Die Sektion „Fragiler Rahmen“, die neben vielen weiteren einen ersten Auftakt für den 54. Historikertag in Leipzig darstellte, griff ein in den letzten Jahren gesteigertes Fachinteresse am dem Thema Holocaust in der Sowjetunion auf. CLAUDIA WEBER (Frankfurt/Oder) machte in ihrer Einleitung bereits deutlich, dass immer noch große Forschungslücken in der Ereignisgeschichte selbst und seiner Repräsentation und Aufarbeitung bestehen. Dies hätte nicht zuletzt damit zu tun, lässt sie die Zuhörer wissen, dass wichtige Dokumentationen wie das „Schwarzbuch der sowjetischen Juden“ bereits durch die sowjetischen Behörden verboten wurden. Sie forderte bestimmte Aspekte eingehender zu beleuchten, die Rolle der sowjetischen Justiz und des Rechts, des Gedenkens an die Opfer, der Informationsverbreitung, der Erkenntnis über den Charakter des Verbrechens und welche Rolle sowjetisch-jüdische Akteure bei all dem spielten.
Das Plenum eröffnete JAKOB STÜRMANN (Leipzig), der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon Dubnow Institut in Leipzig angestellt ist, mit einem Vortrag über das Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK). Im Fokus seiner Präsentation sollte die sogenannte Welttournee des JAK im Jahr 1943 stehen und die Frage, ob diese einen einzigartigen Moment der Einigkeit zwischen den verschiedenen jüdischen Diasporagruppen bedeutete. Stürmann beginnt mit dem Höhepunkt der Reise, zu dem es am 8. Juli 1943 im Polo Grounds Stadium in New York kam, bei dem die „jüdischen Emissäre“ der Sowjetunion Solomon Michoels und Itzik Fefer vor einer Zuhörerschaft von 20.000 Menschen auftraten. Anwesend waren außerdem viele weitere amerikanische Intellektuelle, wie der pro-sowjetische Journalist Benzion Goldberg, der Stellvertreter des World Jewish Congress Nahum Goldmann, der liberale Rabbiner Stephen Wise, der Schriftsteller Sholem Ash oder der afroamerikanische Sänger Paul Robeson. Zusätzlich wurden Grußworte von Albert Einstein und Leon Feuchtwanger ausgesprochen. Stürmann greift diesen Moment in seiner Symbolhaftigkeit auf und schlussfolgert, dass durch das gemeinsame Auftreten so verschiedener Persönlichkeiten ein „Zeichen der Einheit“ gesetzt wurde.
Nach dieser Einleitung entfaltete der Referent seine Hauptthese, die darin bestand, dass die Welttournee des JAK im Sommer 1943 einen „frühen Moment der transnationalen innerjüdischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust“ bedeute, darin liegt der Mehrwert seines Themas. Die Zuhörer lernen, dass sich die Sowjetunion vor dem Krieg in einer außenpolitischen Isolation befand, aus der, der berüchtigte Hitler-Stalin Pakt vom August 1939 gewissermaßen ein Resultat war. Mit dem Angriff Nazideutschlands entstand nun eine neue antifaschistische Allianz mit den USA und Großbritannien gegen die Achsenmächte. Für das Jahr 1943 wird die Bedeutung des sowjetischen Siegs in Stalingrad und die Rückeroberung sowjetischen Gebiets betont und die Kooperation mit den USA wie auf der Konferenz von Teheran. Aus ihrer vorausgegangenen Notlage gebar die Sowjetunion neue Kampagnen, die auf eine jüdische Öffentlichkeit in den USA zielte, damit hang die Gründung des JAK zusammen, dass einem dezidiert außenpolitischen Interesse untergeordnet wurde und der Referent als „neuen Ausdruck einer transnationalen Zugehörigkeit“ wertet. Die Aufgabe des JAK bestand dabei darin Informationen über die verzweifelte Lage des osteuropäischen Judentums im In- und Ausland zu verbreiten, was unter anderem durch die jiddische Zeitung „Eynikayt“ bewerkstelligt wurde. In jener Zeit kam es weitgehend zu einer Interessensidentität zwischen den jüdischen Gemeinschaften und dem Sowjetstaat, da beide von der Kampfeskraft der Roten Armee abhingen. Nach diesem allgemeineren Teil kam der Vortrag auf die Welttournee im Mai 1943 als solches zu sprechen, ihre Route über Afrika, Nordamerika, dem Treffen mit Einstein in Princeton, den Besuchen in Mexiko, Großbritannien und der Rückkehr im September nach Moskau. Zum Schluss wurde der zentrale Begriff der Einigkeit aufgegriffen, der hier als Vereinigung zum einen aller jüdischen Sowjetbürger und zum anderen aller transnationalen Diasporagemeinschaften zwischen Ost und West gelesen wird. Das Judentum in seinem Überlebenskampf sollte auch nicht durch politische Orientierungen gespalten werden, was sich daran zeigte, dass selbst amerikanische Zionisten wie Rabbi Wise die Sowjetunion unterstützten. Folgerichtig schlägt Stürman den Bogen in die Situation des Kalten Kriegs, als genau diese Verbindung der sowjetischen Judenheit zum Verhängnis wurde. Ihre Einigkeit der Zweiten Weltkriegszeit wurde nun von den stalinistischen Behörden als „Nationalismus“ und „Kosmopolitismus“ verfolgt, was die Exekution der führenden Mitglieder des JAK im August 1952 zur Folge hatte.
An den ersten Vortrag schloss sich dann die Präsentation von ELISABETH GALLAS (Leipzig) an, die als stellvertretende Direktorin des Dubnow Instituts fungiert und dem dort ansässigen Forschungsressort „Recht“ zugehörig ist. Die Referentin kündigte an, ein Schlaglicht auf die Geschichte des weitgehend vergessenen amerikanischen „Black Book: The Nazi Crimes against the Jewish People“ zu werfen, dass sie in seinem Doppelcharakter als Dokumentation und Anklageschrift nachvollzieht. Dabei war das Black Book eines von mehreren Schwarzbüchern, die aus der internationalen Kooperation von dem sowjetischen JAK, dem palästinensischen Vaad Leumi und dem American Jewish Comittee for Writers, Scientists and Artists hervorgingen. Die beiden Schwarzbücher, das sowjetische und das amerikanische, waren ein Ergebnis der „ersten dauerhaften Brücke über die Kluft“, die für 20 Jahre das sowjetische Judentum von den anderen Gemeinschaften getrennt hatte, der Vergleich zwischen ihrer Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte war für den weiteren Vortrag instruktiv. Während aus den Akten, die den Geheimprozess gegen das JAK nach seiner Verhaftung 1948 belegen, die Minimierung und Relativierung der Holocausterfahrung gegen das sowjetische Schwarzbuch gewendet wird, stand das Black Book unter anderen Vorzeichen. Letzteres ging ebenso, wie die Welttournee, aus der „Zweckgemeinschaft der Alliierten“ hervor, es sollte zur Anklage bei den Nürnberger Prozessen nach Kriegsende zum Einsatz kommen, indem es eine Repräsentation jüdischer Stimmen vereinte. Hingegen sollte das russischsprachige Schwarzbuch, das von den Intellektuellen Ilja Ehrenburg und Vasilij Grossman herausgegeben wurde, nur für den sowjetischen Markt bestimmt sein. Dennoch warnte Gallas vor einer Dichotomie von Ost und West, beide Bücher durchbrachen offensichtlich das angestammte Denkschema. Dies zeigte die Referentin anhand der Themen internationale Gerechtigkeit, der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, dem Diskurs über Menschenrechte, zu deren Protagonisten sie die Rechtsgelehrten Raphael Lemkin und Jacob Robinson zählte. Dankenswerterweise wurde in diesem Atemzug auch auf den sowjetisch-jüdischen Juristen Aron Trainin verwiesen und den vergessenen sowjetischen Beitrag zum Völkerrecht. Beiden Schwarzbüchern war eine in der heutigen Forschung unbeachtete rechtliche Dimension zu eigen, sie sollten eine Anklage unterstützen, Entschädigungsforderungen und Sicherheitsgarantien einleiten, archivieren und gedenken. Ein Anliegen der Redaktion war zu dem auch mit dem Vorurteil der Passivität der europäischen Juden aufzuräumen und ihren Widerstand gegen die Vernichtung für eine weitere Leserschaft nachvollziehbar zu machen. Einen bedeutenden Teil der Dokumente des Black Books wurden der Redaktion im November 1944 über die sowjetische Botschaft zugänglich gemacht, doch es dauerte noch bis zum März 1946 als es zum Book Launch im Madison Square Garden in New York kommen konnte. Das Schwarzbuch und das Black Book sollten bei den internationalen Prozessen in Nürnberg als Beweismittel dienen, dies auch um die fehlende jüdische Repräsentation im Gerichtssaal zu kompensieren. Der Impuls den herausragendsten jüdischen Zeugen in den Saal zu rufen, den Partisanen und jiddischen Schriftsteller Abraham Sutzkever, ging auf die sowjetische Anklage zurück. Der Vortrag endet an den Vorredner anschließend, mit einer analogen Schlussfolgerung, dass auch hier das spätere Verbot des russischen Schwarzbuch in der Sowjetunion als ein „Zerschneiden des Bandes“ zwischen einer neuentstandenen transnationalen jüdischen Diaspora gesehen wird.
Die dritte Präsentation von WOLFGANG SCHNEIDER (Heidelberg) vertieft die bereits aufgeworfenen Aspekte von Rechtsgeschichte und juristischer Aufarbeitung des Holocaust in der Sowjetunion am Beispiel von Prozessen gegen tatsächliche oder vermeintliche jüdische Kollaborateure. Anhand der Akten und Vernehmungsprotokolle rekonstruierte der Referent die Prozesse gegen ehemalige Judenräte und Hilfspolizisten, die während der deutschen oder rumänischen Besatzung in den Ghettos Transnistriens aktiv waren. Zuallererst wurde hierbei auf die Ereignisgeschichte eingegangen, die Eigenheiten des Holocaust in Transnistrien und der Bukovina, der Erschießungen durch die SS-Einsatzgruppen und der rumänischen Besatzung. 1944 zeitnah nach der Befreiung begann der sowjetische Geheimdienst (NKVD) mit der Strafverfolgung ehemaliger Ghettofunktionäre, diese Prozesse dauerten bis 1949 an. Die Urteilsfindung, wie aus den Akten ersichtlich wurde, basierte hauptsächlich auf den Zeugenaussagen von Überlebenden, die zumeist männlichen Geschlechts waren. Anhang der Archivdokumente konnte die Argumentation der Geständnisse nachvollzogen, eine weitgehende Abwesenheit von Folter in der Haft festgestellt und die Einstellung von 25 Prozent der Fälle bewiesen werden. In der Regel wurden die Juden stärker bestraft, die bereits schon vor 1941 sowjetische Staatsbürger waren als ihre rumänischen Kameraden. Nach diesem abstrakten Überblick kam Schneider auf zwei Fallbeispiele zu sprechen, die sein Projekt greifbarer machten. Zum einen wird der Prozess gegen drei Ghettopolizisten aus Braclav beleuchtet, die sich in der Primo Levi‘ischen „Grauzone“ aus Hilfe und Mittäterschaft bewegten, was auch von den sowjetischen Behörden so erkannt wurde. Zum anderen zeigte Schneider an dem Fall gegen den Judenrat aus Odessa, wie der NKVD Zeugen und Angeklagte zum Zweck der Spionage und „Zersetzung“ der jüdischen Gemeinde instrumentalisierte. Dennoch schlussfolgerte der Vortrag, dass die Prozesse ein wichtiger „kommunikativer Raum“ waren, in dem das Thema des Holocaust verhandelt wurde und die Überlebenden erstmals ihre Stimme erhoben.
In der anschließenden Diskussion wurden dann Fragen nach der Auswahl der Dokumente für das Schwarzbuch und nach der Auswahl der Reisenden für die Welttournee formuliert. In einem Kommentar wurde dann auf die lange Geschichte des Sammelns und Dokumentierens verwiesen und auf ähnliche Projekte des jüdischen Zeugnisablegens wie auf das Ringelblum Archiv „Oneg Shabbat“.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Elisabeth Gallas (Leipzig) / Jakob Stürmann (Leipzig)
Claudia Weber (Frankfurt an der Oder): Thematische Einführung und Moderation
Jakob Stürmann (Leipzig): Ein Moment jüdischer Einigkeit? Die Welttournee des Jüdischen Antifaschistischen Komitees 1943
Elisabeth Gallas (Leipzig): Dokumentation und Anklageschrift – Das transnationale Black Book: The Nazi Crime against the Jewish People 1946
Wolfgang Schneider (Heidelberg): Zwischen Anerkennung und Instrumentalisierung – Sowjetische Kollaborationsprozesse gegen jüdische Ghettofunktionäre 1944–1949