Einleitend skizziert PETRA SCHULTE (Trier) zentrale Stationen aus dem Leben des Nikolaus von Kues und hebt die Notwendigkeit hervor, ihn als Kaufmannssohn, Juristen, päpstlichen Legaten, Bischof und Landesfürsten, Kardinal und Gelehrten in seiner Zeit zu sehen. Zugleich bettet sie die Sektion zum 15. Jahrhundert in den Kontext der Fragestellung des Historikertags ein, betont die Bedeutung sowohl des interdisziplinären als auch des transepochalen Dialogs und reflektiert die anachronistische Verwendung der erst ab dem 18./19. Jahrhundert nachzuweisenden Begriffe des Faktums/Fakts und der Faktizität als „Tatsächlichkeit von etwas in seinem (nicht-notwendigen) bloßen Gegebensein“ (Hist. Wb. Philos. 2, 886) in der Sektion. In dieser werde gezeigt, wie Wirklichkeitsbeschreibungen, Wahrheitsansprüche und Authentisierungsstragien abhängig von der historischen Situation divergieren konnten, wie um sie gerungen wurde und welche strategischen und/oder pragmatischen Entscheidungen im Einzelnen getroffen wurden. Der Widerstreit von Meinungen sei immer auch ein Austarieren von sozialem Status bzw. des Grads von Über- und Unterordnung innerhalb jeweils zu bestimmender Öffentlichkeiten und ein Ringen um Deutungshoheit gewesen. Mit Nikolaus von Kues wende sich die Sektion einem Akteur zu, der bestrebt war, die Welt in ihrer Faktizität zu erfassen, um die göttliche Ordnung in ihrer Wahrhaftigkeit zu verstehen und die irdische zu reformieren. Seine theologisch-philosophischen Schriften waren, so Petra Schulte, von mathematischen Grundüberlegungen durchzogen, seine Karriere und seine Reformbemühungen prägten sorgfältig gewonnene und ausgewertete Informationen über vergangene und gegenwärtige Zustände. In seinem Beharren auf der Faktizität und dem Verweis auf sie habe Cusanus kompromisslos sein können. Und doch habe er im Alltag auch die Notwendigkeit erlebt, Faktizität und Pragmatik gegeneinander abzuwägen, Unwissen vorzutäuschen, sowie sich der kaum zu bewältigenden Fülle an Gerüchten und falschen Aussagen zu stellen.
Mit zwei Fallbeispielen aus der Wunderverehrung konkretisiert MARCO BRÖSCH (Trier) die konfliktreichen Umstände, unter denen der Kirchenpolitiker Cusanus manövrieren musste. Er berührt dabei zentrale Aspekte von (1) Erfahrungen der Empirie versus Glaubensüberzeugungen, (2) politischer Opportunität versus Beurteilung der Faktenlage und (3) der Bedeutung einer konsistenten Informationspolitik gegenüber dem Volk und den Untergebenen.
Um die drei Bluthostien im Wallfahrtsort Wilsnack in der Mark Brandenburg entbrannte zwischen 1443 und 1453 ein heftiger Streit, ausgelöst vom Magdeburger Domherren und Reformtheologen Heinrich Tocke (1390–1454). Theologisch bestanden Zweifel an der ordnungsgemäßen Konsekration der Hostien, neben dem parallelen, grundsätzlichen Streit zwischen Dominikanern und Franziskanern um den physischen Verbleib von Christus‘ Blut auf Erden. Politisch war dem Havelberger Bischof Konrad von Lintorff und dem Landesherrn Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg sehr an den erheblichen Einnahmen aus dem florierenden Wallfahrtsort gelegen. Der Landesherr war der erste deutsche Kurfürst, der bereit war, sich im Streit zwischen Basler Konzil und Papsttum der päpstlichen Seite anzuschließen. Er erlangte 1447 von den Päpsten Eugen IV. und Nikolaus V. legitimierende Urkunden, zwar mit der Auflage, den Bluthostien immer eine frisch konsekrierte Hostie beizulegen.
Während der Provinzialsynode in Magdeburg vom 18. bis 28. Juni 1451 erließ Cusanus das Dekret „Hoc maxime“. Es enthält Kritik an der Wallfahrt zu den Bluthostien, verbietet das Zurschaustellen von Wunderhostien und den Verkauf von bleiernen Pilgerabzeichen unter der Androhung von Interdikt und Exkommunikation. In der Folge exkommunizierten sich die Bischöfe von Magdeburg und Havelberg 1452 gegenseitig. Erst als der Papst 1453 das Dekret des Cusanus aufhob und Wilsnack als Wallfahrtsort unabhängig von der Faktizität der Wunderhostien bestätigte, endeten die Unruhen.
Im bayerischen Andechs wurden seit 1420 drei Bluthostien verehrt, die auf Gregor den Großen und Papst Leo IX. zurückgeführt wurden. Ein zur Unterstützung der Wallfahrt gegründetes Kollegialstift verwendete seine Einnahmen zur Umwandlung in ein benediktinisches Reformkloster. Bei einem Aufenthalt in München vom 18. bis 23. März 1451 stellte Cusanus auf Bitten Herzog Albrechts III. einen Ablass für Andechs aus. Nach der Veröffentlichung des Dekrets „Hoc maxime“ keine drei Monate später war die Verehrung von Bluthostien nun verboten. Cusanus nahm die Andechser Bluthostien zur Begutachtung mit nach Rom und ließ sie von Papst Nikolaus V. – ohne Erwähnung des Blutwunders – als Wunderhostien bestätigen. Lediglich die ordentliche Konsekration bestätigte Cusanus selbst in einem Brief.
Marco Brösch betont, wie sehr Cusanus, trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Wallfahrt zu mittelalterlichen Bluthostien, ein Überwiegen von kirchenpolitischen bzw. wirtschaftlichen Gründen anerkennen musste. Unterschiedliche Reformkonzepte seien in die Beurteilung der Faktizität der Heiligtümer eingeflossen. In Wilsnack behandle Cusanus die Wallfahrt als Teil des Problems für eine angestrebte Reform von Pastoral und Volksfrömmigkeit. In Andechs hingegen akzeptiere er die Wallfahrt als notwendiges Übel für die Klosterreform und die Förderung der Reformbewegung. Cusanus verlagere die Frage nach der Faktizität bzw. Echtheit der Wunderhostien auf eine andere Ebene.
THOMAS WOELKI (Berlin) beschäftigt sich mit (angeblichem) Nichtwissen als Einstieg zum Nichthandeln und zur Vergrößerung von Handlungsspielräumen. In den modernen Politikwissenschaften als „plausible deniability“ diskutiert, sei das Phänomen im Mittelalter auffällig häufig zu finden, insbesondere als bewusst intendiertes eigenes Nichtwissen. In Anlehnung an den Soziologen Peter Wehling schlägt er vier Analysekriterien vor: (1) Bewusstsein des Nichtwissens, (2) Intentionalität, (3) zeitliche Stabilität und (4) Funktionalität. Fallbeispiele zeigen auf, wie Nichtwissen politische, juristische und soteriologische Vorteile verschaffe.
Im Kloster wehrte sich Äbtissin Verena von Stuben gegen Reformversuche ihres Bischofs Nikolaus von Kues und eine 1455 verabschiedete Reformcharta, indem sie Unwissenheit inszenierte und Übersetzungen und Erklärungen durch bereits abgereiste Visitatoren verlangte. Allerdings beharrte Cusanus in diesem Fall in einer Entkopplung von Wissen und Heil auf Gehorsam, den er über die Einsicht gestellt habe.
Kurz vor Ausbruch der Kampfhandlungen in der Gradner-Fehde erhielt Cusanus 1456 einen Brief von Gradner. Um nicht Partei ergreifen zu müssen und für Blutvergießen verantwortlich zu sein, schickte Cusanus den Brief ungeöffnet an die Räte Herzog Sigismunds, dem er zu Beistand verpflichtet war, nach Innsbruck weiter. Die Verantwortung für die Truppenführung legte er in die Hände des Trienters. Nichtwissen wirke hier für Cusanus heilssichernd, führt Thomas Woelki aus.
Im Fall von Kirchenstrafen werde Nichtwissen als zutiefst heilsgefährdend angesehen. Gleichzeitig böten sehr formale Verkündigungsregeln Auswege an, die vielerorts genutzt wurden. Das seit August 1460 unter dem Interdikt stehende Tirol habe sich vor dessen Umsetzung durch gemeinschaftlich verabredetes Nichtwissen geschützt. Die Stadt Nürnberg behauptete Überforderung bei der Prüfung des gebannten Gregor Heimburg auf dem Kurfürstentag. Das Brixner Domkapitel verwendete in seiner Appellation wörtlich Auszüge aus der Interdiktsbulle, deren Existenz man offiziell anzweifelte.
Nichtwissen leiste einen wichtigen Beitrag zur sozialen Ordnung, arbeitet Thomas Woelki heraus, indem es nicht nur politische Loyalitäten und prozesstaktische Positionen sicherte, sondern auch Grundlage für eine kontinuierliche Frömmigkeit gewesen sei.
Mit dem gegenteiligen Problem – der Sicherung und Herstellung von Faktizität – beschäftigt sich JOHANNES HELMRATH (Berlin).
1457 eskalierte der Konflikt zwischen Nikolaus von Kues und dem Tiroler Herzog Sigismund von Österreich. Auf der Reise zum Kloster Wilten erreichten Cusanus schwer überprüfbare Warnungen und Gerüchte über bevorstehende Übergriffe auf seine Person. Obwohl er die Reise unbeschadet überstand, versuchte Cusanus diese Gerüchte zu verifizieren, um sie als Fakten in den Kurienprozess gegen den Tiroler Herzog einzubringen. Er bediente sich dabei (1) einer zeitnahen und schriftlichen Dokumentation, (2) des Ausfindigmachens von Zeugen und (3) einer teilöffentlichen Beichte, bei der dem Bekennenden vor der Absolution aufgetragen wurde, öffentlich und vor einem Notar seine Mitwirkung an den Wiltener Machenschaften zu bekennen. So entstand eine Namensliste von 50 Verschwörern, die nun zur Verstärkung der übrigen Dokumentation der Kurie vorgelegt wurde, um deren Bild einer notorischen, offenkundigen und kirchenrechtlich einschlägigen Wahrheit zum Vorteil von Cusanus zu festigen. Johannes Helmrath schließt damit, dass diese Erfahrungen im Weiteren in die Bulle „Gregis dominici“ von Papst Calixt III. eingeflossen seien. Die Spuren der Wiltener Provinzposse fänden in der von den Päpsten als gefährlich empfundenen, systemfundamentalen Bedrohung der kirchlichen Temporalienherrschaft ihren Widerhall.
PAULA PICO ESTRADA (Buenos Aires) untersucht die Schrift „De Beryllo“, die Cusanus 1458 während des bewaffneten Konflikts mit Herzog Sigismund verfasste, im Hinblick auf die Entwicklung, die Cusanus in seinem Denken über die Idee der Koinzidenz der Gegensätze nimmt.
Cusanus bietet dem Leser eine titelgebende „Brille“ an, mit der sich der finite menschliche Verstand der infiniten Wahrheit annähern könne. Durch mathematische Rätsel- und Symboldarstellungen könne der menschliche Intellekt das Denken in Gegensätzen überwinden, das jeder philosophisch-theologischen Erkenntnis im Wege stehe. Cusanus liege an der dreifaltigen Einheit in der Vielfalt und der Erkenntnis des einen Ursprungs hinter der Vielfalt der Erscheinungen und der Erkenntnis, betont Paula Pico Estrada. Das angeborene menschliche Streben nach Wahrheit treibe Individuen an, ihr eigenes menschliches Universum in Übereinstimmung mit der ontologischen Einheit zu formen. Dem folgend setze Cusanus den Intellekt im sozialen Körper der Gesellschaft mit der Person des Königs gleich. Dabei koexistiere eine aufsteigende, konsensuale Theorie des politischen Denkens mit einer absteigenden, monarchischen. Dies setzt Paula Pico Estrada in Verbindung mit den Lebenserfahrungen des Cusanus, die den einstigen Befürworter eines begrenzten Vorrangs des Baseler Konzils vor dem Papst zu einem Unterstützer der päpstlichen Hierarchie werden ließen. Sie entdeckt eine Spannung zwischen der trinitarischen Metaphysik und dem Nachdruck, der auf die Macht eines Einzelherrschers gelegt wird, und stellt die Frage, inwieweit die harte Lebenswirklichkeit des Cusanus seit 1453 seine argumentative Kraft in „De Beryllo“ abgeschwächt haben könnte.
GEORG STRACK (Marburg) fasst die wichtige Rolle der „Faktizität“ für die Schriften und das politische Handeln des hier vorgestellten späten Cusanus zusammen. „Faktizität“ sei im Sinne von „akzeptierten Fakten“ oder „Wahrheiten“ zu verstehen. Gleichzeitig sei die doppelte Wahrheit des Mittelalters zu bedenken, die sich auf Empirie ebenso beziehen könne wie auf die Transzendenz. Ihre Formulierung sei abhängig von den sozialen und institutionellen Kontexten, in denen sie eine Rolle spielt.
Cusanus habe großen Wert auf die Stärke des Faktischen gelegt, wenn es darum ging, Angriffe auf seine Person zu dokumentieren (Helmrath). Er habe geschickt agiert, indem er „Nichtwissen“ strategisch einsetzte (Woelki) oder gewisse Streitfragen nicht thematisierte, etwa bei den Bluthostien (Brösch). Das problematische Zusammentreffen von Erkenntnis, Faktizität und Kontexten zeige sich in seiner philosophisch-theologischen Erkenntnistheorie (Pico Estrada). Insgesamt scheine die Suche nach der Wahrheit für Cusanus stärker leitend gewesen zu sein als das Streben nach widerspruchsfreiem Verhalten.
Ich schließe mit Verweis auf die Aktualität der Ergebnisse. Der Kontrast zwischen den absoluten Glaubenswahrheiten, die der Kirchenmann Nikolaus von Kues nicht anzweifeln konnte und wollte, und den relativen Wahrheiten hinter der ihn umgebenden, wahrnehmbaren Welt ist auffällig. Um Fakten zu erzeugen, musste er beobachten, sortieren, bewerten, dokumentieren und seine Ergebnisse mitteilen. Diese Fakten waren fragil, bedurften einer sorgsamen Pflege und einer vorsichtigen Verwendung.
Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Petra Schulte (Trier)
Petra Schulte (Trier): Einführung
Marco Brösch (Trier): Von teuflischen Gnadenbildern, betrügerischen Bluthostien und anerkannten Reliquien. Nikolaus von Kues und die Faktizität von Heiligtümern
Thomas Woelki (Berlin): De beata ignorantia. Juristische, publizistische und soteriologische Funktionen (angeblichen) Nichtwissens bei Nikolaus von Kues und seinen Gegnern
Johannes Helmrath (Berlin): Die Wahrheit hinter den Büschen. Nikolaus von Kues in Brixen und Rom (1457-1464)
Paula Pico Estrada (Buenos Aires): De Beryllo. Nicolas of Cusa on contradiction and its relation to his theological idea of truth
Georg Strack (Marburg): Resümee