Begegnungen in/mit der Fremde: Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Indigene Bevölkerung im Blick frühneuzeitlicher Reisender

Begegnungen in/mit der Fremde: Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Indigene Bevölkerung im Blick frühneuzeitlicher Reisender

Organisatoren
Deutsch-Französische Hochschule (DFH); Zentrum für Historische Reiseforschung (ZHRF); Université Paul-Valéry-Montpellier-III; Universität Vechta; Centre Georg Simmel EHESS/CNRS
Ort
Paris
Land
France
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.11.2023 - 18.11.2023
Von
Burghart Schmidt, Geschichte, Universität Vechta

Unterstützt durch die Deutsch-Französische Hochschule (DFH), die sich in vielfacher Hinsicht für die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich im Hochschulbereich einsetzt und dabei binationale Aktivitäten bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses fördert, organisierten das Zentrum für Historische Reiseforschung (ZHRF), die Universitäten Paul Valéry Montpellier 3 und Vechta sowie das Centre Georg Simmel EHESS/CNRS in Paris vom 16.-18. November 2023 in der Seinemetropole einen interdisziplinären Austausch zu Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung in frühneuzeitlichen Reiseberichten und anderen historischen Überlieferungen. Zwei Tage intensiven wissenschaftlichen Austausches in deutscher und französischer Sprache führten methodisch, thematisch und geographisch in unterschiedliche Regionen frühneuzeitlicher Lebenswelten.

Den Auftakt machte THIERRY ALLAIN (Montpellier) mit einem Beitrag zu Handelsbeziehungen an mediterranen Handelshäfen im 18. Jahrhundert. In der Region Sète untersuchte er anhand juristischer Quellen die komplexen Haltungen und Wahrnehmungskategorien, die durch den Kontakt zwischen Schiffskapitänen, Frachtunternehmern und weiteren Hafenarbeitern entstanden. Die herangezogenen Quellen, die naturgemäß verschiedene Rechtsstreitigkeiten schriftlich dokumentieren, gewähren dabei auch Einblick in die unterschiedlichen nord- und südeuropäischen kulturellen Gepflogenheiten, die von den Parteien jeweils vorgetragen werden. Abweichende Erwartungshaltungen und sprachliche Missverständnisse, die durch jene Begegnungen katalysiert werden, lösen ein großes Konfliktpotenzial aus.

EVANGELOS KOPANAKIS (Paris/Kreta) blickte in seiner Untersuchung auf die Thematik der katholisch-orthodoxen Mischehen in der zweiten Hälfte des 17. und im beginnenden 18. Jahrhundert im Ägäischen Meer. Durch den florierenden Handel mit Europa und der katholischen Missionierung der ägäischen Gesellschaft, entstand ein multikultureller als auch multikonfessioneller Kontext, der eine soziale Abgrenzung wohl notwendig erscheinen ließ. Mischehen stellten dabei eine Herausforderung für die soziale und juristische Wahrnehmung dar, wie es in Missionarsberichten und anderen kirchlichen Dokumenten zum Ausdruck kommt.

Über die frühe Neuzeit hinaus, blickte JUSTINE COUSIN (Caen) auf die Wahrnehmung und sozio-politische Stellung und Rolle indischer Matrosen auf englischen Dampfschiffen des 19. Jahrhunderts. An Bord der Schiffe zeigte sich die Segregation der ‘nicht-weißen’ - insbesondere der indischen - Seeleute, den sogenannten Laskaren, durch verschiedene Aspekte, darunter die Unterbringung und Verpflegung. Unter dem Vorwand, sich an kulturelle und religiöse Vorgaben anzupassen, fielen die ausgehändigten Lebensmittelrationen, so Cousin, für die indischen Seeleute allgemein schlechter aus. Ernährung und Verpflegungsfragen wurden somit zum Vektor sozialer Hierarchisierung. Die von den Laskaren zahlreich eingereichten Beschwerdebriefen bieten einen direkten Einblick in ihre Perspektive.

Die Thematik der Ernährung wurde unter anderer Prämisse auch von OLGA TRUFANOVA (Regensburg) aufgegriffen in ihrer Auseinandersetzung mit der Darstellung der Essgewohnheiten indigener Bevölkerungsgruppen Sibiriens in der europäischen Reiseliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts. Trufanova betonte, wie beim kulturellen Aufeinandertreffen die Praktik des Essens - Nahrungsauswahl, Zubereitung und Verzehr – zu einem Indikator des ‘Andersseins’ und des dazugehörigen (tieferen) Entwicklungsstandes der bereisten Gesellschaft. So diente das Narrativ des “barbarischen” Essens als Grundlage und Rechtfertigung für diverse koloniale Projekte wie die Sesshaftmachung oder Entwicklung rassischer Theorien.

Mit der Erkundung der nördlichen Hemisphäre beschäftigte sich MARIT KLEINMANNS (Bonn) anhand von monografischen Beschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts der Nordkalotte. In der Untersuchung ausgewählter Autoren, hauptsächlich Wissenschaftler und Entdecker, wurden die jeweiligen unterschiedlichen Ansätze der Wissensverarbeitung und -darstellung wie auch Mechanismen der Fremdbeschreibung analysiert. Am Beispiel des ersten französischen Berichts über die Arktis von Pierre Martin de la Martinière (1671) zeigt Kleinmanns beispielsweise auf, wie das Bild der Sámi als Zauberer und Nekromanten herausgearbeitet wird und wie solche Beschreibungen rezipiert werden.

Ebenfalls mit Darstellungen der Sámi und des Sápmi im 16. und 17. Jahrhundert befasste sich aus raumhistorischer Perspektive SIMON FRANZEN (Tromsø). In seinem Beitrag legte er dar, wie der Prozess des Othering auch durch die Verwendung bestimmter Symbolik auf den Karten konstruiert wird. So stehen Zelte für samische Orte, die in späteren Karten durch Piktogramme ersetzt werden, während ansonsten Kirchtürme zur Darstellung von Ortschaften verwendet werden. Darüber hinaus kann aus der Kenntnis über regionale Gegebenheiten ein Herrschaftsanspruch entstehen. Franzen schlug hier den Bogen zu zeitgenössischen Karten von samischen Künstlern, in denen Praktiken des counter mapping zum Ausdruck kommen und dabei Zentrum und Peripherie neu definiert werden.

Visuelle Aspekte beleuchtete ferner TATIANA TERESHCHENKO (Moskau) in einem Beitrag über die Darstellung der Bewohner:innen der Neuen Welt in der europäischen Kunst des 16. Jahrhunderts. Hierbei griff sie auf eine breite Materialbasis bestehend aus Gemälden, Kupferstichen und Buchillustrationen zurück. Sie zeigte auf, dass lediglich wenige Charakteristika wie Nacktheit oder Kannibalismus in stereotyper Weise - dafür aber vielfach - dargestellt werden. Dabei wurden vermittelte Ideen der Neuen Welt mit Darstellungen aus europäischen Alltagswelten verknüpft.

Auf visualisierte Begegnungen konzentrierte sich auch CHRISTINE LORENZ-LOSSIN (Vechta), indem sie Frontispize und Titelkupfer frühneuzeitlicher Reisebeschreibungen analysierte, die beispielhaft konkrete Begegnungen von Reisenden und Bereisten zeigen. Dabei konnten nicht nur sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte wandelnde Bildüberlieferungen nachvollzogen werden. Vielmehr zeigte sich, dass die Bildtitel als visuelle Quellen mit eigener, oft vom Text unabhängiger Aussagekraft zu betrachten sind.

Zu den aufschlussreichen frühneuzeitlichen Quellen zum jüdischen Leben in den Ländern des östlichen Mittelmeerraumes gehört auch der von PETER BOHNERT (Vechta) vorgestellte Reisebericht des Meshullam da Volterra, der 1481 eine Geschäfts- und wohl auch Pilgerreise nach Palästina unternahm und sich dabei u.a. mit der gesellschaftlichen Integration und den verschiedenen religiösen Praktiken der einzelnen jüdischen Gemeinden beschäftigte, die er auf seiner Reise antraf. Auffallend ist hierbei die hybride Fremdwahrnehmung des Reisenden, die je nach Kontext und Vergleichsgruppe changiert. Eine strenge dichotomische Trennung in Fremdes und Bekanntes wird nicht vorgenommen.

ERWIN TURPAULT (Montpellier) führte anschließend in eine Reise nach Persien und Indien ein, die mehr als anderthalb Jahrhunderte später von François de La Boullaye Le Gouz unternommen wurde. Ein in Rom überliefertes Manuskript bot nicht nur interessante Einblicke in die Gründe für die Reise und deren Bedingungen, sondern gab auch Aufschluss über Reisen in Staatsdiensten, wobei die Verbindung ökonomischer und politischer Interessen Frankreichs mit einem anthropologisch-sozialnaturalistischen Diskurs, der sich bei La Boullaye immer wieder findet, bemerkenswert ist. Des Weiteren lassen sich im Reisebericht auch Betrachtungen über den Einfluss des Klimas auf Körper und Geist aus der Sicht des „laizistischen Missionars“ finden.

MESSAN TOSSA (Lomé) widmete sich in seinem Beitrag der "Erschaffung des Schwarzen" in der frühneuzeitlichen Reiseliteratur. Er untersuchte die überwiegend negative Darstellung des Schwarzen in europäischen Reiseberichten und wie diese Konstruktion sich in der Mentalitätsgeschichte etablierte. In einer chronologischen Darstellung vom Frühmittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, beleuchtete er das sich wandelnde europäische Bild von schwarzen Menschen kritisch. Tossa stellte positiv besetzte Bilder wie jene der schwarzen Madonnen denen der abwertenden Darstellungen von afrikanischen Sklaven auf Plantagen gegenüber.

Die letzten beiden Beiträge der zweitätigen Veranstaltung führten uns in die Karibik und den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents. ESPERANZA ANIDO CALVO (Vechta) befasste sich unter der Prämisse der Selbst- und Fremdwahrnehmung mit der ersten umfänglichen historischen und historiografischen Beschreibungen Puerto Ricos durch einen Benediktiner aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert. In ihrer Untersuchung begriff sie die ‚Historie‘ Puerto Ricos als Verflechtungsgeschichte, in der die wechselnden Akteurskonstellationen klar definierte Fremd- und Eigenkategorisierungen erschweren. Somit wird nicht nur die dichotome Beziehung zwischen der spanischen Kolonialmacht und dem puerto-ricanischen Kolonialsubjekt in seiner Über- bzw. Unterordnung unterminiert, sondern auch Spielraum für unterschiedliche Formen der agency zugelassen.

LIONEL MIRA (Lüttich) analysierte abschließend eine historische Quelle aus der Feder eines jesuitischen Missionars des 17. Jahrhunderts aus Paraguay in lateinischer Sprache. Gemeinsam mit seinem Kollegen THOMAS BRIGNON (Toulouse) hat er diese Quelle um eine Handschrift auf Guaraní ergänzen können, die in ihrem gleichnamigen Titel Bezug auf das Werk des Missionars nimmt. Die ‚indigene‘ Quelle bietet als Kontrast hauptsächlich eine Interpretation der jesuitischen Missionierungsarbeit und der Darstellung der eigenen Sichtweise und historischen Vergangenheit.

Dieses letzte Beispiel unterstrich, ähnlich wie die vorhergehenden auch, auf besonders eindrückliche Weise wie sehr sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen in frühneuzeitlichen Quellen unterscheiden und wie viele unterschiedliche Interpretationsansätze die frühneuzeitliche Reiseliteratur für das Verständnis vergangener Welten und Gesellschaften bietet. Darüber hinaus verwies diese gelungene deutsch-französische Veranstaltung junger Nachwuchswissenschaftler:innen auf den Mehrwert methodischer Vielfalt und interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Analyse einer Quellengattung, die letztlich von der Antike bis in die Gegenwart hinein nicht nur Aufschluss über fremde Welten und Bevölkerungsgruppen ermöglicht, sondern gleichzeitig auch Einblicke in sozial und kulturell gebundene Vorstellungen derjenigen Personen, die sich der Reiseberichterstattung widmen. Auch aus diesem Grund befasst sich das Zentrum für Historische Reiseforschung (ZHRF), auf dessen Initiative diese Tagung zurückging, vor allem aus geschichtlicher Perspektive mit einer Gattung, die in der Forschung bislang vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive im Mittelpunkt der Betrachtungen stand und zukünftig vermehrt als historische Quelle genutzt werden soll.

Konferenzübersicht:

Thierry Allain (Montpellier): ‘Mauvais procédés’ vs ‘prétendus dommages’. Les capitaines hollandais en conflit avec les acteurs portuaires à Sète au XVIIIe siècle

Evangelos Kopanakis (Paris): Fluides ou incompréhensibles? La perception européenne des frontières confessionnelles en mer Égée (1669-1720)

Justine Cousin (Caen): La perception des marins indiens à bord des navires britanniques au XIXe siècle: la question de l’alimentation

Peter Bohnert (Vechta): Von der Toskana in den Orient: Der Reisebericht des jüdischen Kaufmanns Meshullam da Volterra (1481)

Erwin Turpault (Montpellier): Elan initiatique et quête de vérité: le Larvatus prodeo du gentilhomme angevin François de La Boullaye Le Gouz en Inde (1648-1649)

Messan Tossa (Lomé): Die Erschaffung des „Schwarzen“ aus dem Geist der frühneuzeitlichen Reiseliteratur

Marit Kleinmanns (Bonn): Die Erkundung des Nordens – die Annäherung und Wahrnehmung der Nordkalotte und seiner Bewohner in den monographischen Beschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts

Olga Trufanova (Regensburg): Jenseits des Anderssein: Essen und indigene Völker Sibiriens in der europäischen Reiseliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts

Simon Franzen (Tromsø): Mehr als Rentiere, Zelte und Peripherie – Darstellungen der Sámi und des Sápmi auf Karten zwischen externer Zuschreibung und indigener Ausdrucksform

Christine Lorenz-Lossin (Vechta): Auf den ersten Blick. Visualisierte Begegnungen von Reisenden und Bereisten

Tatiana Tereshchenko (Moskau): Die Bilder der Bewohner der Neuen Welt in der Europäischen Kunst des 16. Jahrhunderts (online)

Esperanza Anido Calvo (Vechta): Das Fremde und das Eigene - (Verflechtungs)geschichte von Puerto Rico um 1788

Thomas Brignon (Toulouse) / Lionel Mira (Liège): De la plume jésuite à la lecture Guaraní

Besuch Musée du Quai Branly