Vertreibung und Erinnerung. Forschungsstand und Geschichtspolitik im östlichen Europa

Vertreibung und Erinnerung. Forschungsstand und Geschichtspolitik im östlichen Europa

Organisatoren
Katrin Boeckh, Forschungsstelle Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung)
Ausrichter
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung
PLZ
93047
Ort
Regensburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.10.2023 - 07.10.2023
Von
Maximilian Sommer, Forschungsstelle Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

Die 2022 von der bayerischen Landesregierung ins Leben gerufene Forschungsstelle „Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern“ hat eine internationale Konferenz zum Thema „Vertreibung und Erinnerung. Forschungsstand und Geschichtspolitik im östlichen Europa“ organisiert, zu der viele Vortragende, vor allem aus dem östlichen Europa nach Regensburg kamen. Die Tagung hatte zum Ziel, die historische Forschung über dieses Thema in der Öffentlichkeit präsent zu machen und wissenschaftliches Arbeiten durch Vernetzung und Austausch zu fördern. Im Vordergrund stand der Forschungsstand in den jeweiligen Ländern. Hierbei war vor allem durch den internationalen und interdisziplinären Vergleich ein Mehrwert zu erwarten, bei dem nicht nur die materiellen Güter, welche die Vertriebenen mitgebracht haben, im Fokus stehen sollten, sondern auch kulturelle Errungenschaften, welche bis heute unser Leben prägen, berücksichtigt werden. Dafür wurden auch Perspektiven aus Museen, Archiven und Ausstellungen einbezogen. Aufgeteilt in Panels mit zwei bis drei Vortragenden wurden thematische Schwerpunkte gelegt.

MATHIAS BEER (Tübingen) dekonstruierte in seinem Vortrag die Chiffre „Flucht und Vertreibung“, machte auf die Dimensionen dieses Themas aufmerksam und offenbarte sein tiefgreifendes Wissen. Dadurch schaffte Beer das Fundament für die Tagung.

Folgend auf einen Input zu den unterschiedlichen Wegen zwischen DDR und dem Bundesrepublikanischen Deutschland durch MATTHIAS STICKLER (Würzburg) zum Umgang mit Heimatvertriebenen entfaltete sich eine sehr interessante Diskussion mit dem Publikum über die Möglichkeiten aber auch Schwierigkeiten von Integration in eine zerrüttete Gesellschaft. Weiter inwiefern überhaupt von „Integration“ in einer deutschen Nachkriegsgesellschaft die Rede sein könne, da die schiere Anzahl an Flüchtlingen sehr groß, die Gesellschaft nach Krieg und nationalsozialistischer Herrschaft nachhaltig geschädigt und das Land wirtschaftlich und mental verwüstet war, sowohl in der BRD als auch im sozialistischen Nachbarland.

PETR KOURA (Aussig), der die Dauerausstellung „Unsere Deutschen“ in Aussig vorstellte, schilderte, wie die Geschichte der Deutschen als Teil der eigenen Geschichte Tschechiens wahrgenommen werde, und führte die Anwesenden virtuell durch die Ausstellung. Die Deutschen treten in der Ausstellung nicht als fremde in der tschechischen Nation auf, sondern ihre Leistung und Anteilhabe an der Landesgeschichte wird erinnert. Hierbei wird ein möglichst objektiver Blick gewahrt, weder wird verschwiegen, was die Deutschen durchgemacht haben, noch wird aber auch beschönigt was die Deutschen während des Krieges getan haben. Kurz und knapp also, die Deutschen treten nicht als Minderheit der tschechischen Geschichte auf, sondern als Akteure der Böhmischen Kultur und Politik. Auch verwies Koura auf die Kontroversen und Diskussionen um die Ausstellung und ermöglichte dadurch einen multiperspektivischen Blick.

Während die Ausstellung in Aussig eine tschechische Perspektive einnimmt, wie im Namen „unsere Deutschen“ erkennbar, kann das auch erst seit 2020 eröffnete Sudetendeutsche Museum in München als dessen deutsches Äquivalent gelten. Dieses wurde durch RAIMNUD PALECZEK (München) im Rahmen des Runden Tisches vorgestellt. Er verwies auf die Möglichkeit durch Ausstellungen auch ein jüngeres Publikum zu erreichen, besonders erfolgreich war dies mit der Ausstellung zu Ottfried Preußler. Hierbei bedankte sich Paleczek für die gute Zusammenarbeit mit Mitreferentin Ingrid Sauer als Vertreterin des Sudetendeutschen Archivs im Bayerischen Hauptstaatsarchiv.

THERESA STANGL (Regensburg) zeigte die Möglichkeiten und Chancen der interdisziplinären Zusammenarbeit durch eine sprachwissenschaftliche Herangehensweise auf. In ihrer Dissertation möchte Sie anhand von Sprachinterviews erforschen, wie sich im Zuge der Vertreibung aus dem Gebiet der heutigen Slowakei die individuelle Mehrsprachigkeit und das Verhältnis von Sprache und Identität entwickelt hat.

Die verheerende Rolle der Deutschen während des Krieges in Jugoslawien wurde durch ALEKSANDAR JAKIR (Split) sehr differenziert thematisiert. Er erörterte die Schwierigkeiten in der Erinnerungspolitik, woraufhin er in einem Exkurs auf die Probleme bei der Erinnerung in Bezug auf den einerseits als heroisch wahrgenommenen Antifaschisten und andererseits autoritär regierenden Staatspräsidenten Tito einging und die Schwierigkeit von einseitiger Geschichtserzählung und Erinnerung verdeutlichte.

Das Abschlusspanel gestalteten KATRIN BOEKH (Regensburg) und DANIELA NERI-ULTSCH (Regensburg) als Vertreterinnen der Forschungsstelle Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern. Ihre Themen behandelten eine bayerische Perspektive mit außenpolitischen Bezügen. Neri-Ultsch blickte in die jüngste Vergangenheit und betrachtete die Versöhnungspolitik Bayerns nach 1989 am Beispiel der Eichendorff-Begegnungs- und Gedenkstätte in Lubowitz. Zum Abschluss erfrischte dieser Blick auf Versöhnung und Verständigung und lockerte die Stimmung nach knapp zwei Tagen der Diskussion über Vertreibung und Konflikt. Boeckh griff in ihrer Forschung auf die neu geöffneten Archivalien des Vatikans zum Pontifikat von Pius XII, der als päpstlicher Nuntius für einige Jahre in München lebte und so eine besondere Bindung zu Deutschland und vor allem Bayern hatte, zurück. Das Besondere der Quellen, so Boeckh, sei die Mischung aus Briefen von Priestern und Gläubigen an den Heiligen Stuhl über die verschiedensten Themen welche Menschen aller sozialen Klassen beschäftigten. Dies erlaubt einen differenzierten Blick auf die Vertreibung der Deutschen, auf die Haltung von Pius XII. und eine emotionsgeschichtliche Betrachtungsweise.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die internationale Repräsentanz der Konferenz ein bereicherndes Umfeld förderte, das konstruktive kulturübergreifende Dialoge ermöglichte. Es ist jedoch zwingend erforderlich, die Unterrepräsentation von Frauen in der Gruppe der Vortragenden festzuhalten, was die Notwendigkeit einer größeren Vielfalt bei zukünftigen wissenschaftlichen Zusammenkünften unterstreicht, um die Forschung diverser gestalten zu können. Jedoch war bereits jetzt eine außerordentlich hohe Multiperspektivität gegeben, was dieses Forschungsfeld interessant und bereit für kommende Aufgaben macht. Eine dieser kommenden Aufgaben sollte, so Carl Bethke , der stärkere Einbezug des Rückkehrwunsches der Heimatvertriebenen nach 1945 sein.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Eröffnung: Ulf Brunnbauer (Regensburg) / Sylvia Stierstorfer (München) / Gertrud Maltz-Schwarzfischer (Regensburg) / Katrin Boeckh (Regensburg/München)

Panel 1: „Aufarbeitung und Vertreibung in Deutschland:

Moderation: Katrin Boeckh (Regensburg/München)

Mathias Beer (Tübingen): Flucht und Vertreibung der Deutschen. Geschichte und Erinnerung

Matthias Stickler (Würzburg): Eingliederung, Repression, Assimilation – Unterschiedliche Wege der Integration der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und in Österreich nach 1945

Panel 2: Aufarbeitung der Vertreibung in Tschechien

Moderation: Matthias Stickler (Würzburg)

Miroslav Kunštát (Prag): Zur tschechischen Historiographie der Vertreibung und der Zeit danach. Konjunkturen und Zäsuren

Petr Koura (Aussig): Die Dauerausstellung „Unsere Deutschen“ in Aussig: Das Ringen um das Erinnern

Panel 3: Aufarbeitung der Vertreibung in der Slowakei

Moderation 1: Carl Bethke (Leipzig)

Ondrej Pöss (Bratislava): Die Karpatendeutschen in der Slowakei. Historiographie, Forschungsstand und Erinnerungskultur

Theresa Stangl (Regensburg): Sprache, Kultur, Erinnerung. Individuelle Mehrsprachigkeit als Identitätsstifter der deutschen Minderheit aus der Slowakei: Fokus Bayern.

Panel 4:Aufarbeitung der Vertreibung in Ungarn

Agnés Tóth (Budapest): Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen in der ungarischen Geschichtsschreibung

Panel 5: Aufarbeitung der Vertreibung in Polen

Moderation: Thomas Wünsch

Ryszard Kaczamarek (Kattowice): Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen in den Jahren 1945-1989. Ein Überblick über die polnische Geschichtsschreibung

Roman Smorlorz: Die synchrone Erforschung der Aussiedlung in wissenschaftlichen Institutionen in Polen und Deutschland.

Abendveranstaltung: Runder Tisch

Vertreibungen: Erinnerungspolitik, Wissenschaftliche Aufarbeitung und Vermittlung. Vom zweiten Weltkrieg bis heute

Moderation: Katrin Boeckh (Regensburg)

Peter Becher (Regensburg)

Raimund Paleczek (Regensburg)

Ingrid Sauer (München)

Martin Zückert (München)

Panel 6: Aufarbeitung und Vertreibung in Rumänien

Moderation: Matthias Beer (Tübingen)

Corneliu Pintilescu (Sibiu): Narratives of Victimhood: Memory and Historiography on Romanian Germans from Deportation to the Soviet Union to Mass Migration (1945–1989), via Zoom

Aleksandar Jakir (Split): Die Donauschwaben in Historiographie und Erinnerungspolitik in Kroatien und Serbien

Panel 7: Deportation und Auswanderung: Russland

Alfred Eisfeld (Göttingen): Deportationen der deutschen Bevölkerung nach Sibirien und Kasachstan: Gründe, Verlauf, Ergebnisse und Forschungsstand

Viktor Krieger (Nürnberg): Die Ausreisebewegung nach Deutschland im Spiegel der sowjetischen und postsowjetischen Historiographie

Olev Liivik (Tallinn): The forced migrations of the Baltic Germans. Estonia as a case study

Panel 8: Trans Bavariam

Moderation: Ulf Brunnbauer (Regensburg)

Daniela Neri-Ultsch (Regensburg): Bayerische Versöhnungspolitik nach 1989 am Beispiel der Eichendorff-Begegnungs- und Gedenkstätte in Lubowitz

Katrin Boeckh (Regensburg/München): Der Heilige Stuhl und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Bayern im Blick

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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts