Diskurs, Wissen, Praktiken – und darüber hinaus? 8. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung

Diskurs, Wissen, Praktiken – und darüber hinaus? 8. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung

Organisatoren
Kirstin Jorns / Ina Hasenöhrl / Nathalie Pfiffner, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.04.2024 - 05.04.2024
Von
Christian Gsandtner, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien

Das grundlegende Thema der 8. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung umfasste ein breites Feld praktischer und wissenschaftstheoretischer Problemstellungen innerhalb der bildungshistorischen Forschung. So wurde einerseits auf das Zusammenspiel von Fragestellung, theoretischen, methodisch-methodologischen Zugängen und der Auswahl des Quellenkorpus fokussiert, und andererseits auf die darauffolgende Kontextualisierung etwaiger Forschungsergebnisse. Im Hinblick auf die Vielfältigkeit möglicher Ansätze ergaben sich daher schon im Voraus einige konkrete Fragestellungen, beispielsweise: Wie passen die ausgewählten Quellen zur Forschungsfrage und zum Gegenstand, der beschrieben und verstanden werden möchte? Welche Quellengattung erfordert das theoretische Setting und wie wird die Darstellung der Ergebnisse strukturiert? Welches historiographische Potential resultiert aus der jeweils eingenommenen Perspektive? Es waren mitunter diese Fragen, deren Diskussionspotenzial für die Zürcher Werkstatt genutzt wurde. Im Vordergrund der Auseinandersetzung stand dabei die Schaffung einer offenen, inklusiven Atmosphäre, die es den Doktoratsstudierenden ermöglichte, ihre Gedanken jenseits des strengen Blickes von Supervisors und fachspezifischen Grenzen zu artikulieren.

Dieser Umstand erlaubte den Teilnehmenden zudem ihre jeweilige Forschung in ihrer Prozesshaftigkeit darzustellen und Unsicherheiten, aber auch mögliche Potenziale hervorzuheben und zur Debatte zu stellen. Unterstützt wurde dieses Vorhaben von Meike Sophia Baader und Caspar Hirschi, deren Beiträge innerhalb der Diskussionen die Doktorierenden dazu anregten, ihre eigene Forschung zu reflektieren und andere mögliche Blickwinkel einzunehmen und auszuloten. In einem inhaltlich breitgefächerten Programm, wurden insgesamt elf Forschungsprojekte vorgestellt, die trotz ihrer Originalität vor allem den methodischen Zugang sowie den Umgang mit Quellenmaterial zum Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen machten.

HANNAH VAN REETH (Graz) setzte sich in ihrem Vortrag mit der Herausbildung einer ‚neuen‘ deutschen Geschichtsdidaktik in den 1970er- und 1980er-Jahren auseinander. Durch ein Zusammenfügen methodischer Implikationen, die der historischen Epistemologie, der Konstellationsforschung, der reflexiven Disziplingeschichte und sozio-praxeologischer Perspektiven entstammen, brach sie bestehende Selbstnarrationen dieser sich damals konfigurierenden Form der Geschichtsdidaktik auf und kontextualisierte diese als komplexe Aushandlungsprozesse neu. Die Konstituierung dieser Disziplin nach außen hin stand dabei ebenso im Mittelpunkt, wie innere disziplinpolitische Kämpfe.

Einem gänzlich anderen Feld wandte sich FRANCESCO CARLONI (Modena/Trier) zu, der das Economic Education Movement innerhalb der Vereinigten Staaten zum Thema seiner Präsentation machte. Während er die diskursiven Rahmenbedingungen umriss, innerhalb derer sich diese Bewegung Mitte des 20. Jahrhunderts formierte, lag sein Fokus insbesondere auf den verschiedene Wissensreservoirs, die von Vertreter:innen dieses bildungspolitischen Unterfangens mobilisiert wurden. Dabei arbeitete er heraus, wie wirtschaftliche Argumentationslinien mit Idealen einer demokratischen Staatsbürgerlichkeit verknüpft wurden.

KIRSTIN JORNS (Zürich) untersuchte indessen performative Zukunftsvorstellungen, die im Zuge der Debatten rund um Berufsbildung im Schweizer Kontext der 1970er-Jahre geäußert wurden. Mit dem Anspruch der Vergangenheit ihre Offenheit zurückzugeben, gelang es ihr einen Diskursraum zu rekonstruieren, in welchem ‚Zukunft‘ als Kategorie imaginiert und politisch instrumentalisiert wurde. Die anschließende Diskussion regte neben fallspezifischen Überlegungen auch zu weiterführenden Fragen hinsichtlich der Periodisierung in der historischen (Bildungs-)Forschung an.

Auch ANNA LINDNERs (Berlin) Projekt nahm seinen Ausgangspunkt in den 70er Jahren, jedoch ein Jahrhundert früher. Sie befasste sich kritisch mit dem preußischen Schulaufsichtsgesetz von 1872 und dazugehörigen Narrativen pädagogischer Professionalisierung durch den Einsatz weltlicher Beamter, die geistliche innerhalb der Schulaufsicht ablösen sollten. Da ihr Erkenntnisinteresse auf den konkreten Einzelpraktiken lag, die aus der Umsetzung der Vorgaben der Schulaufsicht resultierten, stand das Verhältnis von Quellenkorpus und historischer Wirklichkeit im Mittelpunkt ihres Vortrags.

Einem wenig beachteten Thema widmete sich ALEXANDRA RAPTIS (Hamburg) in ihrem Beitrag, der auf die Rolle von Lehrpersonen in den afrikanischen Kolonien des deutschen Kaiserreichs fokussierte. Dabei zeigte sie eindrücklich, wie der vermeintlich neutrale Akt des Sammelns von Naturobjekten zur Wissensproduktion eine Facette des Kolonialapparates darstellte, die auch zur deutschen Bildungshistorie gehört. Durch diesen Schritt knüpfte sie in besonderem Maße auch an zeitgenössische Debatten rund um Dekolonialisierung an.

MAX SCHELLBACH (Halle-Wittenberg) analysierte mithilfe eines historisch-komparativ Ansatzes die Rolle sozialpädagogischer Bildungsangebote für migrantische Jugendliche innerhalb urbaner Räume in Deutschland und England der 1970er- und 1980er-Jahre. Aus postkolonialer Perspektive problematisierte er, wie Zugehörigkeit im Kontext dieser beiden Migrationsgesellschaften verhandelt wurde und wie durch die Setzung bildungspolitischer Maßnahmen das gesellschaftliche Miteinander reguliert werden sollte. Während sich Migration auch als makropolitisches Phänomen verstehen lässt, lag das Hauptaugenmerk auf den konkreten Jugendzentren und Fragen hinsichtlich der Bedeutung des Raumes.

Die vielschichtigen Implikationen pädagogischen Handelns für die Gesellschaft, waren auch Thema von INA HASENÖHRLs (Zürich) Präsentation. Sie strebte eine Neuinterpretation des populären Modernisierungsnarrativs der Schweizer Heilpädagogik zwischen 1880 und 1930 an, indem sie den hybriden Charakter des Wissens hervorhob, welches innerhalb dieser aufkeimenden Disziplin generiert wurde. Sie rückte die Doppelfunktion der ‚Labore‘ innerhalb ihrer Forschung in den Fokus, die einerseits als Selbstbezeichnung aus dem Feld als Untersuchungsgegenstand fungieren und anderseits einen präzisen methodologischen Blickwinkel beschreiben, mithilfe dessen die Verstrickung pädagogischer Praxis mit der Heranbildung des Schweizer Sozialstaates situiert wird.

STEFANIE VOCHATZER (Paderborn) machte die Arbeit von Elizabeth Palmer Peabody – einer einflussreichen Persönlichkeit der Kindergartenbewegung in den Vereinigten Staaten – zum zentralen Punkt ihres Vortrags. Sie konzentrierte sich insbesondere auf ihre Rolle als Übersetzerin des Konzeptes sowohl im wörtlichen als auch ideologischen Sinn und die Veränderungen, welche die Neuübersetzung der Idee des Kindergartens in Amerika nach sich zog. Mittels Methoden aus der historischen Transferforschung versuchte sie aufzuzeigen, dass der historische Kontext dabei einen entscheidenden Aspekt darstellte, vor dessen Hintergrund die transatlantische Etablierung des Kindergartens im 19. Jahrhundert gesehen werden muss.

Das zeitgeschichtlich jüngste Forschungsvorhaben stellte ADRIAN WEIß (Kassel) vor, der sich Erfahrungsgeschichten ostdeutscher Lehrer:innen in der Zeit zwischen 1989 und 2005 zuwandte. In seinem anspruchsvollen, zweiteiligen methodologischen Verfahren ging es ihm zunächst um die Rekonstruktion von bildungsreformatorischen Diskurslinien mithilfe von Schriftquellen, bevor diese den Ergebnissen narrativer Interviews gegenübergestellt wurden. Sein erklärtes Ziel war es dadurch einen ostdeutschen Lehrer:innenhabitus herauszuarbeiten.

VERONIKA MARICIC (Wien) präsentierte ihre Überlegungen zur historischen Analyse eines Bildungsdiskurses, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Teachers College der Columbia University konfigurierte. Bezeichnend für die Ideen von Bildung und Gesellschaft, die sich in diesem Kontext festigten und zunehmend an Relevanz gewannen, war deren gemeinsamer Ausgangspunkt, den der Glaube an Verhaltenspsychologie und quantitative Messungen bildete. Durch einen sprachanalytischen Zugang arbeitete sie die ideologische Sprache dieses Bildungsdiskurses heraus, wobei auch Fragen zum Verhältnis von Akteur:innen und Diskurs aufkamen, die offen zur Diskussion gestellt wurden.

Das Potential sprachanalytischer Zugänge für die historische Bildungsforschung aufzuzeigen, war auch die Intention von SEBASTIAN GRÄBER (Trier). Sein Vortrag fokussierte dabei auf Intellectual History als Methodologie und Methodik sowie die Implikationen hinsichtlich des Umgangs mit Quellenmaterial, die eine solche Herangehensweise bedingt. Dies verdeutlichte er nicht zuletzt, indem er offenlegte, wie er diesen Ansatz in seiner eigenen Forschung zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik im deutschsprachigen Raum nutzt. So demonstrierte er auch, welche Erkenntnisse dadurch gefördert werden können.

Die im Rahmen der Werkstatt erfolgten Präsentationen führten in den anknüpfenden Debatten zu einem anregenden Gedankenaustausch, der zu einem großen Teil auch über die Grenzen des jeweils vorgestellten Forschungsinteresses hinausging. Wiederkehrende Diskussionspunkte waren dabei analog zum vordergründing Thema der Werkstatt insbesondere die Bedeutung methodisch-methodologischer Überlegungen bei der Auswahl des Quellenmaterials und das Verhältnis von historischer Wirklichkeit und Forschung.

Der Tagungsrückblick durch die zwei eingeladenen Expert:innen bot abermals Gelegenheit zur Reflexion. CASPAR HIRSCHI (St. Gallen) betonte die Originalität der vorgestellten Dissertationsprojekte und deren Bereicherung für die historische Forschung. Trotz der variationsreichen Präsentationen, die sowohl zeitlich als auch räumlich in gänzlich unterschiedlichen Kontexten verortet waren, zeigten sich laut ihm Muster bei den Problemstellungen, mit denen sich die Promovierenden konfrontiert sahen. Hirschi ermutigte die Teilnehmenden selbstbewusst an der Eigenständigkeit ihrer jeweiligen Forschungsvorhaben festzuhalten, da sich so oftmals auch Unsicherheiten hinsichtlich der methodisch-methodologischen Herangehensweise und des Quellenkorpus leichter überwinden lassen.

Ebenfalls mit einem Lob begann MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim) ihren Rückblick, indem sie die angenehme Diskussionskultur und deren produktiven Charakter hervorhob. Sie betonte abermals jene Punkte, die die einzelnen Präsentationen miteinander verbanden, die sie als das Aufbrechen von bestehenden Narrativen sowie einer Skepsis gegenüber der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ beschrieb. Zeitgleich sprach sie im Zuge ihrer Ausführungen auch potenzielle Forschungsdesiderate an, die in den vorgestellten Untersuchungen oftmals nur am Rande in Erscheinung traten. Baader merkte hierzu an, dass geschlechtsbezogene Aspekte und Intersektionalität häufig implizit mitgedacht, jedoch nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen gemacht wurden. Nichtsdestotrotz meinte Baader, dass alle Projekte relevante Problemstellungen ansprachen.

Mit neuen Perspektiven auf grundlegende Fragen der historischen Bildungsforschung fand die Werkstatt allmählich ihren vorläufigen Abschluss. Nicht zuletzt war es die sorgfältige und aufwendige Organisationsarbeit der drei Initiator:innen, durch welche die gesamte Veranstaltung im Zeichen eines freien, internationalen Austausches von Ideen und Gedanken zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildung und Geschichte stand. Dieser Umstand bot den Teilnehmer:innen die Gelegenheit ihre eigenen Positionen hinsichtlich der Verschränkung von Forschungsgegenstand, methodisch-methodologischem Zugang, dem theoretischen Rahmen und der Quellenauswahl zu argumentieren, selbige allerdings auch kritisch zu reflektieren. Dies führte zur Anerkennung verschiedener bildungshistorischer Ansätze sowie einem tiefergehenden Verständnis über deren wissenschaftstheoretischen Hintergrund, was in jederlei Hinsicht nur als Erfolg gewertet werden kann und die 8. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung zu einem Beispiel gelungener, interdisziplinärer Forschung und Wertschätzung machte.

Konferenzübersicht:

Hannah van Reeth (Graz): Verschriftungsspiele der „neuen“ Geschichtsdidaktik: Über die Praxis der Theorie

Francesco Carloni (Modena/Trier): The Economic Education Movement in the US: Boundary Setting and Inner Multivocality (1945-1970s)

Kirstin Jorns (Zürich): Performative Zukunftsvorstellungen: Politische und gesellschaftliche Imaginationen der Zukunft von der und durch die Berufsbildung (1968-1978)

Anna Lindner (Berlin): Das Wissen der mittleren preußischen Volksschulverwaltung – Wissensdifferenz, -verschränkung und -mimesis in der Revisionspraxis, 1872-1919

Alexandra Raptis (Hamburg): Die Rolle von Lehrkräften in der Etablierung naturhistorischen Wissens aus den afrikanischen Kolonien des Kaiserreichs

Max Schellbach (Halle-Wittenberg): Pädagogik im ‚Ghetto‘? Migration und Soziale Arbeit in der Bundesrepublik und England in den 1970er und 1980er Jahren

Ina Hasenöhrl (Zürich): ‘Labore’ des Sozialstaats. Hybrides Wissen in der Schweizer Heilpädagogik, 1880-1930

Stefanie Vochatzer (Paderborn): Elizabeth Palmer Peabody – eine transatlantische Analyse

Adrian Weiß (Kassel): „Wir haben bestimmt nicht Hurra geschrien“ Die Transformation des ostdeutschen Schulwesens zwischen dem Scheitern eines bildungspolitischen Aufbruchs, alltäglichen Verlusterfahrungen und pädagogischer Kontinuität

Veronika Maricic (Wien): Diskursanalyse der Bildungsforschung und -steuerung am Teachers College, Columbia University im frühen 20. Jahrhundert

Sebastian Gräber (Trier): Intellectual History als Methodologie und Methodik zur
Beschreibung historischer Epistemologien

Meike Sophia Baader (Hildesheim) & Caspar Hirschi (St. Gallen): Kritischer Tagungsrückblick