geschichtsdidaktik empirisch 23: Geschichtslernen und Geschichtskultur in Zeiten der Krise

geschichtsdidaktik empirisch 23: Geschichtslernen und Geschichtskultur in Zeiten der Krise

Organisatoren
Monika Waldis, FHNW Aarau; Martin Nitsche, FHNW Aarau; Julia Thyroff, FHNW Aarau
Ort
Basel
Land
Switzerland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.09.2023 - 08.09.2023
Von
Moritz Heitmann, Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Münster; Jonas Schobinger, Zentrum für Demokratie Aarau, Fachhochschule Nordwestschweiz

„Der Erde geht die Puste aus“, so titelte die Tagesschau am 13.09.2023.1 Sechs von neun planetaren Belastungsgrenzen seien jüngsten Studienergebnisse zufolge überschritten.2 Nicht nur das: Corona, Krieg(e), Katastrophen – immer neue und dramatischere Krisen sind Teil, vielleicht sogar Ausweis, unserer Gegenwart. Sie stellen eine Disziplin wie die Geschichtsdidaktik vor mindestens zwei Herausforderungen: Wie können Krisen mittels Verknüpfungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in „Sinnbildungen über Zeiterfahrung“ verarbeitet werden?3 Und welche Konsequenzen folgen daraus für historisches Lernen? Im Rahmen der Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 23: Geschichtslernen und Geschichtskultur in Zeiten der Krise“ am 07. und 08. September 2023 in Basel wurden diese Fragen im deutschsprachigen Kontext betrachtet.

Den Rahmen für diese Betrachtungen stellten zwei Perspektiven dar: Einerseits die von MONIKA WALDIS (Aarau) in ihrer Tagungseröffnung formulierte Frage „Was kann die Geschichtsdidaktik in Krisenzeiten liefern?“. Andererseits das Konzept des Anthropozäns als ursprünglich geologischer, längst aber auch gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Denkrahmen.4

Vier Keynotes konturierten diesen Rahmen. So profilierte ZOLTÁN BOLDIZSÁR SIMON (Bielefeld) den Begriff des Anthropozäns geschichtstheoretisch als Denkhorizont, der in einer systemischen Perspektive auf die Welt bisheriges historisches Denken herausfordere; zum einen, weil menschliches Handeln hier nur einen Teilaspekt der Geschichte darstelle. Zum anderen, weil höchst unterschiedliche geschichtskulturelle Deutungen dieses Denkhorizonts existierten, bspw. techno-managerialism, adaptionism oder survivalism, die Gesellschaft jedoch lernen müsse, mit deren Nebeneinander umzugehen.

In der Frage, wie mit dem Anthropozän in didaktischer Perspektive umzugehen sei, legten SEBASTIAN BARSCH (Köln) und KAI NIEBERT (Zürich) Vorschläge vor. Barsch stellte in seiner Keynote die Forderung auf, dass Lernende im Geschichtsunterricht „Könnerschaft“5 erwerben müssten. Eine erste Form der Könnerschaft im Umgang mit dem Anthropozän könnte darstellen, über das Anthropozän erzählen zu können. Dieses Erzählen-vom-Anthropozän, möglichst in Form kollektiver Narrative, könnte Lernende zu gesellschaftlichem Handeln befähigen, bedürfte aber des Blicks über den Fachunterricht hinaus. Ein ähnliches Plädoyer trug auch Niebert vor. Er problematisierte, dass bisherige Thematisierungen des Anthropozäns und ökologischer Krisen vor allem die individuelle Verantwortung der Lernenden adressieren, obwohl die Krisenbewältigung politisch-gesellschaftlicher Veränderungen bedürfte. Niebert regte daher an, die politische Handlungssphäre zum Gegenstand von Bildung im Anthropozän zu machen.

Komplementär zu diesen auf Bildungshandeln zielenden Ausführungen stellte CHRISTINE PFLÜGER (Kassel) in ihrer Keynote am Beispiel Kassel vor, wie sich die Ausbildung angehender Geschichtslehrer:innen „in Zeiten von Transformationsnarrativen“ verändere. Sie zeigte auf, wie sich-verändernde gesellschaftlich-diskursive Rahmenbedingungen institutionelle Auswirkungen (beispielsweise auf Ebene neuer Studieninhalte) zeitigen. Dennoch identifizierte auch sie noch ein Forschungsdesiderat in der Frage, wie schließlich Schüler:innen historische Orientierungskompetenzen in Zeiten der Veränderung erwerben könnten.

Innerhalb dieser Sichtachsen, dem Anthropozän als geschichtskulturellem Denkhorizont (1), der Frage nach Könnerschaft und (politischem) Handeln in Zeiten der Krise (2) sowie der weiteren Erforschung historischen Denkens und Lernens, insbesondere historischer Orientierung (3), lassen sich die insgesamt elf Panels der Tagung einordnen.

(1) Das Anthropozän als geschichtskulturellen Denkhorizont historischer Lernprozesse thematisierten die Vorträge von BENJAMIN REITER (Bamberg) und PHILIPP BERNHARD (Regensburg), CHRISTIAN MATHIS (Zürich) und ALLESSANDRO RENNA (St. Gallen), STÉPHANIE DUBOSSON (Lausanne) sowie BRITTA BRESER (Graz), CHRISTIAN HEUER (Graz) und GEORG MARSCHNIG (Wien).

Reiter und Bernhard präsentierten ihre Forschungsperspektive auf das Big-History-Projekt. Das Projekt verfolgt die Idee, Natur- und Menschheitsgeschichte zu einer übergeordneten Meistererzählung zu integrieren. Sie stellten jedoch kritische Fragen an das exemplarisch-fortschrittsgeleitete Narrativ, das in diesem Projekt vermittelt werden soll.

Um die Veränderungen des Anthropozäns in historischen Lehr-Lernprozessen verständlich zu machen, plädierten Mathis und Renna ebenfalls für eine Verknüpfung fachlicher Sichtweisen, etwa der Biologie- und Geschichtsdidaktik. Sie forderten jedoch, angesichts der Komplexität des Anthropozäns die fachspezifischen Denkweisen nicht aufzugeben, sondern deren Kern beizubehalten, um dieser Komplexität gerecht werden zu können.

Ähnlich argumentierte Dubosson, welche die Integration natur- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven vorschlug, um umweltgeschichtliche Ansätze in Unterrichtssequenzen zu verankern.

Einen Gegenentwurf zu bisherigen Denkhorizonten skizzierten Breser, Heuer und Marschnig. Ausgehend vom Anspruch an historisch-politische Bildung, Kinder und Jugendliche zu Kritik und Mündigkeit zu befähigen, skizzierten sie anhand eines theaterpädagogischen Ansatzes, wie neue Handlungsräume geschaffen werden können, die über nur scheinbar innovationsträchtige Deutungs- und Ordnungsbegriffe wie „Krise“ hinausgehen.

(2) Einen Vorschlag, Könnerschaft im Umgang mit Krisen zu erwerben, unterbreitete der Vortrag von SABRINA SCHMITZ-ZERRES (Münster) und RAINER LUPSCHINA (Tübingen). Sie stellten unter dem Titel „Die Zukunft als Krise(n)?“ den Ansatz der Lernplattform „Offene Geschichte“ vor.6 In diesem Zusammenhang legten sie sowohl ihr Begriffsverständnis von Krisen als Erfahrungen häufig vernachlässigter Kontingenz dar, die Sinnbildungsprozesse anregten, als auch das Konzept ihrer Lernplattform.

Mit Krisen als Ausgangspunkt von Lernbewegungen beschäftigten sich auch FRANZISKA PILZ (Paderborn) sowie Christian Heuer und JULIA JOCHUM (Graz). Pilz befasste sich mit Krisen im bilingualen Geschichtsunterricht und schlussfolgerte, dass Krisenmomente, welche Unsicherheit und somit Lernchancen auslösten, im Unterricht - gerade, wenn dieser videografiert werde - eher vermieden werden. Heuer und Jochum beleuchteten das Thema aus der Perspektive der Geschichtslehrer:innenbildung. Häufig erführen Studierende im Fachdidaktikunterricht Krisen aufgrund ihrer divergierenden Erwartungen an das Fach. Diese Krisen könnten erfolgreich gestaltet werden, wenn Studierende sie als sinnhafte Übergangs- und Professionalisierungsprozesse verstünden, denen eine Neuorientierung inhärent sei.

DOMINIC STUDER, PHILIPP MARTI und SIMON AFFOLTER (alle Aarau) wiesen auf Grundlage ihres Forschungsprojektes darauf hin, dass globalgeschichtliche Ansätze Schüler:innen befähigten, die Herausforderungen des Anthropozäns besser zu verstehen, indem globale Zusammenhänge erkannt würden. Dies beinhalte aber die Herausforderung, dass sich Schüler:innen von der Erwartung lösten, monokausale und eindeutige Antworten auf historische Fragestellungen zu finden.

Mit einem verwandten Thema, nämlich interkultureller Perspektivität, setzte sich CORINNA LINK (Heidelberg) auseinander. Sie wartete mit dem überraschenden Studienergebnis auf, dass bilingual unterrichteten Schüler:innen der deutsche geschichtskulturelle Diskurs bekannter sei, als ihren regulär unterrichteten Kolleg:innen.

Für eine verstärkte Thematisierung globaler und interkultureller Perspektiven im Kontext der Friedensbildung plädierte auch GABRIELE DANNINGER (Salzburg), um der Vielzahl an Friedensbegriffen und Friedenskonzepten im Geschichtsunterricht gerecht zu werden.

Inwieweit der Besuch des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr geeignet ist, um die Könnerschaft deutscher Armeeangehöriger im historischen Denken zu fördern, untersuchte JAKOB ARLT (Potsdam). Gemäß seinen Auswertungen stieß der Besuch keine vertiefte Reflexion über Rolle und Verantwortung Armeeangehöriger an, da ein Großteil der Soldat:innen Gewaltanwendungen auch nach dem Museumsbesuch als „natürlich“ apostrophieren.

Mit der Frage, welche Herausforderungen auf die Lehrer:innen(-ausbildungen) im Geschichtsunterricht bei der Vermittlung von Könnerschaft in Zeiten der Krise zukommt, beschäftigten sich das KLUG-Panel unter der Führung von WALTRAUD SCHREIBER (Eichstätt-Ingolstadt) u.a. sowie die Vorträge von JOCHEN KIRCHHOFF (Linz) und ANNE ALBERS (Göttingen).

Das Fortbildungskonzept des KLUG-Projekts verfolgt das Ziel, inklusiven Geschichtsunterricht mittels Blended-Learning-Angeboten für Lehrer:innen anzubieten. Im Rahmen des Panels wurden vier Evaluierungsstudien vorgestellt. SUSANNE SACHENBACHER (Eichstätt-Ingolstadt) sowie LISA HASENBEIN (Tübingen) stellten in ihren jeweiligen Interventionsstudien einerseits fest, dass Lehrpersonen die blended-learning-Fortbildungsschwerpunkte, wenn auch unterschiedlich nachhaltig, in den Unterricht adaptierten (Sachenbacher) und andererseits, dass die Fortbildungen positive Effekte auf die Kompetenzen historischen Denkens der Schüler:innen hätten (Hasenbein). Ein zentraler Faktor für positiv wahrgenommene Unterrichtsqualität, so die Präsentatorinnen, bilde das Lehrer:innenfeedback. Damit setzte sich STEFANIE HÖLZLWIMMER (Eichstätt-Ingolstadt) vertiefend auseinander. Insbesondere strich Hölzlwimmer die Bedeutung der Reflektiertheit von Lehrpersonen-Feedbacks für die Wirksamkeit desselben heraus. ULRICH TRAUTWEIN (Tübingen) u.a. bildeten den Abschluss des Quartetts. Sie legten erste Einschätzungen zur Validität eines Erhebungsinstruments zur Beurteilung der Unterrichtsqualität aus Schüler:innen-Sicht anhand der Basisdimensionen guten Unterrichts vor.7

Thematisch ergänzend zum KLUG-Panel gab JOCHEN KIRCHHOFF (Linz) Einblick in ein Erhebungsinstrument, welches das fachdidaktische Wissen erfahrener Geschichtslehrkräfte evaluierte, und ANNE ALBERS (Göttingen) entwickelte anhand einer Stichprobe einen ersten, vielversprechenden Ansatz, um kulturell-differenzbezogene Überzeugungen von Geschichtslehrkräften statistisch zu modellieren.

(3) Neben diesen beiden Sichtachsen widmeten sich Vorträge der empirisch fundierten Erforschung historischen Denkens und Lernens. Mit Fokus auf historische Orientierung und Orientierungskompetenzen, wurde hier der Bereich historischen Denkens besonders ausgelotet.

Gleich mehrere Vorschläge zur Erforschung historischen Lernens und Denkens, vor allem historischer Kompetenzen, legte CHRISTIANE BERTRAM (Konstanz) in zwei Vorträgen dar. Sie stellte mit weiteren Kolleg:innen einerseits ein Konzept dreistufiger Bildungsstandards vor, das einen Beitrag dazu leisten solle, sich auf einen Mindesthorizont historischen Lernens zu verständigen sowie Lernfortschritte zu diagnostizieren. Andererseits präsentierte sie in Zusammenarbeit mit KATHARINA TOTTER u.a. (Tübingen) das Zeitzeugenprojekt „Generation 1975“ und dessen Begleitforschung. Während Totter Einsichten in den Entwicklungsprozess von Forschungsinstrumenten zum Umgang Lernender mit Zeitzeug:innen gab, konzentrierte sich Bertram darauf, die Erzählungen der Zeitzeug:innen in Form einer Matrix entlang der Achsen Emotion und Kognition zu systematisieren, womit Aussagen zum Geschichtsbewusstsein der Zeitzeug:innen getroffen werden sollten.

Mittels dokumentarischer Methode konnte DANIEL FASTELABEND-VARGAS (Paderborn) eine Pluralität von Deutungspraktiken herausarbeiten, nach welchen Schüler:innen sich im außerschulischen Kontext mit kontroversen Darstellungen und Interpretationen zur Kolonialgeschichte auseinandersetzen.

Einblicke in sein Vorgehen zur Erforschung der „Wirksamkeit des Mediums Zeitung für das historische Lernen“ legte KRISTOPHER MUCKEL (Aachen) vor. In seiner Interventionsstudie konnte er – auch wenn er seine Aussage auf die Stichprobe begrenzte – aufzeigen, dass (digitalisierte) Zeitungen Schüler:innen häufiger zu vergangenheitsbezogenen Deutungsleistungen befähigten als Zeitungsabschriften.

Spezifisch mit historischer Orientierung befassten sich die Forschungsberichte von Christian Mathis und JONAS DISCHL (Zürich) sowie MARTIN NITSCHE (Aarau), JAN SCHELLER (Greifswald) und JONAS SCHOBINGER (Aarau) und schließlich KRISTINE GOLLIN (Bern).

Mathis stellte dar, wie er das Design einer Studie von Löfström u.a. für die Beforschung schweizerischer Neuntklässler:innen adaptierte. Löfström u.a. betrachteten, wie schwedische Schüler:innen in der Auseinandersetzung mit einem Auszug aus Brownings „Ordinary Men“ historisches mit moralischem Denken verknüpften.8 In der Übertragung des Designs auf schweizerische Sekundarschüler:innen zeigte sich jedoch, dass diese nur begrenzt auf moralischer Ebene agierten, sondern vielmehr die Aufgaben unterrichtstypisch und pragmatisch ‚abarbeiteten‘.

Nitsche, Scheller und Schobinger legten dar, wie sich im Rahmen ihres Forschungsprojektes Proband:innen unterschiedlicher Expertise im Fach Geschichte mit der Schweizer Neutralität in historischer Perspektive auseinandersetzen. Dabei ging es ihnen darum, zu zeigen, ob sich bei den Proband:innen historische Orientierung beobachten ließ und inwiefern der Ausbruch des Ukrainekrieges darauf einwirkte. Sie konstatierten, dass Bewertungen kaum die Grundlage für Handlungsoptionen legten und daher eine Differenz zwischen der theoretisch-normativen Vorstellung und den empirischen Ergebnissen festzuhalten sei.

Auch Gollin befasst sich in ihrer Studie mit der Rezeption der Neutralität der Schweiz – hier sollten Schüler:innen schriftlich anhand von historischen Materialien zum Thema argumentieren; anschließend wurden vertiefende Interviews sowie die Methode des lauten Denkens durchgeführt. Gollin gelang es, zu beobachten, wie Schüler:innen in ihren Ausführungen Bezüge zur eigenen Gegenwart, zu sich selbst und ihrer Lebenswelt herstellten.

Eine andere spezifisch-krisenbedingte Herausforderung historischen Lernens betrachteten CHRISTOPH KÜHBERGER, HEINRICH AMMERER und JASMIN KATZIER (alle Salzburg). Sie präsentierten Einsichten zum österreichischen Geschichtsunterricht während der Corona-Pandemie. Die Auswertung von ihnen gesammelter Unterrichts-Aufgaben bündelten sie unter den Sichtachsen ihrer Qualität (hier: Kompetenzorientierung nach FUER) sowie ihrer Digitalität. Gleichwohl sie die Limitationen ihrer Stichprobe deutlich machten, beobachteten sie, dass die Aufgaben auf eine traditionell-inhaltsorientierte Aufgabenkultur im Distanz-Geschichtsunterricht hinwiesen; ferner seien nur selten digitale Produkte berücksichtigt worden. Auch die Erfahrungen, die von ihnen befragte Studienanfänger:innen berichteten, zeugten von einem Gebrauch klassischer Lehr- und Lernmittel.

ANNE PEITER (La Réunion) und ANDREA BRAIT (Krems/Innsbruck) setzten sich in ihren Vorträgen mit der Frage auseinander, wie und ob die Unbegreiflichkeit von Genoziden so vermittelt werden kann, dass historische Orientierung und Sinnbildung entsteht (Peiter), bzw. inwiefern das Thema die historische Orientierungskompetenz von Sek II-Schüler:innen fördere (Brait). Oftmals, so der Befund von Brait, fokussiere die Vermittlung auf Inhalte und verharre in der "Vergangenheitskunde", da keine gesellschaftspolitischen Anstöße zu gegenwärtigen Krisen gegeben würden.

Mit ihren Perspektiven auf historische Denk- und Deutungsrahmen in Zeiten der Krise und Veränderungen, der Frage nach der spezifischen Bedeutung und den Potentialen von Krisen für historisches Lernen sowie Desiderata und Herausforderungen der empirischen Forschung vereinte die Tagung wesentliche Einblicke auf geschichtsdidaktische Fragen der Gegenwart. Dennoch stellen sich mindestens zwei Fragen, die einer intensiveren Diskussion bedürften.

Erstens: So drängend die Herausforderungen und Krisen der Gegenwart auch sind: Wie normativ-handlungsleitend will Geschichtsdidaktik hier sein? Im Laufe der Tagung wurde wiederholt formuliert, dass Geschichtsunterricht auch ‚politisch‘ werden und Schüler:innen zu politischem Handeln befähigen müsse. Wenngleich es Konsens ist, dass Schule neben einem Bildungs- auch einen Erziehungsauftrag hat und Geschichtsunterricht zu gesellschaftlicher Partizipation befähigen soll, regt diese Forderung erneut dazu an, den Platz der Geschichtsdidaktik im Verhältnis von Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft zu klären.9

Zweitens: Als mögliches Movens für Handeln in aktuellen Krisen wurden kollektiv tragfähige Narrative benannt. Diese wurden auch als Gegenentwurf zum individuell zentrierten (nord-)westlichen Bildungsideal seit der Aufklärung verstanden. Auch wenn man dieser Idee folgt: Wie lässt sich Zustimmung für solche Narrative einwerben – sowohl in kontroversen wissenschaftlichen Diskussionen als auch gesellschaftlich? Statt kollektiven Erzählungen müsste hier womöglich die Fähigkeit zu Streit und Aushandlungsprozessen mit gesellschaftlicher Bindekraft in den Mittelpunkt der Debatte gerückt werden.

Konferenzübersicht:

Tagungseröffnung

Monika Waldis (Basel): Eröffnung Geschichtsdidaktik empirisch 23

Keynote I

Kai Niebert (Zürich): Bildung in der Zeitenwende. Warum Schule und Unterricht im Anthropozän Mut haben müssen, politischer zu werden

Moderation: Monika Waldis (Basel)

Panel 1

Franziska Pilz (Paderborn): Krisen als historisches Lernen im bilingualen Geschichtsunterricht

Corinna Link (Heidelberg): Interkulturelle Perspektivität als Potenzial bilingualen Geschichtsunterrichts?

Moderation: Charlotte Husemann (Potsdam)

Panel 2

Sabrina Schmitz-Zerres (Münster) / Rainer Lupschina (Tübingen): Die Zukunft als Krise(n)? Zum Lernpotential von Kontingenz am Beispiel der Klimakrise

Christiane Bertram (Tübingen) / Wolfgang Wagner (Tübingen) / Christoph Kühberger (Salzburg) / Ulrich Trautwein (Tübingen): Helfen Bildungsstandards in einer krisengeschüttelten Welt? Was Schüler:innen im Fach Geschichte mindestens verstanden haben sollten

Moderation: Meike Hensel-Grobe (Mainz)

Keynote II

Zoltán Boldizsár Simon (Bielefeld): Historical Cultures of the Anthropocene

Moderation: Martin Nitsche (Aarau)

Panel 3

Jonas Dischl (Zürich) / Christian Mathis (Zürich): „Gut, dass jemand Nein sagte“. Wie Sekundarschüler:innen über Geschichte nachdenken. Eine Studie zum historisch-moralischen Denken

Jonas Schobinger (Aarau) / Jan Scheller (Greifswald) / Martin Nitsche (Aarau): Historisches Orientieren in Zeiten des Krieges digital beforschen

Kristine Gollin (Bern): Performanzen historischer Orientierungen von Schüler:innen beim Schreiben in Geschichte

Kristopher Muckel (Aachen): „Es hat Spaß gemacht mit den Zeitungen zu arbeiten und die Schrift von damals zu entziffern nur das Texte schreiben war nicht so mein Ding.“ Untersuchungen zur Wirksamkeit des Mediums Zeitung für das historische Lernen

Moderation: Moritz Heitmann (Münster)

Panel 4

Waltraud Schreiber (Eichstätt-Ingolstadt) / Lisa Hasenbein (Tübingen) / Clemens Hillenbrand (Oldenburg) / Stefanie Hölzlwimmer (Eichstätt-Ingolstadt) / Viktoria Pöchmüller (Oldenburg), Susanne Sachenbacher (Eichstätt-Ingolstadt) / Matthias Schulden (Oldenburg) / Ulrich Trautwein (Tübingen) / Wolfgang Wagner (Tübingen): Zur Einführung und Einordnung des KLUG-Konzepts

Lisa Hasenbein (Tübingen) / Wolfgang Wagner (Tübingen) / Clemens Hillenbrand (Oldenburg), Waltraud Schreiber (Eichstätt-Ingolstadt) / Ulrich Trautwein (Tübingen): Höhere Unterrichtsqualität und verbessertes historisches Lernen: Effekte einer Lehrkräftefortbildung im Blended-Learning-Format

Stefanie Hölzlwimmer (Eichstätt-Ingolstadt): Wie reflektiert gehen Lehrpersonen mit Fortbildungsinhalten und Feedback um? Untersuchung an den adaptierenden Aufgaben der KLUG-Fortbildungsreihe

Susanne Sachenbacher (Eichstätt-Ingolstadt): "Was kommt im Klassenzimmer an?" Qualitative Evaluation einer Blended-Learning-Fortbildungsreihe für Geschichtslehrpersonen auf der Ebene des Unterrichts, verbunden mit dem Ansatz einer Adaptionstypenbildung

Wolfgang Wagner (Tübingen) / Lisa Hasenbein (Tübingen) / Clemens Hillenbrand (Oldenburg), Waltraud Schreiber (Eichstätt-Ingolstadt) / Ulrich Trautwein (Tübingen): Geschichtsunterricht aus dem Blickwinkel der Schüler:innen: Belege für die drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität?

Moderation: Christian Heuer (Graz)

Panel 5

Dominic Studer (Aarau) / Philipp Marti (Aarau) / Simon Affolter (Aarau): Fachdidaktische Potentiale einer globalgeschichtlichen Perspektive im Geschichtsunterricht

Daniel Fastlabend-Vargas (Paderborn): Kontroversen zu Kolonialgeschichte als Ausdruck geschichtskultureller Krisen? Eine rekonstruktive Studie von Deutungspraktiken Jugendlicher am Beispiel von Kolonialfotografien

Moderation: Sabine Ziegler (Luzern)

Panel 6

Katharina Totter (Tübingen): Historisches Lernen mit deutsch-deutschen Erinnerungen an die Transformationszeit. Kompetenzmessung im Rahmen einer Interventionsstudie im Geschichtsunterricht

Christiane Bertram (Tübingen): Zeigen sich in lebensgeschichtlichen Interviews zur deutsch-deutschen Teilungsgeschichte Typen des „Geschichtsbewusstseins“?

Moderation: Helen Kaufmann (St. Gallen)

Panel 7

Gabriele Danninger (Salzburg): Friedensbildung und Konzeptuelles Lernen in Krisenzeiten

Jakob Arlt (Potsdam): Gedachte Soldaten im umkämpften Museum. Grenzen und Chancen von Basiskonzepten für das historische Denken von Soldaten im MHMBw Dresden

Stéphanie Dubosson (Lausanne): Umweltgeschichte in französischsprachigen Klassenzimmern. Schwierigkeiten, Herausforderungen und Möglichkeiten

Moderation: Matthias Zimmermann (Fribourg)

Panel 8

Benjamin Reiter (Bamberg) / Philipp Bernhard (Regensburg): Das Anthropozän als Krise der Orientierung in der Zeit: Big History als alternative Form historischen Erzählens?

Christian Mathis (Zürich) / Allessandro Renna (St. Gallen): Zähmen, Züchten, Domestizieren? Die radikale Veränderung in der Natur-Mensch-Beziehung begann mit dem Neolithikum. Ein theoretisierter Unterrichtsvorschlag

Britta Breser (Graz) / Christian Heuer (Graz) / Georg Marschnig (Graz): „Manchmal muss man auch nichts sagen“. Über die (Un-)Möglichkeiten von Sprache & das Potenzial von Handeln in der Krise

Moderation: Franziska Rein (Kiel)

Keynote III

Sebastian Barsch (Köln): Vom Anthropozän erzählen – braucht es dafür historische Kompetenzen?

Moderation: Julia Thyroff (Basel)

Panel 9

Anne Peiter (La Réunion): "Hier ist kein Warum!" Zum Verschwinden des historischen Sinns während der Shoah und des Tutsizids in Ruanda

Andrea Brait (Krems/Innsbruck): "Vergangenheitskunde" oder Holocaust-Education?

Moderation: Thomas Metzger (St. Gallen)

Panel 10

Christoph Kühberger (Salzburg) / Jasmin Katzier (Salzburg): Historisches Lernen als Distance Learning. Zur Aufgabenkultur des österreichischen Geschichtsunterrichts während der Corona-Krise

Heinrich Ammerer (Salzburg): Zur Sicht österreichischer Lernender auf den Geschichtsunterricht in der Pandemie

Moderation: Jan Scheller (Greifswald)

Keynote IV

Christine Pflüger (Kassel): Geschichtslehrer:innen-Ausbildung in Zeiten von Transformationsnarrativen

Moderation: Monika Waldis (Aarau)

Panel 11

Anne Albers (Göttingen): Differenzbezogene Beliefs von Geschichtslehrer:innen in der Migrationsgesellschaft

Jochen Kirchhoff (Linz): Fachspezifische Lehrerkompetenzen in Geschichte: Konzeptualisierung, Operationalisierung und Validierung eines Testinstruments zur Erfassung des domänenspezifischen Professionswissens erfahrener Geschichtslehrkräfte

Christian Heuer (Graz) / Julia Jochum (Graz): Der Übergang als Krise? Über die Wahrnehmung "der" Geschichtsdidaktik im Kontext der universitären Geschichtslehrer:innenbildung

Moderation: Jessica Kreutz (Frankfurt)

Anmerkungen:
1 Werner Eckert: Der Erde geht die Puste aus. 13.09.2023, in: Tagesschau. https://www.tagesschau.de/wissen/klima/klimawandel-planetare-grenzen-erderwaermung-100.html (14.09.2023).
2 Vgl. Katherine Richardson u.a., Earth beyond six of nine planetary boundaries. Science Advances 9 (2023). https://www.science.org/doi/full/10.1126/sciadv.adh2458 (14.09.2023).
3 U.a. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I. Göttingen 1983, S. 51.
4 Nur beispielhaft für solche Übertragungen vgl. den Sammelband Frank Adloff/Sighard Neckel (Hrsg.), Gesellschaftstheorie im Anthropozän. Frankfurt 2020 (Zukünfte der Nachhaltigkeit, Bd. 1).
5 Siehe unter Rückgriff auf Polanyi weiterführend Georg Hans Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis, 4. Auflage, Münster 2020.
6 Alexandra Mühlnikel u.a., Offene Geschichte. https://offene-geschichte.de/ (13.09.2023).
7 Zu den drei Basisdimensionen vgl. Mareike Kunter/Ulrich Trautwein. Psychologie des Unterrichts. Stuttgart 2013.
8 Jan Löfström u.a., Advances in ethics education in the history classroom: after intersections of moral and historical consciousness, in: International Journal of Ethics Education 6 (2021), S. 239–252. https://doi.org/10.1007/s40889-020-00116-w (13.09.2023).
9 Für deren funktionslogische Unterscheidung in Anlehnung an Luhmann vgl. Thomas Großbölting: Geschichte und Politik im wiedervereinigten Deutschland, in: Saskia Handro/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Aufarbeitung der Aufarbeitung. Schwalbach/Ts. 2011, S. 37–54, hier S. 53f. Im Umgang mit der deutsch-deutschen Geschichte sensibilisiert die Frage, welche Deutungen ‚richtig‘ sind und waren, für die eigene Historizität der Bewertung dessen, was als ‚richtig‘ gilt.