Während Datenverarbeitung im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs eine ausgesprochen prominente Rolle einnimmt, ist dessen Rolle im langen 19. Jahrhundert bislang wenig erforscht. Die Tagung spürte dem Staat als zentralen Akteur der Datenerhebung nach, den technisch-materiellen Bedingungen von jenen Erhebungen, sowie dem Umstand, dass Zahlen nie für sich selbst stehen, sondern zu jeder Zeit erklärungsbedürftig waren. Auch die Frage nach einer ordnungsschaffenden Funktion von Daten, die durchaus auch selbst-ermächtigende Züge annehmen konnte, wurde dabei gestreift.
VOLKER KÖHLER (Darmstadt) stellte dabei zu Beginn klar, dass der Datenbegriff ein anachronistischer ist, der sich in den Quellen des 19. Jahrhunderts kaum finden lässt. Daten erhalten dabei erst kontextbezogen Kontur, als Information. Die Fragestellung ist folglich ausschlaggebend für die Bewertung des Materials. Im Untersuchungszeitraum etablierte sich zunächst überhaupt ein Umgang mit Datenerhebung- und Verarbeitung. Das Jahr 1815 markierte mit dem Ende der Koalitionskriege und dem Ende des französischen Verwaltungs- und Rechtsexport einen bedeutenden Einschnitt in der Geschichte der Datenverarbeitung. Es gilt- so stellte sich im Verlauf der Tagung heraus – jedoch zu differenzieren: Je nach Forschungsgegenstand variieren die zeitlichen Wendepunkte dabei erheblich. Während etwa die Todesstatistik schon im 17. Jahrhundert detailliert erhoben wurde, fand die Datafizierung des Sozialen erst mit den Reformen in der preußischen Volkszählung ab den 1860ern oder gar wesentlich später mit der US-amerikanischen Volkszählung 1890 mithilfe der Hollerith-Maschine statt.
VIKTORIA GRÄBE (Bochum) stellte in ihrer Forschung zu Schulprogrammen in Preußen den Aushandlungsprozess vor, der beim Bezug der Daten der Schulen durch die Behörden stattfand. Schulen standen dabei in einer Rechtfertigungspflicht und wurden für verspätete oder unvollständige Einsendungen kritisiert, worauf betroffene Lehranstalten mit erklärenden und beschwichtigenden Briefen reagierten. Sie stellte den interessanten Befund heraus, dass noch in den 1850er Jahren keine Klarheit darüber herrschte, wer überhaupt Adressat der Daten sein sollte. Auch zeigten die erhobenen Tabellen kaum Nutzungsspuren, wurden also scheinbar nicht durch die Behörden ausgewertet. Die Statistiken wurden in Jahrbüchern publiziert und standen somit der Öffentlichkeit zur Verfügung, welche allerdings kein allzu großes Interesse zeigte. Impuls zur Erhebung der Daten scheint der Versuch, Vergleichbarkeit zu schaffen, gewesen zu sein – möglicherweise auch mit Blick auf andere europäische Staaten.
Die Automatisierung der Kopfarbeit im frühen 19. Jahrhundert war Gegenstand des Vortrags von CHRISTIAN SCHRÖTER (Mainz). Er stellte den Versuch zum Bau einer Rechenmaschine durch Charles Babbages vor, welche mit Dampfkraft hätte betrieben werden sollen. Die Energiequelle unterschied sich insofern von seinem Vorgänger, Gaspard de Prony, der 1792 Algorithmen mithilfe von Handkraft berechnen ließ, sowie auch von Alan Turing, der Storm nutzte, um seine Datenverarbeitung zu bewerkstelligen. Schröter parallelisierte die energetisch-technische Grundlage der Datenverarbeitung mit dem Gelingen der jeweiligen Vorhaben. Sein Fokus lag dabei ebenso auf den alltagspraktischen, handwerklichen Gelingensbedingungen technischer Entwicklungen, die seiner Ansicht nach eine zu geringe Rolle in der gegenwärtigen Forschung spielen.
Panel zwei, welches sich mit der Bewegung von Daten befasste, wurde eingeleitet durch PHILIPP KRÖGERs (Siegen) Beitrag zur Relation von beweglichen Datenträgern und Biopolitik Anfang des 20. Jahrhunderts. Kröger skizzierte den preußischen Zensus um 1900, der die Erfassung der Nationalität über die Muttersprache einführte. Fast zeitgleich wurde 1890 eine neue Form der Datenverarbeitung eingeführt, die Lochkarte. Sie fand Anwendung in einer Kartei, die der Bevölkerungskontrolle in „Ober-Ost“ 1915-1918 dienen sollte. Der Zensus von 1900 hatte einen Rückgang der deutschen Bevölkerung zugunsten der polnischen ergeben, mithilfe der beweglichen Kartei aus Lochkarten sollten Nationalitätswechsel von Individuen sichtbar gemacht werden können. Diese Verwaltungstätigkeit stand im engen Zusammenhang mit einer geplanten Germanisierung „Ober-Osts“. Ein ständiger Topos war dabei der Datenmangel, den die Verwaltung ausdauernd beklagte. Auch in diesem Fall ließ sich eine nur sehr ansatzweise Auswertung der erhobenen Daten durch die staatlichen Akteure beobachten.
DANIEL NETHERY (Berlin) beschäftigte sich mit den „Regeln der Migration“ im langen 19. Jahrhundert anhand der Schriften Ernst Ravensteins. Auch bezüglich Migration stellte die Erhebung von Daten eine Neuerung im ausgehenden 19. Jahrhundert dar. Ravenstein definierte dabei Migration als Wechsel der Gemeinde zwischen zwei Zensus, er wehrt sich damit gegen ein landläufiges Verständnis von Migration, das auf weite Strecken fokussiert, wie sie etwa Eric Hobsbawm in seiner Theorie des „great uprooting“ beschreibt. Ravenstein zufolge ist aber die häufigste Form des Wohnsitzwechsels zwischen zwei benachbarten Gemeinden, also eine vergleichbar kurze Distanz. Infolge dieser Gesetzmäßigkeit würden Menschen in direkter Nachbarschaft zu einem Migrationszugpunkt zu diesem ziehen und aus den umliegenden Bereichen nähmen Menschen ihren Platz ein. Damit würde sich, so Adam Smith, Bevölkerung, und damit Reichtum, gleichmäßig im Land verteilen – eine These, die sich nicht bewahrheitete.
Den Abschluss des Panels bildete JULIA ENGELSCHALT (Darmstadt) mit ihrer Arbeit über Vitalstatistiken im Zuge der territorialen Expansion der USA 1830-1850. Daniel Drake beschrieb als zeitgenössischer Beobachter der Migration (und Landnahme) nach Westen das Land und seine Menschen. Er lieferte dabei eine penible Erfassung von Flora und Fauna und Vermessung der Topografie. Sein größtes Interesse galt dabei der Verbindung von Klima und Medizin, demnach ein enger Zusammenhang zwischen klimatischen Bedingungen und Gesundheit besteht. Dabei wird die „caucasian race“ zum Standard erhoben, auf dessen Level afrikanische und indische Völker gehoben werden müssten. Auffällig ist in Drakes Fall zudem die Visualisierung der Daten, ihm zufolge ist etwa die Tabelle die natürlichste Form der Darstellung von Temperaturen.
VOLKER KÖHLER (Darmstadt) leitete den zweiten Tagungstag mit einem Vortag über Uniformen und Ausrüstungen als Verwaltungsdaten ein. Anhand der Beispiele Hessen-Darmstadt und Bayern im Zeitraum von ca. 1770 bis 1870 zeigte Köhler, wie die Militärverwaltungen durch Datenerhebung ihre Bedarfe organisierten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte sich die Art der Datenerhebung und Darstellung als auch der Grund. Im Zuge der Analyse zeigte sich eine Verschiebung des Fluchtpunktes vom Heer oder Ruhm des Herrschers auf den einzelnen Soldaten, also ein Trend zur Individualisierung. Im Mittelpunkt standen die Gesundheit und Belastbarkeit des einzelnen Soldaten, beispielhaft wurden 1868 die Tornister an neue Begebenheiten angepasst. Auch die Darstellungsform nahm vermehrt Zahlenform an, auch wenn heute gängige Wissenschaftsstandards noch nicht zum Zuge kamen: Eine Studie zum Nahrungsbedarf von Soldaten etwa wurde an nur drei Personen durchgeführt, kann insofern also nicht als repräsentativ betrachtet werden.
KIRA KEßLER (Siegen) berichtete über die Erfassung von Jugendkriminalität in Preußen. 1825 veröffentlichte das Kultusministerium den Befund, dass Jugendkriminalität zunähme. Keßlers Ergebnisse decken sich in weiten Teilen mit denen der anderen Tagungsteilnehmer:innen: Daten wurden in großem Stile gesammelt, jedoch selten ausgewertet. Ziel war offenbar die objektive Feststellung eines Problems, das in der subjektiven Wahrnehmung bereits feststand – der Eindruck einer verwahrlosten Jugend. Gleichzeitig richtete sich die Erhebung gegen eine unzureichende Kontrolle der Preußischen Provinzen, in denen die Rechtspraxen teils erheblich variierten. Das Kultusministerium bediente sich dabei Daten des Statistischen Büros und führte keine eigenen Erhebungen durch. Problematisch war etwa die definitorische Unschärfe: Nie wurde spezifiziert, welche Menschen als Jugendlich gelten, was zu großen Schwankungen in den gelieferten Daten führte. Die angegebenen Gründe für Jugendkriminalität reichten von „uneheliche Geburt“ über „schlechte Eltern“ bis „vagabundierende Lebensweise“. Auch in diesem Fall sah das Ministerium sich häufig genötigt, bei Kreis- und Ortsbehörden nach verspäteten oder unvollständigen Daten nachzufragen. Die Delinquent:innen wurden mitsamt einer Charakterisierung gemeldet, die stark mit der jeweiligen Strafe korrelierte: Betroffene, denen positive, entschuldigende Eigenschaften zugeschrieben wurden, wurden häufig nicht oder mild bestraft, negative Aussagen wie zum Beispiel „Der Charakter des Knaben ist boshaft“ trafen meist mit härteren Strafen zusammen.
Abgeschlossen wurde der Themenblock mit einem Vortrag über die Instrumentalisierung von Leichenhäusern im Berlin des 19. Jahrhunderts. NINA KREIBIG (Berlin) beschrieb die Gemengelage, aufgrund derer eine Angst vor dem lebendig begraben werden um sich griff: Die Zeitgenoss:innen zweifelten gängige Totenzeichen wie Leichenstarre und Leichenflecken an, zudem wurde der Tod oft durch medizinische Laien festgestellt und Bestattungen meist wenige Stunden nach Todeseintritt durchgeführt. In Leichenhäusern konnten Tote von einem Aufseher beobachtet werden, außerdem war der aufgebahrte Mensch an Schnüren mit Glocken befestigt, um im Falle einer Bewegung Aufmerksamkeit zu erregen. Der Berliner Magistrat schrieb 1840 alle Gemeinden mit Leichenhaus an, um Zahlen zu erfolgreichen Wiederbelebungen zu erhalten. Er gab diese Daten weiter an das Konsistorium der Provinz und die Berliner Zeitung, welche die Daten abdruckten. Obwohl dies wie eine Auswertung der Daten wirkt, wurden sie nicht weiter verarbeitet. Trotz dessen beispielsweise jedes Jahr Zahlen erhoben wurden, schrieb der Magistrat im Zuge einer Nachfrage alle Gemeinden erneut an, um die Zahlen zu erfragen. Scheinbar wurden sie also nicht vor Ort nachgehalten. Dennoch spielten die Zahlen eine große Rolle in der öffentlichen Akzeptanz der Leichenhäuser.
Der letzte Themenblock, „Daten und Umwelt“, wurde eingeleitet durch einen Vortrag von PETER MOSER (Bern) zum Thema der Buchhaltung im Agrarsektor im 18. und 19. Jahrhundert. Die Einführung der Buchhaltung ging demnach mit einer grundlegenden Veränderung des Sektors einher, der ab etwa Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Verbreitung von Buchwissen eine drastische Zunahme der Kompetenz der Akteure erfuhr. Mit Aufkommen der Industriellen Umwälzung sollte auch die Landwirtschaft eine Industrie werden – sie funktioniert allerdings zwangsläufig weiterhin saisonal, zyklisch, und ließ sich nicht in ein Schema des ständigen Wachstums bringen. Auch die große Neuerung der Industrialisierung, die veränderte Energiegrundlage, ließ sich im Agrarischen nicht gewinnbringend einsetzen. Dennoch sollten aus Bauern Landwirte werden und aus diesem Zwecke erklärt sich die umfassende Einführung der Buchhaltung in Bauernbetrieben, aus der sich allerdings folgende Probleme ergaben: Zum ersten waren Haushalt und Wirtschaft in der agrarischen Praxis verbunden, buchhalterisches Denken aber forderte die Trennung von beidem. Zweitens stellte sich das Problem der Messung von Reproduktionsprozessen – Saat, Tiere etc. wurden für eine fortlaufende Produktion benötigt und konnten entsprechend nicht veräußert werden. Die Buchhaltung aber war auf reale Werte angewiesen, sie kann mit fiktiven nicht arbeiten. Drittens bestand die Notwendigkeit zur Identifikation des Ertragswerts des Bodens. Der Boden war die Produktionsgrundlage, und nicht ein Standortfaktor wie in der Industrie, der Marktwert konnte ergo nicht zur Bestimmung des Bodenwertes herhalten. Letztlich wurde, so Moser, die Integration des Agrarsektors in die Industriegesellschaft durch seine Unterordnung bewerkstelligt.
Den Abschluss bildete ein Beitrag von MARTIN SCHMITT (Paderborn) zur Informationsverarbeitung im Forstwesen im langen 19. Jahrhundert. Er beschrieb die Datensucht der Staatsverwaltung im Kameralismus im ausgehenden 18. Jahrhundert, demnach Wald nicht mehr nach Gewohnheit bearbeitet werden sollte, sondern nach wissenschaftlichen Prinzipien. Es stand nunmehr das Holz, nicht der Baum im Mittelpunkt des Interesses. Aus diesem Grund wurden mathematisch geschulte Forster ausgebildet, die zu einer Verbindung von Verwissenschaftlichung und Ökonomisierung des Forstwesens beitragen sollten. Der staatliche Blick auf Wald verengte sich damit auf einen rein ressourcengeleiteten, obgleich der Wald eigentlich vielfältige Funktionen erfüllte. Die Folge war eine Umgestaltung der Waldflächen zu Monokulturen, deren Holzertrag sich leichter bemessen ließ.
In der Abschlussdiskussion wurde erneut eine zunehmende Lust staatlicher Akteure am Sammeln von Daten offenbar, deren Auswertung jedoch häufig Makulatur blieb. Drei Leitfragen, die sich durch die Tagung zogen, waren dabei: 1. Wer erhob Daten? 2. Zu welchem Zweck und 3. Mit welchem Material. Moser hob hervor, dass Datenerhebung unterschiedlichen Zielen dienen kann, Schmitt fokussierte auf die Erklärungsbedürftigkeit von Daten und auf die Geschichten, mit denen sie vermittelt werden. Anschließend daran fragte Kreibig, welcher Ordnungsbegriff hinter dem Wunsch, anhand von Daten zu strukturieren, stünde. Datenerhebungen produzierten einen symbolischen Überschuss, es ließe sich eine Kulturgeschichte der Statistik schreiben, wie Kröger betonte.
Auffällig war auch die Parallelität von Bürokratie und Datenerfassung, jene fungierte fast in allen betrachteten Fällen als Initiatorin – sie sorgte allerdings auch für die Veröffentlichung und damit Demokratisierung der Untersuchungen. Weitgehend unterwähnt blieb, wie Engelschalt feststellte, der Begriff der Objektivität, welcher sich von einer Geschichte der Datenerfassung allerdings nicht trennen lasse. Offen blieb auch das Verhältnis von Informations- und Datenbegriff, Nethery fragte, wie diese zusammenhingen und welche Hierarchie von Daten sich daraus ergebe. Die Tagung war stark empirisch orientiert, Schmitt fragte in diesem Zusammenhang, wie die Ergebnisse auf theoretische Debatten der Zunft rückgekoppelt werden könnten. Besonders aufschlussreich war der Blick auf die Umstände der jeweiligen Datenerhebungen und deren Ambivalenzen. Sicher wird der Tagungsband diese Zusammenhänge noch näher erläutern.
Konferenzübersicht:
Themenblock 1:
Viktoria Gräbe (Bochum): Von der Einladungsschrift zum Schulprogramm als Instrument der Bildungsberichterstattung im langen 19. Jahrhundert
Christian Schröter (Mainz): Maschinen, die rechnen. Die Automatisierung der Kopfarbeit im frühen 19. Jahrhundert
Themenblock 2:
Philipp Kröger (Siegen): Zur Ko-Konstruktion beweglicher Datenträger, Bevölkerungsdynamiken und Biopolitiken zwischen den 1890er und 1920er Jahren
Daniel Nethery (Berlin): Representing emigration within the “old” world: The “laws of migration” in the long nineteenth century
Julia Engelschalt (Darmstadt): Vitalstatistiken und (ihre) Grenzen. Zur Rolle der Medizingeographie in der territorialen Expansion der USA, 1830-1850
Themenblock 3:
Volker Köhler (Darmstadt): Uniformen und Ausrüstungen als Verwaltungsdaten. Die Beispiele Hessen-Darmstadt und Bayern ca. 1770-1970
Kira Keßler (Siegen): Jugendkriminalität in Zahlen – Die statistischen Erhebungen des preußischen Kultusministeriums (1825-1849)
Nina Kreibig (Berlin): Tote Seelen. Zur Instrumentalisierung von Berliner Leichenhäusern des 19. Jahrhunderts
Themenblock 4:
Peter Moser (Bern): Die Buchhaltung – ein Instrument zur Herausbildung und Überwindung des Agrarkapitalismus im 18./19. Jahrhundert
Martin Schmitt (Paderborn): Von Walddaten und Datenwäldern: Eine Umweltgeschichte der Informationsverarbeitung im langen 19. Jahrhundert