HT 2023: Die Griechen und die Macht der Zahlen. Zahlen und Zahlenangaben in der griechischen Antike und ihre Interpretation in der Forschung

HT 2023: Die Griechen und die Macht der Zahlen. Zahlen und Zahlenangaben in der griechischen Antike und ihre Interpretation in der Forschung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04009
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Pia Bußmann, Lehrstuhl für Alte Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte als Wissenskultur, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Die Omnipräsenz von Zahlen und Daten im öffentlichen Raum ist heute eine Selbstverständlichkeit. Zahlen unterliegen dem Anspruch – gesichert durch Verfahren der Datenerhebung – die Realität möglichst präzise und verlässlich abzubilden. Zahlen ohne Bezugspunkte gelten wiederum als fragile Fakten, die ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit erzeugen. Christoph Michels bemerkt daher treffend in der Einführung der Sektion, dass es angesichts der Allgegenwärtigkeit von Zahlen kaum verwunderlich sei, dass sich Althistoriker:innen schon seit langem mit den Zahlenangaben in der antiken griechischen Literatur beschäftigten, wobei früher vor allem die sachliche Korrektheit der dort genannten Zahlen im Vordergrund gestanden habe. Michels bezeichnet diese Arbeitsweise daher als pseudoexakte Methode, die heute von einer differenzierteren Betrachtungsweise abgelöst worden ist. So habe die Forschung aufzeigen können, dass vor allem soziale Realitäten und kulturelle Vorstellungen die Produktion und Verwendung von Zahlen in den griechischen Polis-Gesellschaften prägten. Die Vorträge der Sektion zeigten eindrücklich, dass trotz der gesellschaftlichen Relevanz von Zählen und Zahlen in der griechischen Welt die Generierung von Zahlen, ihre Diskursivierung, die Methoden des Zählens und die Verwendung von Zahlenangaben in der öffentlichen Kommunikation von Fragilität geprägt gewesen sind und schlossen damit an das Motto des diesjährigen Historikertages an: Fragile Fakten.

ROBIN OSBORNE (Cambridge) untersuchte zu Beginn die Verwendung von Zahlen in Inschriften im antiken Athen. Der Fokus lag auf der Frage, was in den antiken Inschriften gezählt wurde, wobei die athenische Praxis mit anderen Poleis verglichen wurde. Osborne widmete sich zunächst frühen griechischen Inschriften. Er zeigte anhand mehrerer Beispiele auf, dass die ältesten Zahlen in diesen Inschriften zur Zählung der Ratsmitglieder dienten, wobei immer nur die Gesamtzahl der Magistrate angegeben wurden. Osborne begründete dieses Vorgehen damit, dass nur statische Fakten – in der Regel Zahlen mit hoher symbolischer Bedeutung, die sich nicht veränderten – für überlieferungswürdig befunden wurden. So fänden sich keine Aufzeichnungen zu flüchtigen, schnell überholten Informationen wie Wertminderungen, Kriegsgefallenen, Rekruten oder zur Entwicklung von Bevölkerungszahlen. Mit der Einführung des Münzgeldes in Griechenland Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. seien Münzwerte dann zum häufigsten Zählgegenstand geworden, zunächst um die Götter hierdurch an die eigene Frömmigkeit in Form monetärer Geldformen zu erinnern. In klassischer Zeit seien dann auch weltliche Themen in Inschriften behandelt worden. Osborne zeigte eindrücklich, dass von der Polis Athen in Auftrag gegebene Inschriften scheinbar unpraktische Auflistungen von Geldbeträgen enthielten. Zahlen mit einer relevanten Funktion fänden sich nur in privaten Inschriften wie horoi (Grenzsteine) oder Angaben in Fest- und Opferkalendern. Osborne resümiert, dass Inschriften im klassischen Athen als Mittel der Aufmerksamkeit in Form von Machtdemonstration, Werbung oder auch Prahlerei genutzt wurden, sie also nicht auf eine dauerhafte Bedeutung ausgelegt gewesen seien.

Darauffolgend beleuchtete ROBERTA FABIANI (Rom), welche Macht Zahlen auf epigraphische Texte ausüben konnten. Anhand einer ganzen Reihe an Beispielen untersuchte sie, ob Zahlen Texte strukturieren konnten und in welcher Weise dies geschah. Dazu untersuchte sie die Verwendung von Ordnungs- als auch Kardinalszahlen.

Fabiani wandte sich zunächst den Ordnungszahlen zu und bemerkte, dass diese im Allgemeinen in einer Reihenfolge angeordnet seien, da sie dem „Labelling“ von Gegenständen und Texten gedient hätten. Ordnungszahlen würden aber keine Ordnung schaffen, sondern lediglich einzelne Elemente einer bereits geordneten Gruppe anzeigen, um den Gebrauch oder die Wahrnehmung zu erleichtern.

Anders bewertete Fabiani diesen Umstand bei Kardinalszahlen. Diese könnten allein aufgrund ihrer Position eine Struktur schaffen. So fänden sich sowohl chronologische als auch numerische Ordnungen. Beispielhaft führte Fabiani die attischen Tributslisten1 an, in denen Zahlenangaben unüblicherweise vor dem Namen der jeweiligen Stadt gelistet wurden. Die Zahlen würden nicht nach Größen geordnet, weshalb Fabiani schlussfolgert, dass hier eine chronologische Reihenfolge gewählt wurde. In einem weiteren Beispiel, den Rechenschaftsberichten des Parthenon2, wurden die Zahlen nach Mengenangaben, also in einer numerischen Reihenfolge geordnet. Fabiani verwies darauf, dass sich chronologische Ordnungen deutlich häufiger finden würden, da dies die einfachere und kostengünstigere Variante gewesen sei, weil die Überarbeitung von Protokollen Zeit und Energie gekostet hätte.

Zuletzt zeigte Fabiani anhand der Rechenschaftsberichte der Schatzmeister der Athena, dass die Notwendigkeit, klar strukturierte Listen zu führen keinesfalls eine Konstante gewesen sei. Die Unregelmäßigkeit, mit der solche Listen geführt wurden, zeige, dass sie wegen des damit verbundenen Aufwandes oft nicht als lohnend erachtet wurden. Fabiani resümierte, dass es keine systematische oder selbstverständliche Tätigkeit gewesen sei, Texte auf Basis von Zahlengaben zu strukturieren.

CHRISTOPH MICHELS (Münster) widmete sich in seinem Vortrag dem Umgang mit Zahlen bei attischen Rednern im 4. Jahrhundert v. Chr. Dabei stand im Vordergrund, ob sich bei den attischen Rednern herausbildende Kompetenzlinien im Umgang mit Zahlen finden, verbunden mit der Frage nach der Grundlage politischer Willensbildung der Volksversammlung in Athen im 4. Jahrhundert v. Chr. Dazu untersuchte Michels einerseits die Performanz von Zahlen und Alltagsmathematik auf der politischen Bühne und andererseits die Einbindung von Zahlen in den Argumentationsgang, um so die Interaktion des Redners mit dem Publikum zu untersuchen. Michels zog als Untersuchungsgegenstand zunächst die Erste Philippika des Demosthenes heran, in der dieser die Budgetplanung eines Flotteneinsatzes präsentiert. Demosthenes wirke durch diese Berechnung wie ein Experte für dieses Thema, obwohl die genannten Zahlen aus heutiger wie damaliger Perspektive keine profunden Sachkenntnisse wiedergäben. Aus diesem Grund urteile die Forschung, dass seine Berechnungen die Unfähigkeit seiner Zeit widerspiegelten, die Gesamtkosten einer solchen Operation vorherzusehen. Die daraus resultierende geringe Tragfähigkeit sei Demosthenes und seinem Publikum bewusst gewesen. Michels geht allerdings nicht davon aus, dass der antike Rhetor die formulierte Maßnahme durchsetzen wollte, vielmehr habe er einen Politikwechsel gegenüber dem Makedonenkönig aufzeigen wollen. Seine Zahlenangaben seien deshalb primär als rhetorisches Mittel zu verstehen, aber durch die Offenlegung seiner Berechnungsgrundlage entspreche Thukydides dem genuin demokratischen Anspruchs nach Transparenz und Rechenschaft.

Dass Zahlen im 4. Jahrhundert v. Chr. ein fundamentales Zutrauen als Grundlage der Entscheidungsfindung beigemessen wurde, zeigte Michels anschließend anhand der Rede des Aischines gegen Ktesiphon auf. Aischines wirft Demosthenes vor, durch die Angabe detaillierter Informationen (unter anderem durch die Angabe von Zahlen) zu lügen und schlussfolgert, dass Demosthenes damit das auf die Verlässlichkeit dieser Daten gründende System der Willensbildung untergrabe. Durch die Anmahnung fehlender Zahlen durch einen Versammlungsteilnehmer in der Siziliendebatte bei Thukydides zeigte Michels neben der Relevanz von Zahlen für die politische Willensbildung, dass Zahlen keine exklusive Ressource des Redners waren, um die Massen zu steuern. Michels resümierte, dass die Beispiele die Spielräume und Gefahren der Nutzung von Zahlen in der Rhetorik des 4. Jahrhunderts v. Chr. zeigen. Es habe aber keine separate Klasse von Experten gegeben, die ihr arkanes Wissen vor einem passiven Publikum dargelegt hätten und dadurch ihre Stellung in der politischen Ordnung Athens legitimieren wollte.

Im darauffolgenden Vortrag widmete sich ATHENA KIRK (Cornell) den Zahlen und dem Zählen in der Dichtung. Dabei stand die Frage im Vordergrund, inwiefern die Methode des Zählens und Messens im antiken Griechenland wahrgenommen wurde und wie sich die entwickelnde Beziehung zwischen Zahlenkunde und Macht in der Dichtung widerspiegele. Zur Beantwortung der Fragestellung widmete sich Kirk drei expliziten Beispielen: Der Ilias des Homer, den nephélai des Aristophanes und dem Artemis-Hymnos des Kallimachos.

Anhand der Ilias machte Kirk zunächst deutlich, dass die Fähigkeit, mit Zahlen umzugehen zunächst eine politische, soziale und poetische Autorität signalisieren sollte. Sie verwies dazu auf die komplizierte Darstellung der Zählweise des Agamemnon in der Ilias. Kirk postulierte, dass so Agamemnons Autorität in der Gruppe gefestigt und das Vertrauen in ihn wiederhergestellt werden soll.

Anschließend widmete Kirk sich einem Beispiel aus der klassischen Zeit, der nephélai des Aristophanes. Indem dieser die Figur des Strepsiades, beim Versuch seine Schulden zu zählen scheitern lässt, amüsiere er sich über Sokrates und über die bei Homer so klare Vorstellung des genauen Zählens. Kirk griff an dieser Stelle die Forschungsthese von Geoffrey Lloyd auf, dass das Zählen und Messen in der griechischen Antike in einigen Kontexten als überbewertet wahrgenommen worden sei und dass durchaus Misstrauen gegenüber einer falschen Präzision des Zählens vorgeherrscht habe.3 Auf dieser Grundlage argumentiert Kirk, dass die nephélai des Aristophanes eine komödiantische Kritik an den Athenern waren, die poetisches oder philosophisches Zählen mit praktischer Finanzarithmetik verwechselten.

Zuletzt zeigte Kirk auf, dass der Anspruch, durch Zahlen politische, soziale und poetische Autorität zu zeigen und die Entwicklung des komplexen Zusammenspiels von Poesie und Rechenschaft im Artemis-Hymnos des Kallimachos kulminieren. So wolle Kallimachos Artemis in dem Hymnos wieder positiv darstellen, indem er ihre Stärken, Taten und Ehrungen numerisch darstellt, aber – im Gegensatz zu Homer – keine überdimensionierten Mengen angebe, sondern im kleineren Rahmen mit präzisen Zahlen arbeite. Kirk resümierte, dass sich Kallimachos damit auf eine lange, gelegentlich in Frage gestellte Tradition poetischer Quantifizierung stützt.

Im letzten Vortrag widmete sich KLAUS FREITAG (Aachen) den Zahlen von Flottenkontingenten im Geschichtswerk des Thukydides und hinterfragte deren bisherige Bewertung durch die Forschung. Diese konstatierte bislang, dass die Schiffszahlen im Werk des Thukydides falsch und inkonsistent seien, weshalb Zweifel an dessen sorgfältiger Arbeitsweise und an der Überlieferungssituation bestünden. Im Allgemeinen könne anhand der von antiken Historikern genannten Zahlen die Wirklichkeit nicht rekonstruiert werden, da diese mit geschätzten Rundzahlen und stereotypischen Zahlen ohne realen Hintergrund arbeiten würden. Um diesem Vorwurf nachzugehen untersuchte Freitag, welche Gestaltungsprinzipien Thukydides nutzte, um Schiffszahlen in seinen Text zu integrieren, indem er nach der Herkunft der Informationen und den genutzten Zahlensystemen fragte. Zunächst wandte Freitag sich den Zahlensystemen zu und stimmte mit der bisherigen Forschung überein, dass Thukydides häufig mit runden Zahlen arbeitete. Er verwies aber darauf, dass die Zahlen durchaus in einen realistischen Rahmen passen würden, sofern angenommen werden kann, dass sie einem realen Planungsstand entsprächen. Freitag betonte zudem, dass Thukydides auch mit nicht-runden Zahlen operierte. Zudem merke Thukydides Unsicherheiten bei der Korrektheit von Zahlen an, indem mit Änderungs- und Vergleichswerten gearbeitet würde. Auch die Herkunft der Informationen mache Thukydides deutlich: So verweise er auf Gewährsmänner, Soldaten und Offiziere und gebe an, hohe Geldsummen für die Informationen bezahlt zu haben. Zuletzt wies Freitag darauf hin, dass Thukydides qua Amt bereits mit strategischen Planungen im Seewesen befasst gewesen sei, da er als Stratege 424 v. Chr. in der nördlichen Ägäis aktiv gewesen sei. Freitag korrigierte damit die Sicht der Forschung auf die Zahlenangaben bei Thukydides. Er schlussfolgerte, dass Thukydides versucht, Schiffszahlen präzise zu ermitteln und auch die Unmöglichkeit genauer Zahlenangaben nicht verschweigt.

Die Vorträge der Sektion konnten in Summe verdeutlichen, dass seit dem Beginn der Schriftlichkeit Zahlen und Zählen eine hohe Relevanz in der griechischen Gesellschaft hatten. Der Stellenwert der Generierung von Zahlen, der Zählmethode und ihrer Diskursivierung war dabei jedoch nicht von einer linearen Entwicklung geprägt und schwankte je nach Gattung. Zahlenangaben boten zudem die Möglichkeit, in der öffentlichen Kommunikation Perspektiven aufzuzeigen – zugleich lief der Redner jedoch Gefahr, für seine gewählten Zahlen kritisiert zu werden. Dies zeigt, dass die Funktion von Zählen und Zahlen in der griechischen Gesellschaft immer auch von Fragilität geprägt gewesen ist.

Durch die Betrachtung unterschiedlicher Quellen- und Textgattungen in den einzelnen Vorträgen konnte die Sektion die Komplexität der Thematik auf Basis unterschiedlicher Perspektiven aufzeigen. Es gelang zu verdeutlichen, dass durch diesen Zugriff neue Erkenntnisse zur Kulturgeschiche des antiken Griechenlands gewonnen werden können.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Klaus Freitag (Aachen) / Christoph Michels (Münster)

Robin Osborne (Cambridge): Epigraphic numbers: who counted what and why?

Roberta Fabiani (Rom): Von archivalischen Notizen zu öffentlichen Inschriften. Einige Überlegungen zur strukturierenden Kraft von Zahlen in griechischen Inschriften

Christoph Michels (Münster): Zwischen Expertenhabitus und Transparenz. Zahlen und Zählen bei den attischen Rednern

Athena Kirk (Cornell): Toward a Poetics of Counting in Greek Poetry

Klaus Freitag (Aachen): Die Zahlen von Flottenkontingenten im Geschichtswerk des Thukydides

Anmerkungen:
1 IG I3 259-290
2 IG I3 449
3 Vgl. exemplarisch Geoffrey Lloyd, Methods and Problems in Greek Science. Selected Papers, Cambridge 1991.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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