Den Ausgangspunkt der Tagung bildete das deutsch-luxemburgische, von der DFG und dem FNR (Fonds National de la Recherche) geförderte Forschungsprojekt „InterLor – Lotharingien und das Papsttum. Interaktions-, Integrations- und Transformationsprozesse im Spannungsfeld zwischen zentraler Steuerung und regionaler Eigendynamik (11. bis Anfang 13. Jh.)“.1 Die im Rahmen dieses Projekts erzielten Ergebnisse wurden ähnlich ausgerichteten Untersuchungen zu anderen Regionen des orbis christianus gegenübergestellt, um eine möglichst differenzierte Sichtweise auf die Etablierung des Papsttums als wichtigste normgebende Instanz des europäischen Mittelalters zu eröffnen und den grundlegend wechselseitigen Charakter dieses vorwiegend durch Impulse aus den Regionen stimulierten Prozesses in seiner Vielfältigkeit und regionalspezifischen Ausprägung schärfer zu konturieren. In den einzelnen Beiträgen ging es daher vor allem darum, nach den Hintergründen und Motiven der Papstkontakte in der jeweils untersuchten Region sowie den dadurch vor Ort angestoßenen Transformationsprozessen zu fragen. Dazu wurden im Vorfeld drei verschiedene Themenfelder vorgegeben, auf die folglich auch die drei Tagungssektionen ausgerichtet waren: erstens die Kathedralstädte, zweitens die im 12. Jahrhundert neu aufkommenden religiösen Orden (v. a. Zisterzienser und Prämonstratenser) und drittens weltliche Eliten, also in erster Linie Vertreter des Laienadels und Königsfamilien. Den der Veranstaltung zugrundeliegenden und soeben nur knapp skizzierten Fragehorizont steckte HARALD MÜLLER (Aachen) in seinen einführenden Überlegungen ab. Die drei Sektion wurden jeweils mit einem im Rahmen des besagten Projekts entstandenen Beitrag eröffnet.
Den Auftakt zur ersten Sektion machte daher ROBIN MOENS (Aachen, Namur) mit einem Beitrag zu Papstkontakten in den Kathedralstädten Lüttich und Metz. Er strich heraus, dass deren Bürger seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zusehends häufiger den apostolischen Stuhl um Schutzprivilegien ersuchten, weil sie sich davon erhofften, ihren Einfluss auf bestimmte lokale religiöse Einrichtungen stärken und sich besser gegenüber dem Bischof behaupten zu können. Infolgedessen wandten sich jedoch auch die Bischöfe und andere Kleriker vermehrt nach Rom, was langfristig entscheidend zur Verankerung des Papsttums als Schutzmacht unterschiedlicher Akteure in diesen beiden Städten beitrug.
Die beiden folgenden Beiträge von JOHANNES LUTHER (Zürich) und PHILIPP WOLLMANN (München) nahmen mit den Kathedralstädten Lausanne, Genf und Sitten sowie dem Bistum Augsburg ebenfalls Regionen des Reiches in den Blick, setzten dort die Hintergründe und Rahmenbedingungen päpstlicher Einflussnahme aber in erster Linie in Bezug zum Königtum. Während Johannes Luther zu dem Ergebnis kam, dass sich dem Papsttum in Burgund seit dem 12. Jahrhundert infolge des allmählich schwindenden Einflusses des deutschen Königs neue Interventionsmöglichkeiten eröffneten, was sich insbesondere die gut miteinander vernetzten Bischöfe und Domkapitel gegenüber den weltlichen Fürsten der Region zunutze machten, konstatierte Philipp Wollmann, dass das Papsttum im Bistum Augsburg auch in vermeintlichen Krisenzeiten, etwa während des sogenannten Investiturstreits, das Königtum nicht als maßgebliche Schutzinstanz verdrängen konnte.
Im darauffolgenden Beitrag fokussierte STÉPHANE GIOANNI (Lyon) mit Dalmatien eine Region an der Peripherie des päpstlichen Einflussbereichs, wo das Papsttum bereits seit dem Frühmittelalter versuchte, über die Einführung römischer Liturgie und die Gründung des Metropolitansitzes Split Fuß zu fassen und den Einfluss von Byzanz zurückzudrängen. Der entscheidende Durchbruch gelang jedoch erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, und zwar dank eines „intérêt partagé“ von lokalen Akteuren und dem Papsttum, was Gioanni unter anderem anhand der Krönung des kroatischen Königs Zvonomir durch einen päpstlichen Legaten im Jahr 1075 und der weitreichenden päpstlichen Privilegien für den im 12. Jahrhundert gegründeten Metropolitansitz Zadar illustrierte.
In der zweiten Sektion standen mit den Zisterziensern und Prämonstratensern zwei religiöse Orden im Fokus, deren Statuten unzweifelhaft das Bild von einheitlich verfassten und streng hierarchisch gegliederten Gemeinschaftsverbänden vermitteln. Dass es sich hierbei jedoch eher um ein auf normativen Vorgaben beruhendes Postulat als um ein adäquates Abbild der Praxis handelt, hat die Forschung bereits verschiedentlich herausgestrichen2 und wurde auch in den vier Beiträgen zu dieser Sektion mehrmals deutlich. So argumentierte HANNES ENGL (Aachen), der in seinem Beitrag die Papstkontakte der Prämonstratenser und Zisterzienser in Lotharingien während des sogenannten Alexandrinischen Schismas (1159–1177) behandelte, dass ihren jeweiligen Orientierungen zu dem einen oder anderen Prätendenten auf die Cathedra Petri in erster Linie pragmatische Motive und keine grundsätzliche Haltung in diesem Konflikt zugrunde gelegen hätten. Während dafür bei den Prämonstratensern vor allem die Positionierung des Diözesanbischofs im Schisma ausschlaggebend gewesen sei, habe bei den Zisterziensern neben der Entscheidung des Generalkapitels auch die praktische Verfügbarkeit einer potenziellen Anlaufstelle mit päpstlichem Autoritätsanspruch eine entscheidende Rolle gespielt. Deshalb, so Engl, hätten die Zisterzienser von Beaupré (Diözese Toul) auch nicht davor zurückgeschreckt, sich 1164, nur ein Jahr nach dem Erwerb eines Privilegs Alexanders III., auch eine Urkunde vom Trierer Erzbischof Hillin, der damals Legat und eine der wichtigsten Stützen des sogenannten Gegenpapstes Viktors IV. im Reich war, ausstellen zu lassen. Dass mitunter pragmatische Beweggründe und weniger grundsätzliche Überzeugungen den Anlass zu einer Orientierung im Schisma bieten konnten, unterstrich auch DANIEL BERGER (Göttingen) in seinem Beitrag zu den Papstkontakten ‚neuer‘ Orden in Kastilien während des 12. Jahrhunderts. In den 1160er-Jahren hätten mehrere der dort angesiedelten Zisterziensergemeinschaften auf dem Rückweg vom Generalkapitel in Cîteaux unter anderem deshalb noch eine Urkunde des im Nachhinein siegreichen Papstes Alexanders III. erwirkt, weil dieser damals in Frankreich weilte und somit sprichwörtlich die nächstliegende Anlaufstelle war.
TIMOTHY SALEMME (Luxemburg), der in seinem Beitrag die Genese und Auswirkungen der Exemtion von Zisterzienserklöstern in der Lombardei beleuchtete, konnte anhand von Beispielen aus Morimondo und Chiaravalle Milanese zeigen, dass deren jeweilige Freiheitsrechte keineswegs deckungsgleich waren, obwohl die Ordensstatuten und an den Gesamtorden adressierte päpstliche Privilegien in Bezug auf das Rechtsverhältnis zum Diözesanbischof ziemlich eindeutige Vorgaben enthielten. Dementsprechend uneinheitlich ist auch das Formular der Papsturkunden beider Klöster, was in Anbetracht seiner stetig voranschreitenden Standardisierung ein weiteres Indiz dafür liefert, dass die päpstliche Kanzlei an der Wende zum 13. Jahrhundert sogar bei der Abfassung ordensspezifischer Rechtsverfügungen prinzipiell noch dazu bereit war, individuelle Wünsche des Empfängers zu berücksichtigen. Dass das Papsttum nicht nur als rechtliche oder moralische Stütze des Vereinheitlichungsprozesses der religiösen Orden des 12. Jahrhunderts fungierte, sondern zuweilen auch für das Streben einzelner Ordensniederlassungen nach Eigenständigkeit regelrecht instrumentalisiert werden konnte, verdeutlichte STEFAN PETERSEN (München) in seinem Beitrag zur Rolle der Papsturkunden in den Auseinandersetzungen zwischen Prémontré und Magdeburg, den beiden wichtigsten Zentren des Prämonstratenserordens. Letztlich schufen die von beiden Parteien erwirkten Papsturkunden sogar die Voraussetzung für einen langfristig wirksamen „Bruch“ zwischen der sächsischen Zirkarie und den sich an Prémontré orientierenden französischen Stiften.
Die dritte und letzte Sektion eröffnete MICHEL MARGUE (Luxemburg) mit einem Beitrag zur Rolle des Papsttums bei gräflichen Klostergründungen in Lotharingien während der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Er verwies dabei insbesondere auf die Prozesshaftigkeit derartiger Vorgänge, die sich innerhalb eines vielschichtigen Geflechts regionaler Personen- und Rechtsbeziehungen vollzogen hätten und in die das Papsttum zumeist erst zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen worden sei. Nichtsdestotrotz gewährte die Kurie dabei in einigen Fällen, insbesondere wenn die adligen Gründer sich direkt an den apostolischen Stuhl gewandt hatten, weitreichende Freiheitsrechte (Altmünsterabtei zu Luxemburg) oder sogar die Exemtion (St-Pierremont, Diözese Metz). Auch NICOLAS RUFFINI-RONZANI (Namur) fokussierte im darauffolgenden Beitrag Interaktionen des Adels mit dem Papsttum, allerdings ohne direkten Bezug zu Klostergründungen, sondern vielmehr im Hinblick auf die schriftliche Kommunikation und deren Inhalte. Er konstatierte, dass bereits im Zuge der sogenannten Gregorianischen Reform ein Anstieg brieflichen Austausches zu verzeichnen sei. Zur Normalität sei dies jedoch erst am Ende des 12. Jahrhunderts geworden, was er einerseits anhand der zunehmenden Überlieferung betreffender Schreiben sowie andererseits anhand der zunehmenden inhaltlichen Ausdifferenzierung ihrer Themen (Erbvorgänge, Bischofswahlen, Turniere, Kreuzzüge, Thomas Becket, usw.) veranschaulichte.
Die beiden letzten Beiträge von DANIEL ARMSTRONG (Toronto) und IBEN FONNESBERG-SCHMIDT (Aalborg) behandelten die Beziehungen zwischen Königen und dem Papsttum. In seinem Beitrag zu den Königen von England kam Daniel Armstrong zu einem ähnlichen Ergebnis wie vor ihm Nicolas Ruffini-Ronzani, nämlich dass deren schriftliche Kommunikation mit der Kurie an der Wende zum 12. Jahrhundert einen bedeutenden Schub erfahren habe, vor allem unter Heinrich I., der mit Paschalis II. (1099–1118) in engem Kontakt stand. Ausschlaggebend dafür seien insbesondere die damaligen Herausforderungen gewesen, mit denen sich Heinrich I. in seinem Herrschaftsbereich auf dem französischen Festland konfrontiert sah – also eigentlich eine Krise seiner Königsherrschaft, die langfristig jedoch sowohl vom ihm selbst als auch vom Papsttum als Hebel für die Erschließung neuer Aktionsfelder genutzt wurde. Im Königreich Dänemark, das im Fokus des Beitrags von Iben Fonnesberg-Schmidt stand, ist eine Zunahme der schriftlichen Kommunikation zwischen den dortigen Königen und dem Papsttum indes erst unter Innocenz III. (1198–1215) zu verzeichnen. Fonnesberg-Schmidt betonte jedoch mehrmals, dass auch hier die Könige das Papsttum für die Erschließung neuer Aktionsfelder nutzten, insbesondere für ihre Interessen im Baltikum sowie für Eheschließungen mit bedeutenden west- und mitteleuropäischen Dynastien.
In ihrer Summe eröffneten die Beiträge der Tagung eine differenzierte Sichtweise auf die Wirkungsfelder des Papsttums im hochmittelalterlichen Europa, von Kathedralstädten über Klosterlandschaften bis hin zu weltlichen Herrschaftsstrukturen, sowie auf die dort erzielten Wirkungen und Veränderungen. Dies unterstrich auch ROLF GROSSE (Paris) in der Schlussbetrachtung. Er verwies dabei aber zugleich auf die im Verlauf der Tagung immer deutlicher hervortretenden Unterschiede zwischen den behandelten Regionen, und zwar sowohl in Bezug auf deren Voraussetzungen für Interaktionen mit dem apostolischen Stuhl als auch im Hinblick auf den Charakter und die Tragweite der dadurch angestoßenen Transformationsprozesse auf lokaler Ebene. Im Rahmen der Schlussdiskussionen wurden diese Überlegungen vielfach aufgegriffen, wobei sich mehrere Tagungsteilnehmer:innen für eine noch stärkere Berücksichtigung dieser regionalen Eigenheiten und Unterschiede bei künftigen Untersuchungen der Interaktionen zwischen dem Papsttum und dem orbis christianus aussprachen. ‚Interaktion‘ kann wohl überhaupt als abschließendes Stichwort der Tagung gelten, denn alle Teilnehmer:innen waren sich einig, dass die Geschichte des Papsttums im Mittelalter eben nicht nur eine Institutionen-, sondern vor allem eine Interaktionsgeschichte sei. Maßgeblich beigetragen zu dieser Einsicht hat nicht zuletzt eine im Rahmen der Tagung veranstaltete Podiumsdiskussion unter der Leitung der Kirchenhistorikerin DANIELA BLUM (Aachen) und mit Impulsvorträgen von JOCHEN JOHRENDT (Wuppertal) und KLAUS HERBERS (Erlangen), bei der die Stärken und Schwächen des Konzepts ‚Zentrum und Peripherie‘3 im Hinblick auf die Geschichte des Papsttums im Mittelalter gegeneinander abgewogen wurden. Die soeben resümierten Beiträge werden voraussichtlich nächstes Jahr gebündelt als Tagungsband bei Böhlau in der Reihe ‚Papsttum im mittelalterlichen Europa‘ veröffentlicht.
Konferenzübersicht:
Harald MÜLLER (Aachen): Einführung
Sektion I: Kathedralstädte als Kristallisationspunkte der Romkontakte
Moderation: Klaus HERBERS (Erlangen)
Robin MOENS (Aachen, Namur): ‚Bürgerpäpste‘? Der apostolische Stuhl als Fluchtpunkt städtischer Akteure in Lüttich und Metz im 12. und frühen 13. Jahrhundert
Johannes LUTHER (Zürich): Burgundische Beziehungskrisen. Die Kathedralstädte Genf, Lausanne und Sitten zwischen Rom und dem Reich
Philipp WOLLMANN (München): Et Augustensis ecclesia est scismatica. Das Bistum Augsburg zwischen staufisch-welfischen Einflüssen und päpstlichem Schutz und Schirm im 12. Jahrhundert
Stéphane GIOANNI (Lyon): Privilèges et liberté dalmate dans la documentation pontificale de Grégoire VII à Innocent III
Sektion II: ‚Corporate Identity‘ oder regionale Vielfalt? Papsttum und Orden in der Interaktion
Moderation: Harald MÜLLER (Aachen)
Hannes ENGL (Aachen): Pragmatische Orientierungen. Die Zisterzienser und Prämonstratenser in Lotharingien im Alexandrinischen Schisma (1159–1177)
Daniel BERGER (Göttingen): Das Papsttum und Niederlassungen ‚neuer‘ Orden in Kastilien (und angrenzenden Gebieten) im 12. Jahrhundert
Timothy SALEMME (Luxemburg): Les cisterciens et la formation de l’exemption entre Milan et Pavie (XIIe - début du XIIIe siècle)
Stefan PETERSEN (München): Papsturkunden als Waffe. Instrumentalisierung des Papsttums in den Auseinandersetzungen zwischen Prémontré und der Sächsischen Zirkarie
Sektion III: Das Papsttum als Bezugspunkt und Interaktionspartner für Laienfürsten
Moderation: Jean-François NIEUS (Namur)
Michel MARGUE (Luxemburg): Eine neue Herrschaftstopographie? Der Rückgriff auf das Papsttum bei Klostergründungen durch Laien und die Rekonfigurierung der Herrschaftsstrukturen in Lotharingien (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts)
Nicolas RUFFINI-RONZANI (Namur): Pouvoirs comtaux et autorité papale en France du Nord et dans l’Ouest de la Basse-Lotharingie (XIIe - début XIIIe siècle)
Daniel ARMSTRONG (Toronto): The Papacy and the Alter Orbis: Papal Relations with the Anglo-Norman Kings of England
Schlussbetrachtung: Rolf GROSSE (Paris)
Anmerkungen:
1 Siehe zu diesem Projekt Harald Müller / Hannes Engl / Michel Margue / Timothy Salemme, Vorstellung des Forschungsprojekts „INTERLOR – Lotharingien und das Papsttum. Interaktions-, Integrations- und Transformationsprozesse im Spannungsfeld zwischen zentraler Steuerung und regionaler Eigendynamik (11. – Anfang 13. Jahrhundert)“, in: Studi di storia medioevale e di diplomatica, nuova serie 5 (2021), S. 297–306: https://riviste.unimi.it/index.php/SSMD/article/view/16140/14699 (07.02.2024).
2 Vgl. etwa mit den entsprechenden weiterführenden Hinweisen Steven Vanderputten, Medieval Monasticisms. Forms and Experiences of the Monastic Life in the Latin West, Berlin / Boston 2020, S. 200–201 und 207–208.
3 Vgl. dazu grundlegend Jochen Johrendt / Harald Müller (Hrsg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin / Boston 2008.