Wie entsteht Heimat? Wie kann Heimat erforscht werden? Welche Ansprüche entstehen durch die Verwendung des Heimatbegriffs und welche Rolle spielt die Praxeologie? Die Konjunktur von Heimat, ihrer Verwendung als „Politikum auf höchster Ebene“, so Katharina Hugo, sowie die Beanspruchung des Begriffs von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen veranlasst die Geschichtswissenschaft nach wie vor dazu, sich mit dem Terminus und diversen Praktiken der Heimat auseinanderzusetzen. Bei Werkstattgesprächen, die unter der Leitung von Katharina Hugo stattfanden, lud das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte ein, verschiedene Perspektiven, Praktiken, Aneignungen und Ausgrenzungen von Heimat zu diskutieren. Diese sind nicht zuletzt ein Resultat des Forschungs- und Vermittlungsprojekts von Katharina Hugo, das als Kooperationsprojekt vom Westfälischem Heimatbund (WHB) und dem LWL- Institut für westfälische Regionalgeschichte von der LWL-Kulturstiftung gefördert wird. Die Projektergebnisse werden im Rahmen einer Wander- und Onlineausstellung, einer begleitenden Veröffentlichung in der Reihe des WHB und einer wissenschaftlichen Studie einem breiten Publikum zugänglich gemacht.1 Der eintägige Workshop sollte einen ersten Aufschlag machen, um (fast) abgeschlossene und noch laufende Projekte zu verknüpfen. Alle Arbeiten bewegten sich dabei überwiegend im 20. Jahrhundert.
ANNA STROMMENGER (Bielefeld) eröffnete den Workshop mit einem Vortrag über sozialistische Heimatkonzepte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Damit knüpfte sie an ihre im Jahr 2023 erschienene Dissertation an.2 Der gängige Fokus auf bürgerlich-konservative Heimatvorstellungen veranlasste die Referentin zu einer Arbeit, die den Analysegegenstand und die dafür notwendige Quellenbasis erweiterte. Heimat solle aus ihrer Sicht demnach sowohl als Begriff als auch als Phänomen analysiert werden, um die historischen Bedeutungsschichten und deren Variationen zu verstehen. So verdeutlicht sie sehr eindrücklich, wie sozialistische Heimatdarstellungen klassische Elemente wie die Natur mit sozialistischen Symbolen, etwa Industriemotive, kombinierten, um ein spezifisch sozialistisches Heimatkonzept darzustellen. Ein zentraler Aspekt Strommengers Ausführungen waren die Spannungen um den Heimatbegriff zwischen sozialistischen und bürgerlichen Milieus, die insbesondere in der Weimarer Republik ausgehandelt wurden. Diese beleuchten zum einen die Bedeutung für das Verständnis des gesamtgesellschaftlichen Heimatdiskurses und heben gleichzeitig hervor, dass Heimat ein umkämpfter Bezugspunkt war.
Anschließend referierte JOHANNES SCHÜTZ (Dresden) über sein Habilitationsprojekt, das alltägliche Konstruktionen von Heimat in den Blick nimmt. Damit strebt Schütz das Ziel an, durch die Kombination von Alltags- und Emotionsgeschichte eine Praxisgeschichte zu erreichen. Dafür nimmt er fünf ausgewählte Praktiken in den Blick: Ortschroniken schreiben, Wandern gehen, Neubauviertel gestalten, Gewalt ausüben und die zerstörte Stadt erinnern, um zu zeigen, wie Heimatdiskurse in praktische Handlungen übersetzt werden. Schütz beschränkte sich in seinem Vortrag auf die Ausübung der Gewalt und stellt einen Konnex zwischen Gewalt und Heimatschutz her. Damit verdeutlichte er die rechtsextreme Vereinnahmung des Heimatschutzdiskurses in den 1980er- und 1990er-Jahren, die zu einer Welle der Gewalt in Sachsen beitrug.
In beiden Vorträgen wurden die Geschlechterrollen großgeschrieben. Dies ergab die anschließende Diskussion. Anna Strommenger hob hervor, dass die Naturfreundebewegung durchaus mehr weibliche Mitglieder als die bürgerlichen Heimatvereinigungen hatte, obwohl gerade die Arbeiterbewegung männlich und die Heimatbewegung weiblich konnotiert war. Johannes Schütz hob hervor, dass die Gewaltpraxis der Rechtsextremisten durchaus männlich dominiert war und sie nicht zuletzt auch dazu diente, die eigene Männlichkeit zu manifestieren.
SEBASTIAN BRAUN (Wuppertal) stellte seinerseits ein Promotionsvorhaben vor, das auf die Beheimatungsprozesse von Jüdinnen:Juden nach 1945 eingeht. In einer Zeit, in der der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in Deutschland ein schwieriger Prozess war, viele jüdische Überlebende in Deutschland ein Land des Holocausts sahen und der Staat Israel gegründet wurde, entschieden sich einige Überlebende, ein jüdisches Leben in Deutschland aufzubauen. Diese Entwicklung eröffnete für den Referenten die Fragen nach ihren Motiven und Methoden. In seiner Arbeit konzentrierte sich Braun auf die „Beheimatung“ und die Rolle von Wiederaneignung und Selbstbehauptung in den Heimatstädten der Überlebenden. Im Mittelpunkt stand dabei das spätere Bundesland Nordrhein-Westfalen. Er verfolgte den Anspruch, soziokulturelle Praktiken wie der Bau von Synagogen, Gemeindefeste, die Gedenkkultur, Jugenderziehung und interkulturelle Dialoge zu analysieren, um zu verstehen, wie Heimat konstruiert und erlebt wurde. Damit möchte der Referent ein umfassendes Bild des jüdischen Neubeginns in Nordrhein-Westfalen nach 1945 zeichnen. Eine anschließende Fragerunde führte zur Annahme, dass Religion nicht zuletzt durch sowohl rationale als auch theologische Motive und durch den Bezug zur Gemeinde als Heimat fungiere. Im Kontext einer Suchbewegung wurde der Heimatlosigkeit ebenfalls eine zentrale Rolle zugeschrieben. Braun betonte die Signifikanz einer Untersuchung von Verlusterfahrungen, die auch in eine Selbstermächtigung übersetzt werden können. Gleichzeitig machte er den Punkt, dass der Heimatbegriff in den jüdischen Gemeinden eher selten und meist in emotional aufgeladenen Kontexten thematisiert wurde. Als Analysebegriff griff er auf den Beheimatungsbegriff zurück, um die prozesshafte Aneignung zu verdeutlichen.
Zuletzt stellte KATHARINA HUGO (Münster) ihr Projekt vor, in dem sie die Entwicklung und Bedeutung des Westfälischen Heimatbundes (WHB) herausstellte. Dabei ging sie davon aus, dass es sich beim WHB um eine Bewegungsorganisation handelte, die als Verbindung zwischen der Heimatbewegung und der Gesellschaft agierte und individuelle Unzufriedenheit in gesellschaftliches Engagement transformiert habe. Sie hob hervor, dass Heimat in diesem Sinne ein dynamisches und kein statisches Konzept sei, das durch kollektive Aushandlungsprozesse geschaffen werde. Ihr langer Untersuchungszeitraum – der WHB verzeichnet inzwischen mehr als eine hundertjährige Geschichte – ermögliche es ihr, Heimat nicht nur in ihren Hochphasen, sondern auch in Zeiten zu erforschen, in denen sie in vermeintlicher Bedeutungslosigkeit verschwand. Denn trotz eines gegenwärtigen ‚Heimatbooms‘ zeichnet sich ein bundesweiter Trend ab, der eine Krise der Heimatvereine konstatiert, die sich etwa in schwindenden Mitgliederzahlen zeige. Daher ziele das Projekt der Referentin darauf ab, die Faktoren zu identifizieren, die für das Bestehen und die Entwicklung des WHB verantwortlich sind.
In einem Abschlusskommentar stellte JULIA PAULUS (Münster) heraus, dass es bei dem Workshop weniger um die Bedeutung des Heimatbegriffs, sondern vielmehr um die Gründe ging, wieso dieser Diskurs weiterhin geführt wird und wie Heimatpraktiken und ihre Aneignung exemplarisch aussehen können. Sie hob hervor, wie Heimat als Instrument der politischen, sozialen und kulturellen Platzierung genutzt wird. Deutlich wurde bei den Werkstattgesprächen auch, das betonte Julia Paulus, wie ubiquitär die Suche nach und das (Wieder-)Finden von Beheimatung ist.
Insgesamt vermittelten die Werkstattgespräche drei wesentliche Aspekte. Zum einen erscheint ein Umkämpfen des Heimatbegriffs bis heute eine Konjunktur zu haben, die nicht im Entferntesten abgeschlossen ist. Daher wird sie auch künftig noch weitere Forschungsarbeiten und Fragestellungen aufwerfen, die freilich auch die Qualität für interdisziplinäres Arbeiten aufweisen. Auf Begriffsfragen, Definitionen und ein Ausweiten auf andere Regionen und Heimatvereinigungen konnte auch nur ein Ausblick gegeben werden und eröffnete demnach neue Perspektiven und Dimensionen für weitere Workshops und Tagungen. Letztlich bieten diese Werkstattgespräche unzweifelhaft Forschenden die Gelegenheit, sich in einem kleinen Kreis über ihre Projektvorhaben auszutauschen. Dies trägt nicht nur zur Konkretisierung von Forschungsfragen bei, sondern fördert auch einen intensiven Austausch von Arbeitsmethoden und -praktiken.
Konferenzübersicht:
Katharina Hugo (Münster): Einführung
Panel 1
Malte Thießen (Münster): Moderation
Anna Strommenger (Bielefeld): Heimat jenseits des Etablierten erforschen. Zur Analyse sozialistischer Heimat-Konzepte im Spannungsfeld von Spezifika und Schnittmengen
Johannes Schütz (Dresden): Die Praxishistorische Analyse von heterogenen Heimatpraktiken. Überlegungen und Befunde
Panel 2:
Matthias Freese (Münster): Moderation
Sebastian Braun (Wuppertal): Jüdische Heimat(en) an Rhein und Ruhr nach 1945? Heimatpraktiken und -gefühle methodisch und quellenkritisch konturieren
Katharina Hugo (Münster): Heimat organisieren? Zugänge zur historischen Untersuchung des Westfälischen Heimatbundes
Julia Paulus (Münster): Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
1 Hugo, Katharina: Der Westfälische Heimatbund im 20. und 21. Jahrhundert. Heimatmachen im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1915 und 2025, in: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, https://www.lwl-regionalgeschichte.de/de/forschung/laufende-projekte/der-westfalische-heimatbund-im-20-und-21-jahrhundert/ (01. Juli 2024).
2 Strommenger, Anna: Zwischen Herkunft und Zukunft. „Heimat“ in der Sozialdemokratie vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, Göttingen 2023.