture: How Jews and Non-Jews Created the Famous Viennese Cuisine from the late 1700s to 1938
Ilze Olehnovica (Daugavpils): Gastronomic Code of Latgale Jews in the 1970s-1990s,
Nora Rubel (Rochester): “Gefilte Fish can be the Next Sushi.” Jewish American 21st Century Culinary Inventions and Aspirations,
Sentimental Places in Modern Jewish Literature
Chair: Irina Rabinovich (Holon)
Isadora Sinay (São Paulo): From the Shtetl to the Deli: Returning and Images of Jewish Europe in the Fiction of Philip Roth
Aleksei Surin (Ramat-Gan): Israeli Cities: Diversity of Urban Myth in Russian-Israeli Literatur
Helena Rimon (Ariel): Jerusalem in Israeli-Russian Fantasy Literature: Genre Types, Heroes and Environment
Spirituality and Challenge among Contemporary Haredi Jews
Chair: Wojciech Tworek (Wrocław)
Kate-Miriam Loewenthal (London): Orthodoxy and Psychotherapy: Hostility and Incorporation,
Victoria Lisek (London): Defending and Renouncing the “Enclave”: Case Studies of Orthodox Jewish Young Women’s Literature and “Off the Derekh” Memoirs,
Naftali Loewenthal (London): Experiential Spirituality in Prayer for Men and Women in 21st Century Habad
Michael Berkowitz (London): Response to Session “Spirituality and Challenge among Contemporary Haredi Jews”
Decolonizing Jewish Studies
Chair: Adam Sutcliffe (London)
Stefan Vogt (Frankfurt am Main): Contested Contextualizations: Colonialism and the Jews in German History
Doron Avraham (Ramat Gan): “German Jews” and the Colonial “Other”: The Development of Hybrid Identity
Sebastian Much (Osnabrück): The “Jewish Refugee” as a Transatlantic Figure and its Blindspots: German-Jewish Intellectuals and Forced Migration from the Global South
Gender, Memory and Migration: Jewish Masculinities from North Africa and the Eastern Mediterranean, 1940s-1970s
Chair: Sami Everett (Southampton)
Dario Miccoli (Venedig): “An adventure only books can tell”: Rhodesli Jewish Migrants in Congo and Rhodesia, 1910s-1940s
Martino Oppizzi (Rom): Memory, Masculinity, and Mobility: Narrating Colonial Environment, Gender Construction and Migration in the Autobiographies of Italian Jews of Tunisia
Piera Rossetto (Venedig): “I always remember him with a lot ... of sadness”: Perspectives on Gendered Identities among MENA Jewish Migrants
Antisemitism and Shoah in Poland
Chair: Elisabeth Janik-Freis (Wien)
Jonathan Kaplan (Frankfurt am Main): The Beginning of the Holocaust in Breslau 1933. Walter Steinfeld’s Murder and its Impact on the German-Jewish Community,
Kinga Czechowska (Bydgoszcz): Policy set in Stone? Polish Diplomacy, the “Jewish Question” and two Visits of Foreign Minister Józef Beck in London (1936 and 1939)
Michal Trebacz (Lodz): Shmuel Zygielbojm and the Polish Government in Exile. A History of Disappointment
Modern Hebrew and its Grammar
Chair: Anat Kidron (Qiryat Shemona)
Yael Reshef (Jerusalem): On Two Non-Conventional Causal Conjunctions in Emergent Modern Hebrew
Yehudit Henshke (Ramat Gan): The Vowel /e/ in Contemporary Hebrew: A Sociolinguistic and Acoustic Consideration,
Judeo-Spanish
Chair: Ora Schwarzwald (Ramat Gan)
David Torollo (Madrid): Sephardic Jews in Fes Caught Between Spanish and Judeo-Arabic
Marta Kacprzak (Warschau): The Judeo-Spanish Language in the Sephardi Translations of European Literature
Branka Arrivé (Paris): Past Participles with an Active Meaning in Judeo-Spanish
Jewish Film Studies
Chair: Anna-Dorothea Ludewig (Potsdam)
Lucy Alejandra Pizaña Pérez (Potsdam): Jewish Film Festivals: Network Nodes and the Development of “Jewish Film”
Tirza Seene (Potsdam): Jewish Perspectives on Antisemitism and Film
Johannes Praetorius-Rhein (Potsdam): What is Jewish Film Heritage in Germany? A Database Project
Ulrike Schneider (Potsdam): Retrospective of DEFA-Documentaries. Part of a Jewish Film Heritage?
Queer-Feminist Intersections in Jewish Media Studies
Chair: Marc Siegel (Mainz)
Véronique Sina (Frankfurt am Main): Family Resemblances: Gender and Jewishness in Feminist (Post-) Underground Comics
Ina Holev (Mainz): Melodrama and Memory Culture in Unorthodox (2020): A Feminist Analysis (cancelled)
Simone Nowicki (Mainz): Voices of Reason? An Investigation of Sound and Testimony in Yael Bartana’s Redemption Now at the Jewish Museum Berlin (cancelled)
Marc Siegel (Mainz): Response to Session “Queer-Feminist Intersections in Jewish Media Studies”
Branching out into the Present: Contemporary Jewish Studies in Germany
Chair: Irene Zwiep (Amsterdam)
Ina Schaum (Frankfurt am Main): Love Between Past and Present: Relationships of Jews in Contemporary Germany
Tom Kellner (Halle / Wittenberg): Contemporary Hebrew Prose in German: Between the Familiar and the Foreign
Olaf Glöckner (Potsdam): Transformation of Jewish Collective Identities in Germany by Immigration and Converts
Dani Kranz (Tel Aviv): Response: Jewish Diversity, or why Jews are Good to Think with: Branching out
Keynote Lecture
Richard I. Cohen (Jerusalem) / David B. Ruderman (Philadelphia): Writing and Teaching Jewish History for a Half-Century: A Dialogue About the Past and Present´
Anmerkung:
1 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Projekt: Jüdisches Filmerbe, Siehe: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/497126216 (22.08.2023)