Die 37. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK) bildete wieder ein offenes Forum für Forscher:innen verschiedener Disziplinen in kollegialer Atmosphäre. Mehr als 30 Wissenschaftler:innen aus Kirchengeschichte und Geschichtswissenschaft trafen sich zur Jahrestagung, die wie gewohnt in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn stattfand. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung vom 19. bis ins 21. Jahrhundert.
Eröffnet wurde die Tagung am Freitagabend mit einem Vortrag von BERNHARD SCHNEIDER (Trier) und JENS FACHBACH (Trier) zu den Barmherzigen Brüdern von Maria Hilf (Trier). Die Referenten stellten zunächst ihr Projekt zur dynamischen Entwicklung einer schwerpunktmäßig in der Krankenpflege tätigen Kongregation als Teil des sozial-karitativen Katholizismus vor. Exemplarisch legten sie ihre Ergebnisse zur massiven Krise des Ordens in der Zeit des Nationalsozialismus dar, die einerseits mit einer Überschuldung zusammenhing, andererseits mit der Verstrickung in die sogenannten Devisen- und Sittlichkeitsprozesse, die ein größeres Ausmaß hatten, als bisher in der Forschung angenommen. Zugleich zeigte der Vortrag am Beispiel des größten Krankenhauses der Brüder auf, welche massiven Folgen die NS-Repressionen haben konnten (Verlust des Krankenhauses in Dortmund).
Der Samstag stand wie üblich im Zeichen der Vorstellung und Diskussion laufender Projekte aus dem Qualifikationsbereich. Der Tag begann mit dem Vortrag von SEBASTIAN WALSER (München), der am Beispiel des Gottes „Máwu“ über die Problematik terminologischer Grenzziehungen in der christlichen Ewemission in Togo referierte.
Das Promotionsprojekt von Daniel E. D. Müller (Bonn) nimmt seinen Ausgang beim historischen Kuriosum des totalen Scheiterns des Reichskirchenministeriums unter Hanns Kerrl (1887–1941): Jenem formal höchsten staatlichen Repräsentanten der Kirchenpolitik im nationalsozialistischen „Deutschen Reich“, der in aller Eile von Hitler persönlich im Zuge einer bereits latenten kirchenpolitischen Krise im Sommer 1935 auf seinen neuen Ministerposten gehoben worden war, gelang es über die gesamte Dauer seines Amtes nicht, auch nur ein einziges seiner kirchenpolitischen Ziele zu erreichen. Müller begründete dieses Scheitern mit dem Nutzen, den der Diktator aus ihm zog: Denn das strategisch nützliche Scheitern Kerrls diente Hitler dazu, die Kirchen vom erwogenen Bruch mit dem Regime im Jahr 1935 abzuhalten und sie zurück in eine bereitwillige Kooperation mit diesem zu führen, persönlich eine Position stetig anwachsender Popularität in der Bevölkerung einzunehmen und zunehmend mehr Macht innerhalb des NS-Herrschaftsapparates auf sich selbst zu konzentrieren.
Im dritten Vortrag des Vormittags sprach JULIA BLANC (Passau) über ihr Habilitationsprojekt und berichtete aus caritaswissenschaftlicher Perspektive über das Wirken Theresia Gerhardingers und andere historische Akteurinnen des Sozialkatholizismus im 19. und 20. Jahrhundert.
Der Historiker JOSEF SCHMITT (Bochum/Potsdam) eröffnete mit seinem Vortrag den Nachmittag und stellte einen Teilaspekt seines Dissertationsprojekts vor, in dem er sich mit der Geschichte der katholischen Ordensgemeinschaften in der SBZ und DDR befasst. Er beleuchtete in seinem Vortrag, wie staatliche und staatsnahe Akteure in der DDR Ordensgemeinschaften wahrnahmen und welche Kontinuitäten sich dabei erkennen lassen. Dazu wertete er Texte des Ministeriums für Staatssicherheit, der Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen und die Publikationen der DDR-Hochschullehrer Alighiero Tondi und Hubert Mohr aus. Im Ergebnis ist ein deutlicher Fokus der staatlichen Stellen auf die Gesellschaft Jesu zu beobachten, so bilanzierte Schmitt in einem ersten Fazit. Damit einher gehen alte jesuitenfeindliche Vorurteile, die von den staatlichen und staatsnahen Akteuren in der DDR gepflegt wurden und sich auf andere Ordensgemeinschaften übertrugen.
Bei der Podiumsdiskussion, die von MARKUS MÜLLER (Wuppertal) moderiert wurde und die bereits zur Generaldebatte am Sonntagvormittag unter dem Thema „Katholizismus und Revolution“ überleitete, diskutierten PETRA HEINICKER (Berlin), DETLEF POLLACK (Münster) und JÖRG SEILER (Erfurt) u. a., ob und inwiefern die Kirchen in der DDR während der Umbrüche 1989/1990 eine aktiv gestaltende Rolle spielten und wie sich die religiösen Lebenswelten durch die „Wende“ veränderten. Dank der verschiedenen auf dem Podium vertretenen Forschungsperspektiven ergab sich ein differenziertes Bild des Handlungsspektrums der christlichen Akteur:innen in der DDR vor, während und nach den Jahren des Umbruchs. Konfessionelle Besonderheiten kamen dabei ebenso zur Sprache wie verschiedene politische und kirchliche Interessenlagen diesseits und jenseits der Mauer. Die Schlussplädoyers regten zu weiteren Forschungen an, insbesondere über die Ost-CDU oder die „Einwanderung“ kirchlicher Akteur:innen in die Politik der Nachwendezeit.
Im Abendvortrag sprach PAULINA GULINSKA-JURGIEL (Halle) zum Thema „Kompromiss als Erfahrung und Praxis: Die Rolle der katholischen Kirche vor und während der polnischen Transformation 1989/1990“. Der Vortrag setzte sich u. a. mit unterschiedlichen Kommunikationsformen zwischen Staat und Kirche während der 1980er-Jahre auseinander. Die Referentin zeigte, wie kontinuierlich eine Dialogplattform zwischen den beiden Instanzen erarbeitet wurde, die die Einbeziehung der Opposition in den politischen Transformationsprozess ermöglichte. Mit Beispielen aus der Zeit der Vorbereitung und Durchführung der Runden Tisch-Gespräche veranschaulichte sie, dass die katholische Kirche nicht nur Beobachterin, sondern aktive Teilnehmerin dieses Prozesses war, die in Krisensituationen vermittelte, immer wieder an die vereinbarten Spielregeln erinnerte und konkrete Kommunikationsräume für beteiligte Parteien schuf.
Die diesjährige Generaldebatte am Sonntagvormittag stand unter dem Titel „Katholik:innen auf die Barrikaden? Zum Verhältnis von Katholizismus und Revolution“. Für die Diskussion dieses Themas konnten die Organisator:innen mit BERNHARD SCHNEIDER (Trier) und STEFAN GERBER (Jena) zwei ausgewiesene Experten als Referenten gewinnen.
Bernhard Schneider skizzierte in seinem Vortrag zunächst die Folgen der Französischen Revolution für die katholische Kirche und leitete daraus die These ab, dass die Französische Revolution über binnenkatholische Gruppendifferenzen hinweg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als traumatische Erfahrung und andauernde Bedrohung wahrgenommen wurde. Die daraus gezogenen Konsequenzen divergierten hingegen beträchtlich; das Revolutionsthema wurde gezielt instrumentalisiert. Gemeinsam war den Gruppierungen, die Kirche als Garant von Ordnung zu propagieren und für sie einen zentralen Platz in der postrevolutionären Gesellschaft zu reklamieren.
Diese Vorgeschichte bestimmte auch die Reaktionen auf den Beginn der Revolution von 1848, die wiederum ein weites Spektrum aufwiesen. Die Revolutionsjahre 1848/49 führten zu einer ausgeprägten Mobilisierung innerhalb des deutschen Katholizismus auf verschiedenen Ebenen. Die Forderungen nach bürgerlichen Freiheitsrechten wurden insbesondere in den ultramontanen Kreisen aufgegriffen, jedoch stark auf die Freiheit für die Kirche und ihre Organisationen (Vereine, Orden) zugespitzt. Inwieweit sie nur taktisch motiviert angeeignet wurden oder darüber hinaus auch eine inhaltliche Aneignung erfolgte, ist nach Schneider weiter in der Diskussion.
Der zweite Vortrag musste leider kurzfristig entfallen. Dankenswerterweise hatte Stefan Gerber sein Vortragsmanuskript den Teilnehmenden vorab schriftlich zur Verfügung gestellt. In seinem Text zeichnete der Referent Deutungen und Bewältigungsstrategien revolutionärer Umbrüche im deutschsprachigen Katholizismus zwischen 1918 und 1925 nach. Er hob dabei den weltanschaulich begründeten Pragmatismus des politischen Katholizismus in der Revolutionsphase und die Bemühungen um neue Legitimität hervor. So konnten seine Überlegungen nach einer Lektürephase von den Teilnehmenden zumindest partiell mit in die Diskussion einbezogen werden.
In der Diskussion wurde u. a. die Frage nach dem Revolutionären in der Theologie (revolutionäre Glaubensinhalte) und möglichen Rückwirkungen dieser Gehalte für das Verhältnis der Kirche zu weltlichen Revolutionen angesprochen. Zudem diskutierten die Zuhörenden die Rolle und Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) in Bezug auf eine innerkirchliche Demokratisierung sowie in Bezug auf die Anerkennung von Demokratie und Religionsfreiheit nach außen. Schließlich wurden im Blick auf heutige Fragen nach Synodalität, Demokratisierung und Partizipationsgerechtigkeit in der katholischen Kirche die historischen Fragen rund um Revolutionen innerkirchlich aktualisiert.
Die nächste Jahrestagung findet vom 22. bis 24. November 2024 wieder in der Katholischen Akademie Schwerte statt. Ein Call for papers wird im Frühjahr 2024 dazu veröffentlicht werden.
Konferenzübersicht:
Bernhard Schneider / Jens Fachbach (beide Trier): Ein karitativer Orden auf Expansionskurs und die Katastrophe der Devisen- und Sittlichkeitsprozesse (1935–1939). Studien zu den Barmherzigen Brüdern von Maria Hilf (Trier)
Sebastian Walser (München): Máwu, der christliche Gott? Die Problematik terminologischer Grenzziehung in der Ewemission
Daniel E. D. Müller (Bonn / Harvard): Strategisches Scheitern. Das Reichskirchenministerium innerhalb der kirchenpolitischen Strategie Hitlers
Julia Blanc (Passau): Wie Kolping und Ketteler, nur anders. Eine Betrachtung Theresia Gerhardingers und anderer Akteurinnen des Sozialkatholizismus aus caritativer und care-ethischer Perspektive
Josef C. Schmitt (Potsdam): »Elitetruppe des politischen Katholizismus«? Zur Wahrnehmung katholischer Ordensgemeinschaften durch staatliche und staatsnahe Akteure in der SBZ und DDR
Podiumsdiskussion: Christ:innen in der DDR und in den Umbrüchen 1989/1990
mit Petra Heinicker (Berlin), Detlef Pollack (Münster) und Jörg Seiler (Erfurt), Moderation: Markus Müller (Wuppertal)
Paulina Gulińska-Jurgiel (Halle): Kompromiss als Perspektive, Vermittlung als Praxis: Die Rolle der katholischen Kirche während der polnischen Transformation 1989/1990
Sarah Thieme (Münster) und Martin Belz (Osnabrück): Einführung in die Generaldebatte: Katholik:innen auf die Barrikaden? Zum Verhältnis von Katholizismus und Revolution
Bernhard Schneider (Trier): Trauma Revolution und der Ruf nach Freiheit: Der deutsche Katholizismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesichts der Revolutionen seit 1789
Stefan Gerber (Jena): Vom »Boden der Tatsachen« zur »schöpferischen Mitte«? Deutung und Bewältigung revolutionärer Umbrüche im deutschsprachigen Katholizismus 1918–1925