In einer funktionierenden Demokratie spielt in Bezug auf digitale Unterlagen die Datensouveränität eine zentrale Rolle. Dies erfordert Transparenz in der Dokumentation, insbesondere wenn in die Struktur von Daten eingegriffen wird. Diese Feststellung von Lutz Raphael im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75-jährigen Jubiläum der Archivschule Marburg griff IRMGARD CHRISTA BECKER (Marburg) in ihrer Begrüßung zum 28. Archivwissenschaftlichen Kolloquium auf.
Zu Beginn seiner Keynote verwies CHRISTIAN KEITEL (Stuttgart) auf das Begriffspaar vom Einfrieren und Auftauen, das auf die Archivierung bzw. Nutzung und Weiterverarbeitung von digitalen Archivalien abzielt. Ein grundsätzliches Dilemma digitaler Archivierung liege in den damit einhergehenden unvermeidlichen strukturellen Eingriffen, während inhaltliche Veränderungen grundsätzlich unerwünscht seien. Um sich der dreifachen Zielsetzung von inhaltlicher Stabilität, Reproduzierbarkeit und Verstehbarkeit anzunähern, unterschied Keitel im Gegensatz zu den bisherigen Begrifflichkeiten zwischen den Ebenen Einzelinformation, Dokument und Container. In der sich anschließenden Diskussion unterstrich Keitel nachdrücklich, dass er mit den vorgestellten Kategorien ein Angebot liefern wolle, um archivübergreifend über die Herausforderungen der digitalen Bestandserhaltung ins Gespräch zu kommen. Die hierfür entwickelten Begriffe beschrieben keine feststehenden Eigenschaften, sondern dienten vielmehr dazu, in bestimmten Situationen Einzelbestandteile und deren Rolle im Archivierungsprozess benennen zu können.
Die erste Sektion zielte auf eine Archivalienkunde des Digitalen. MARIA VON LOEWENICH (Berlin) wandte sich dem Bedeutungsverlust der klassischen Aktenführung und dessen Konsequenzen für die archivarische Praxis zu. Neue Arbeitsweisen führten dazu, dass die Akte ihre bisherige Rolle als zentrales Arbeitsmittel und Informationsmedium einbüße und die lange Zeit vorherrschende Einheit von Arbeitsprozess und Dokumentation verloren ginge. Um weiterhin die Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns gewährleisten zu können, müssten E-Mails, Fachverfahren oder Dateiablagen verstärkt in den Blick genommen und als gleichwertige Quellengattungen anerkannt werden. Mit dem Auslaufen des Zeitalters der Akten gewinne die archivische Vorfeldarbeit ebenso an Bedeutung wie ein grundsätzliches Überdenken von Bewertungsmethoden.
MARIA BENAUER (Dornbirn) stellte Überlegungen zur E-Mail als Archivaliengattung an. Den Zugang dazu wählte sie über einen Ansatz von Jane Zhang, E-Mails als Korrespondenz zu verstehen. Daraus entwickelte sie die Idee, E-Mails als Abschluss einer Entwicklung zu sehen und mit der dreifachen Interpretation von E-Mails als Nachrichten, als Korrespondenz und als System zu arbeiten. Um dann zu einer neuen Akten- bzw. Quellenkunde der E-Mail zu kommen, müsse diese Interpretation mit archivwissenschaftlichen Kriterien von Provenienz übereingebracht werden. In der Praxis sei, dem archival turn folgend, bei der E-Mail der akteurs- und personenzentrierte Ansatz ein integraler Teil des Archivierungsprozesses. Dem wurde in der Diskussion beigepflichtet, da die Nutzungsart des Tools E-Mail entscheidenden Einfluss auf den Informationsgehalt hat. Gleichzeitig wurde bezüglich der Informationsdichte besonders hervorgehoben, dass E-Mails auch oftmals eine Fragmentierung von Informationen bedeuteten.
KARIN WINTER (Wien) gab einen Einblick in die bereits seit 20 Jahren im Magistrat der Stadt Wien laufende elektronische Aktenführung. Seit 2012 wurde diese in drei Programmen, Gemma 1–3 (Gemeinsame Elektronische Aktenführung), vorangetrieben: Nun steht die Aussonderung und damit die digitale Archivierung an, die eine intensive Beratung der Behörden und der Beteiligten verlange. Die 20-jährige Erfahrung zeige, dass die aktenkundliche Kompetenz in den Behörden gestärkt werden müsse und dadurch die Behördenberatung wichtig bleibe. Dabei erhöhe der Abgleich der vorhandenen mit den Soll-Daten des ASP (Akten- und Skartierungsplans) den Effekt der Beratungsgespräche und mache die notwendigen Vorarbeiten der Übernahme abschätzbar.
Die zweite Sektion stellte Herausforderungen und Erfahrungen der Überlieferung von eAkten und Fachverfahren anhand von Fallbeispielen aus der Praxis dar. Im Niedersächsischen Landesarchiv habe es sich als vorteilhaft erwiesen, die digitale Bestandserhaltung bereits in der Übernahme als zentralen Bestandteil des Workflows einzuplanen. Wie ANTJE LENGNIK (Hannover) berichtete, bedeutet dies insbesondere eine Validierung bzw. Qualitätskontrolle der abgegebenen Dateien. Dazu nannte sie eine Reihe an Maßnahmen: Der Vorteil der Datei-Validierung bereits bei der Übernahme liege darin, defekte Dateien frühzeitig zu identifizieren und das Risiko von Informationsverlusten zu minimieren. Ein Überblick über genutzte Dateiformate, deren Besonderheiten und benötigte Software stelle außerdem die Benutzbarkeit im Lesesaal sicher und erleichtere die Behördenberatung. Die Übernahme sollte als Teil der digitalen Bestandserhaltung grundsätzlich eine Hashwertprüfung, einen Virenscan sowie Back-ups beinhalten. Um von den Erfahrungen langfristig zu profitieren, sollten Vorgehensweisen insbesondere zu seltenen Dateiformaten dokumentiert werden.
Neben der Bestandserhaltung sollten bei der Übernahme auch die Nutzungsmöglichkeiten maßgeblich sein. Dies legten ANNETTE BIRKENHOLZ (Nürnberg) und MARIA LIEBICH (Nürnberg) am Beispiel von GEWIS (Nürnberger elektronisches Gewerberegister) dar, das von 1996 bis 2004 genutzt wurde. Die als Zwischenschritt übernommenen Ausdrucke entsprachen den durch das System erstellten Bescheinigungen, auf denen digital vorhandene Informationen für die Bearbeiter:innen jedoch fehlten. Digital zu übernehmen war eine Oracle-Datenbank sowie eine Java-Anwendung. Für die Erstellung der Nutzungsrepräsentation konvertierten sie die Tabellen der Datenbank in CSV-Dateien und analysierten diese auf ihre Informationsstrukturen und die sich daraus bildenden Ansichten hin. Das frühe Testen potenzieller AIP-Dateien ermöglichte die Identifizierung stornierter Datensätze in den Ausgangsdateien.
Die Möglichkeiten bei digitalen Übernahmen hängen maßgeblich von der Funktion der eAkte für die einzelnen Behörden ab. Wie FRANZISKA KLEIN (Duisburg) beschrieb, legte Nordrhein-Westfalen bei der Konzeption der eAkte für die Landesverwaltung einen Schwerpunkt auf die Langzeitdokumentation. Das seit 2017 verfügbare System ist darauf ausgelegt, technischen Informationsverlust zu minimieren. Zu diesem Zweck ist unter anderem die Zahl der möglichen Dateiformate stark begrenzt. Die Praxis zeige aber, so Klein, dass eine ebenso große Gefahr des Informationsverlustes von einer mangelnden Akzeptanz der eAkte ausgehe. In der Verwaltung bestehe der Wunsch nach einem offeneren System, dessen Schwerpunkt auf der Funktionalität liege. Dieses Ziel solle durch die Öffnung für weitere Dateiformate und die Einbindung ausgewählter Fachverfahren erreicht werden.
Fachverfahren nehmen unter den neuen, digitalen Archivaliengattungen zweifellos eine prominente Rolle ein. Im Rahmen seines Vortrags führte JAN LUDWIG (Koblenz) die wesentlichen Herausforderungen vor Augen, vor denen die Häuser in Bezug auf die eAkte als Fachverfahren derzeitig stehen und die ihre Ressourcen beanspruchen: Nutzer:innen würden die eAkte weniger vor Ort, sondern mehr zu Hause einsehen wollen. Dennoch bleibe eine Bewertung nach wie vor unerlässlich, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen.
NIKLAS ALT (Marburg) charakterisierte Geodaten auf der einen Seite als herausfordernde Quellengattung in ihrer Umwandlung in archivfähige Formate, auf der anderen Seite allerdings als gehaltvolle, vielgestaltige Quelle für Heimatforscher:innen, Historiker:innen und Digital-Humanities-Spezialist:innen, aber auch für die abgebenden Verwaltungen selbst.
Die dritte Sektion konzentrierte sich auf die Herausforderungen audiovisueller Medien. ANNE PFEUFFER (Braunschweig) warf Schlaglichter auf den Umgang mit Filmen, Tönen und Fotos beim Pre-Ingest und Ingest in das digitale Langzeitarchiv. Sie stellte verschiedene limitierende Faktoren vor, wie z.B. die Dateigröße, Ordnerstrukturen und Dateinamen, aber auch die verwendete Archivsoftware und deren zugrundeliegende Hardware. Wesentlich für das Gelingen einer medialen Überlieferungsbildung sei zudem, sich bereits im Vorfeld darum zu bemühen, dass Dateien in archivfähigen Formaten angelegt werden. Eine Automatisierung einiger Prozesse wie die Durchführung des Ingests oder das Mapping der Metadaten sei zukünftig wünschenswert.
MARKUS STAUFFIGER (Basel) präsentierte anhand der Tiefenerschließungssoftware Archipanion, wie künstliche Intelligenz (KI) zur automatisierten Erschließung von Filmen und Fotos in Archiven genutzt werden kann, um Arbeitszeit zu sparen und das Archivgut schneller zugänglich zu machen. Gleichzeitig betonte er, dass die KI zwar die Fleißarbeit zu erledigen vermag, für die Qualitätsarbeit aber weiterhin Archivar:innen notwendig seien. Offen blieb die Frage, wie sich der Verzicht auf Metadaten auf die wissenschaftlichen Auswertungsmöglichkeiten der präsentierten Objekte auswirkt.
Die vierte Sektion wagte erste Überlegungen für den Umgang mit neuartigen Daten, die zur Zeit in öffentlichen Verwaltungen entstehen. ESTHER-JULIA HOWELL (München) zeigte praktische Perspektiven auf die Archivierung von E-Mails und die Anforderungen an ein solches Tool auf. Anschließend stellte sie die Open-Source-Anwendung ePADD (E-Mail Processing, Appraisal, Discovery, Delivery and Presentation) mit ihren Möglichkeiten und Herausforderung als All-In-One-Lösung vor. Eine besondere Herausforderung bei der Bewertung von E-Mails sei, so Howell, dass E-Mail-Konten nicht nur für berufliche, sondern auch für private Belange und nebenberufliche Tätigkeiten genutzt werden. Dieser Umstand sei bei der Bewertung zu berücksichtigen.
ISABELL SCHÖNECKER (Hannover) präsentierte die teilautomatisierte Erschließung von Gesundheitsdaten mithilfe eines vom Niedersächsischen Landesarchiv entwickelten Python-Skripts. Durch das maschinelle Auslesen von Erschließungsdaten und deren automatisierte Übernahme in das archivische Fachinformationssystem würden arbeitserleichternde Prozesse möglich, die individuell und mit wenig Aufwand an unterschiedliche Unterlagentypen angepasst werden könnten. Schönecker stellte zudem die Frage der zukünftigen Weiterentwicklung für die Tiefenerschließung durch OCR-Texterkennung, automatische Transkripterstellung oder KI in den Raum.
ANNE HERFURTH (Berlin) stellte zunächst die Definition, den Mehrwert, den rechtlichen Rahmen und den Prozess von Open Government Data vor. FELIX LANGE (Koblenz) widmete sich anschließend der Frage, ob durch Open Government Data erzeugte Transparenz durch Archive dauerhaft aufrechterhalten werden kann und arbeitete die Möglichkeiten und Herausforderung einer Übernahme solcher Daten heraus. Diese sei zwar wünschenswert, jedoch bleibe fraglich, wie sich die Tatsache, dass die Daten auch über Open-Government-Data-Plattformen zugänglich sind, auf ihre Archivierung auswirke.
In der Abschlussdiskussion wurde der Versuch unternommen, den aktuellen Stand der archivfachlichen Debatte über den Umgang mit digital born data in Archiv und Verwaltung zu verorten. Christian Keitel zeigte sich einerseits erfreut darüber, dass das Archivwesen bereits theoretische sowie praktische Antworten auf die Herausforderungen der Informationsgesellschaft gefunden habe. Andererseits mahnte er an, dass sich noch immer keine Terminologie des elektronischen Archivwesens herausgebildet habe. Begriffliche Unschärfen stellen jedoch eine große Gefahr dar, weil sie die wahre Komplexität neuer Formen der Speicherung und des Austauschs von Informationen kaschieren. Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass noch zu selten zwischen dem normativ ausgerichteten Auftrag, Behörden bei der Erstellung einer revisionssicheren Aktenführung zu beraten (Records Management) und der empirischen Perspektive auf die disparaten Informationsobjekte, die die Behörden Jahrzehnte später den Archiven anbieten, unterschieden werde. Sich auf neue Medien und Dokumentationsformen einzustellen und daraus eine konsistente Überlieferung zu bilden, sahen auch Jan Ludwig und Franziska Klein als zentrale Herausforderung an. Bestehe die Absicht, die Akte als Form einer revisionssicheren Dokumentation von Verwaltungshandeln in das digitale Zeitalter mitzunehmen, müsse man sich, so Maria von Loewenich abschließend, viel stärker um deren Integration in die neu aufkommenden Arbeitsabläufe bemühen. Denn nie zuvor habe die Akte weiter außerhalb der tatsächlichen Geschäftsprozesse gestanden als heute.
Das 28. Archivwissenschaftliche Kolloquium verdeutlicht erneut das Bedürfnis der Archivar:innen nach einer stärker deduktiv ausgerichteten Archivwissenschaft, obgleich im Berufsalltag meist nur ein induktives Erforschen dessen, was insbesondere während des Archivierens digitaler Daten geschieht, möglich ist. Dies muss nicht zwingend ein Defizit darstellen, bleibt die Optimierung und Reflexion des eigenen Handelns im Blick. Angesichts neuer, digitaler Archivaliengattungen überwiegt zur Zeit die methodisch geleitete Reflexion praktischer Herausforderungen. Die Entwicklung umfassender archivtheoretischer Grundlagen tritt in den Hintergrund. Dieser Schwerpunkt muss keinen Nachteil bedeuten, sondern ermöglicht, auf die Schnelllebigkeit in diesem Bereich reagieren zu können.
Konferenzübersicht:
Eröffnung
Irmgard Christa Becker (Marburg): Begrüßung
Keynote
Christian Keitel (Stuttgart): Strukturierung der Einzelinformationen. Einige Überlegungen zu digitalen Archivaliengattungen und -einheiten
Sektion 1: Grundsätzliches zur Digitalen Archivalienkunde
Moderation: Irmgard Christa Becker (Marburg)
Maria von Loewenich (Koblenz): Quod non est in actis, non est in mundo – oder: Warum die klassische Aktenführung an Bedeutung verliert und welche Konsequenzen das für die archivische Arbeit hat
Maria Benauer (Dornbirn): Out of the box und mitten hinein in die digitale Un-ordnung! Internationale archivwissenschaftliche Perspektiven zu einer E-Mail-Archivalienkunde
Karin Winter (Wien): 20 Jahre elektronische Aktenführung im Magistrat der Stadt Wien – ein Erfahrungsbericht
Sektion 2a: eAkte und Fachverfahren in der Praxis
Moderation: Dominik Haffer (Marburg)
Antje Lengnik (Hannover): „Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen“ – Preservation Planning als Bestandteil des Pre-Ingest
Annette Birkenholz (Nürnberg) / Maria Liebich (Nürnberg): Access vor Ingest – Nutzung und Qualitätssicherung als Aspekte der Übernahme von Daten aus einem Gewerberegister
Franziska Klein (Duisburg): Vom Arbeitsmittel zur Dokumentation und zurück? Entwicklung und Überlieferung der E-Verwaltungsakte in NRW
Sektion 2b: Fachverfahren
Moderation: Karsten Uhde (Marburg)
Jan Ludwig (Koblenz): Zurück und in die Zukunft?! Überlieferung von E-Akten zwischen elektrifizierten analogen Akten und digitalen Entwicklungen
Niklas Alt (Marburg): Geodaten für die Zukunft sichern. Grundlagen, Anforderungen, Perspektiven
Sektion 3: Fotos, Filme, Videos und Töne
Moderation: Florian Lehrmann (Marburg)
Anne Pfeuffer (Braunschweig): No Limits? Die Archivierung digitaler Filme, Töne und Fotos in einem Kommunalarchiv – ein Werkstattbericht
Markus Stauffiger (Basel): Navigieren in der digitalen Flut: Einsatz von KI in multimedialen Archiven
Sektion 4: Andere digitale Formate
Moderation: Robert Meier (Marburg)
Esther-Julia Howell (München): Eine eierlegende Wollmilchsau? Annäherung an die Bewertung, Erschließung und Zugänglichmachung von E-Mail-Konten mit Hilfe von ePADD
Isabell Schönecker (Hannover): Teilautomatisierte Erschließung von digitalen Daten mittels Python-Skript
Anne Herfurth (Berlin) / und Felix Lange (Koblenz): Transparenz bewahren: Open Government Data im Bundesarchiv
Abschlussdiskussion