Während sich die Hauptliteratur der Globalgeschichte teilweise als Nachfolger der europäischen imperialen Geschichte mit einem neuen Rahmen und zum Teil als Erklärung der „globalisierten“ Gegenwart positioniert hat, konnten die Kritiken, insbesondere aus afrikanisch-historischer Perspektive, kaum Auswirkungen auf ihre deterministischen und eurozentristischen Ansichten leisten. Infolgedessen wurden die zwei Blindpunkten in der Literatur weiter unterschätzt. Der erste Blindpunk besteht darin, dass es ein großes Desinteresse an den außereuropäischen Globalgeschichten gibt, welche durch koloniale Invasionen ausgelöscht wurden, mit dem Argument, dass sie in der heutigen „globalisierten“ Gegenwart keinen determinierenden Einfluss haben. Trotz einführender Forschungsliteratur auf Türkisch, Arabisch und Persisch über dem von Kolonialismus zerstörten global-geschichtlichen Zusammenhang zwischen Afrika, dem Nahen Osten und Indien vor dem 20. Jahrhundert, hat dieses Thema bisher keinen Platz in der Hauptliteratur der Globalgeschichte gefunden.1 Der zweite Blindpunkt, die stark unterschätzte Rolle Afrikas in der Gegenwart, die als von eurozentrischen Kräften gestaltet angesehen wird, bleibt weiterhin eine offene Frage. In diesem Zusammenhang widmet sich diese Sektion der Bereitstellung einführender Diskussionen und weiterer theoretischer Formulierungen zu diesem vernachlässigten Thema.
JOËL GLASMAN (Bayreuth) eröffnete die Sektion mit einem Überblick über Werken, die mit ihren verschiedenen Fallstudien ein neues Licht auf die Rolle Afrikas sowohl in der europäischen Geschichte als auch in der globalen Geschichte werfen können. Außerdem präsentierte er einen weiteren historischen Fall über die europäische Stahlproduktion und ihre Entwicklung im späten 18. Jahrhundert. Damit enthüllte er den Beitrag der durch den Sklavenhandel in der Karibik vertriebenen Afrikaner und ihres Wissens, welches auf Afrikas langer Tradition der Stahlproduktion basierte. Daher unterstricht Glasman, dass die sogenannte moderne Entwicklung Europas im 19. und 20. Jahrhundert, die grundsätzlich auf der Stahlproduktion beruhte, ohne die Ausbeutung afrikanischer Rohstoffe, Arbeitskräfte und Wissen nicht vollständig verstanden werden kann. Er führt weiter aus, dass aufgrund der problematischen Ansichten in der Literatur von Globalgeschichte, die tief in Narrativen der Konvergenz (mit Europa) und der Integration (in Richtung Europa) verwurzelt sind, die vielfältigen Rollen Afrikas in der Globalgeschichte übersehen wurden. Daher seien viele europäische Eliten als die Schöpfer der „globalisierten“ Gegenwart angesehen worden, während die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Beiträge afrikanischer Gemeinschaften und Akteure weitgehend ausgeschlossen und unbeachtet geblieben seien. Glasman schloss seine Rede mit der Betonung, dass afrikanische Stimmen eine entscheidende Rolle für die Globalgeschichte spielen sollten, und das Konzept der „Afroglobalen Geschichte“ umgesetzt werden soll.
Im ersten Vortrag stellte ROBERT HEINZE (Paris) einen Beispielfall zu der besonderen intellektuellen Position des ägyptischen Ökonomen Samir Amin zum Thema Globalisierung auf, bei dem sich die Rolle der afrikanischen Länder von den weitverbreiteten Narrativen wie Konvergenz und Integration, mit dem von den USA und von europäischen Länder geprägten globalen Markt, unterscheidet. Unter Verwendung kritischer Begriffe wie „Primitive Akkumulation“ (als integraler Bestandteil der kapitalistischen Entwicklung), „Neo-Kolonialismus“ und „Eurozentrismus“ soll Amin die aktuelle Transformationen des globalen Kapitalismus, nach den 1960er-Jahren, neu betrachten und weiterhin eine Verbindung zwischen der weitergehenden Ausbeutung Afrikas und neuer Wirtschaftsentwicklung in Europa stellen. Heinz verweist darauf, dass Amin auf der Grundlage seiner Erfahrungen in real-politischen Verflechtungen in der Lage war, die zukünftigen Probleme und Herausforderungen vorherzusagen, denen die afrikanischen Länder gegenüberstehen, die ihre Unabhängigkeit wiedererlangt haben. Amin soll daher auf drei grundlegende Punkte geachtet haben: Diese Länder verfügten nicht über, erstens genügend Zeit, zweitens genügend Mittel und drittens genügend Personal, um die angestrebte Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen. Bei dieser Angelegenheit ist Heinz der Ansicht, dass Amin mit seiner Neuinterpretation der marxistischen Theorie und seiner persönlichen Erfahrung als Wirtschaftsberater in Mali, einen tiefen Blick hatte, einen besonderen Weg für afrikanische Länder vorzuschlagen. Zu diesen Empfehlungen zählt er eine stärkere Süd-Süd-Zusammenarbeit, eine Konzentration auf inländische statt auf globale Märkte, eine Neubewertung vorkapitalistischer Produktionsweisen und Warnungen vor neokolonialer Wirtschaftspolitik in den alten Kolonialmächten. In dieser Hinsicht soll Amin seine Argumente nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht dargelegt haben, sondern auch unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer Komplexitäten. Heinz beendete seinen Vortrag mit der Betonung, dass verschiedene Disziplinen in der globalen Geschichte Afrikas eine besondere Rolle spielen, wie im Fall von Amin.
KATHARINE OKE (Graz) analysierte die Geschichte der Presse in Lagos zu Beginn des 20. Jahrhunderts, welche als ein weiteres Beispiel für die Lücken in der Hauptliteratur der Globalgeschichte angesehen werden kann. Sie legt nach, dass im Fall Nigerias die dominierende Presse eng mit der kolonialen Verwaltung und Infrastrukturen verflochten war. Daher sollen in Nigeria etliche internationale Presseagenturen wie Reuters, sich ausschließlich von den kolonialen Beamten Information besorgt haben. In diesem Zusammenhang stellt Oke klar, dass die lokale Nachfrage nach Zeitungen, die zum großen Teil vom britischen Staat kontrolliert wurden und Nachrichten aus Europa veröffentlichten, sehr gering war, da nicht genügend für die nigerianische Bevölkerung relevante Informationen angeboten wurden. Dies soll sich dann auch nicht in großem Maße verändert haben, als die Briten sogar die ersten zweisprachigen Zeitungen (wie Yoruba-English) veröffentlichten. Obwohl ab 1850 lokale afrikanische Zeitungen bereits vorhanden gewesen seien, haben sie bis in die 1920er-Jahre nur sehr begrenzten Raum in der Hauptpresse oder der internationalen Presse gehabt. Darüber hinaus seien die afrikanischen Journalisten von der britischen und internationalen Presse durchaus marginalisiert worden, damit sie keine wirkliche Alternative bieten konnten. Oke weist jedoch darauf hin, dass die lokale Presse nicht nur wichtig für die Menschen in Nigeria war, um relevante Informationen zu erhalten, sondern auch, um ihren eigenen Kontext zu etablieren. Um diesen Punkt zu erläutern, verweist Oke auf die Rolle der internationalen Medien, die Nigerias lokale Presse weitgehend ignoriert haben, in einer britisch-politischen Agenda, die darauf abzielt, das Ideal der „Britishness“ unter der nigerianischen Bevölkerung zu fördern. In dieser Hinsicht argumentiert sie, dass mit einem auf lokalen Erfahrungen und Verhaltensweisen basierten Blick, die Geschichte der Presse in Nigeria, sich erheblich anders betrachten lässt. Überdies sollen sich die lokalen Erfahrungen in Nigeria hinsichtlich der kolonialen und internationalen Presse zwischen 1900 und 1920 nicht grundlegend von den Beispielen Tansanias und Indiens unterscheiden. Daher veranschaulicht Oke, dass eine afroglobale Perspektive dazu führen kann, dass scheinbar lokale Erfahrungen einen eindeutig globalen Charakter annehmen.
YACOUBA BANHORO (Ouagadougou) griff in seinem Vortrag auf die Geschichte der Afrikanischen Union (AU; ehemals Organisation of African Unity) und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), und ihre Rolle in den Globalisierungsdiskussionen zurück. Er gab an, dass die Ideen für eine Afrikanische Union zwar darauf abzielten, die Position Afrikas in der globalen Wirtschaft und Politik zu definieren, die ersten Entwürfe jedoch auf einer föderalen Struktur, ähnlich der der Vereinigten Staaten, beruhten. Daher soll sogar eine föderale AU-Armee vorhergesehen worden sein. Dennoch betont Banhoro, dass in seiner Schlussform die AU eher eine Mischung von Europäischer Union (EU) und USA war. Dabei sei nicht nur eine mögliche AU-Armee ausgeschlossen worden, sondern auch jegliche Intervention der AU in einem einzelnen afrikanischen Land. Banhoro legt jedoch dar, dass es sich um ein neues Phänomen handelt, bei dem mehrere AU-Unterorganisationen, wie beispielsweise die ECOWAS, interventionistische Maßnahmen eingeführt haben, die darauf abzielen, lokale Konflikte nach dem „Prevent-React-Repair“-Prinzip zu lösen. Grund für diese bedeutende Veränderung war seiner Analyse zufolge, der zunehmende Trend militärischer Machtübernahmen und die Einmischung vieler anderer Akteure, wie etwa der USA und europäischer Länder, in lokale Konflikte. Anstelle dieser neuen Entwicklung stellt Banhoro heraus, dass diese Transformation zu spät und ohne grundlegende strukturelle Reformen gekommen sei, um militärische und nichtafrikanische Interventionen zu verhindern. Daher heißt es, dass es in der ECOWAS heute zwei Blöcke gebe: einerseits die Länder unter Militärherrschaft und andererseits die Länder, die offenbar noch über demokratische Regierungen verfügen. Ein weiterer Grund für diesen Zustand ist laut Banhoro die Tatsache, dass die tiefe Korruption und schlechte Regierungsführung dieser scheinbar demokratischen Regierungen von ECOWAS ignoriert wurden, da diese Organisation seit langem nur eine formelle demokratische Struktur als Leitprinzip des Landes förderte. Insofern soll die Hoffnung auf eine Reformierung lokaler Probleme gegen einen Aufruf zur Armee eingetauscht worden sein. Als Schluss führt Banhoro aus, dass diese neuen Entwicklungen und Veränderungen weitestgehend von globalen Konjunkturen geprägt sind, aber auch als eine regionale Reaktion und Vision betrachtet werden können.
CASSANDRA MARK-THIESEN (Bayreuth) fasst in ihrem Abschlussvortrag diese unterschiedlichen Fallbeispiele zusammen und konzentrierte sich dabei auf deren methodische Gemeinsamkeiten und unterschiedliche Befunde. Zunächst pointiert sie, dass neue Genealogien in Bezug auf Globalisierung und Globalgeschichte entlarvt werden sollten, wobei der Schwerpunkt auf den afrikanischen Akteur:innen und ihrer historischen Rolle liegen sollte. Dafür seien zahlreiche neue afrikanische Quellen bereits vorhanden, die aber zuerst Veröffentlichung, Zugänglichkeit und Erhaltung brauchen. Zudem soll für die afrikanische Geschichtsschreibung, in ihrer eigenen Form, einen Platz in der Globalgeschichte gefunden werden, damit lokales Wissen, das lange als „unzitierbar“ galt, endlich in die Forschungsliteratur einfließen kann. Dabei können die Forscher:innen außer Afrika, laut Mark-Thiesen, viel von afrikanischen Akademiker:innen lernen und ihnen Kollaborationen anbieten. Letztendlich sollte eine afroglobale Geschichte der Gegenwart keine afrozentrische Vision bedeuten, sondern vielmehr dezentralisierungsorientierte Bemühungen, bei denen Wissenschaftler:innen seit langen schlummernde Gegengewichte in stark zentralisierten Forschungseinrichtungen und Literaturen in den Vereinigten Staaten und Europa einbringen.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Joël Glasman (Bayreuth) / Cassandra Mark-Thiesen (Bayreuth)
Robert Heinze (Paris): Globalgeschichte, aus der Peripherie geschrieben: Samir Amin und der Begriff des Eurozentrismus
Katharina Oke (Graz): Global history of Information Infrastructures in Lagos
Sarah Bellows-Blakely (Berlin): Erasures, Silencing, and Frictions in Afroglobal Histories [abwesend in der Sitzung]
Yacouba Banhoro (Ouagadougou): Politische Krisen in der ECOWAS und Globalisierung
Cassandra Mark-Thiesen (Bayreuth): Kommentar
Anmerkungen:
1 Zum Beispiel; Serap Yılmaz, Osmanlı İmparatorluğu'nun Doğu ile Ekonomik İlişkileri : XVIII. Yüzyılın İkinci Yarısında Osmanlı - Hint Ticareti İle İlgili Bir Araştırma, in: Belleten 56,215 (1992), S. 31–68; Lotfi bin Milad, Al-Maghribiyat wa Tijarat al-Hindi min al-Bahr al-Ahmar li-l-mahir al-Hindi wa-l-Shin, in: Annales islamologiques 51 (2017), S. 223–238; Abutaleb Soltanian, Rubita Tijarayı Iran wa Hindi dar durat Safuyan, in: Pazuheş Tariha 4,4 (2001), S. 87–102.