„Ein weites Feld – Neue Perspektiven auf die Aufarbeitung von Diktaturen in Deutschland und in Europa“ war der Slogan der diesjährigen Geschichtsmesse der Bundesstiftung Aufarbeitung. Neue Perspektiven zeigten auch die Stipendiat:innen der Stiftung auf, die traditionell im Rahmen der Geschichtsmesse zum Kolloquium zusammenkommen, um die (Zwischen-)Ergebnisse ihrer Promotionsprojekte aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu präsentieren und über inhaltliche und konzeptionelle Aspekte zu diskutieren. Das Spektrum reicht von historischen und juristischen Vorhaben bis hin zu film-, kultur-, literatur- sowie medienwissenschaftlichen Arbeiten. Die Projekte eint, dass die Geschichte der kommunistischen Diktatur in der DDR, die deutsche und europäische Teilungsgeschichte sowie die Transformationsgeschichte im Mittelpunkt stehen. Nicht nur vor dem Hintergrund aktueller multipler Herausforderungen, sondern auch aufgrund der Versuche politischer Akteur:innen, aus der Engführung von Vergangenheitserzählung geschichtspolitisches Kapital zu schlagen, erscheint die offene Debatte im Rahmen der Geschichtsmesse notwendig.
Nach der Begrüßung eröffnete SASCHA OHLENFORST (Aachen) mit der Präsentation seines umweltrechtsgeschichtlichen Themas das Kolloquium. Am Beispiel der Verschmutzung und Sanierung von Werra, Weser und Elbe seit 1968 legte er die multinationale Dimension umweltvölkerrechtlicher Probleme dar. Die maßgeblich durch die DDR verursachte Verschmutzung dieser grenzüberschreitenden Fließgewässer führte unweigerlich zu einem gravierenden deutsch-deutschen Umweltproblem. Ohlenforst fragt, welche Möglichkeiten das Umweltvölkerrecht bei grenzüberschreitender Gewässerverunreinigung zur innen- und außenpolitischen Konfliktsteuerung bot. Für die DDR war die Angelegenheit ein Balanceakt, da sie sich einerseits von erweiterten Umweltschutzmaßnahmen internationale Anerkennung erhoffte, andererseits die wirtschaftlichen Kosten scheute. In der Bundesrepublik herrschte hinsichtlich des Vorgehens Uneinigkeit, was zu handfesten Konflikten zwischen Bund, Ländern und der Kaliindustrie führte, sodass das Umweltvölkerrecht vor allem gegen Ende der 1970er-Jahre zunehmend an Bedeutung für die Festlegung der Verhandlungslinie gegenüber der DDR verlor. Die unterschiedlichen Akteursgruppen sowie Aushandlungsprozesse sind ebenfalls Teil seiner Arbeit. Ohlenforst resümierte, dass es über Jahrzehnte nicht gelungen war, geeignete Lösungsstrategien für den Umweltkonflikt zu entwickeln und erst durch die Abwicklung der DDR-Kaliwerke im Zuge der Wiedervereinigung Fakten geschaffen worden seien, die zwangsläufig eine Verbesserung der Gewässergüte herbeiführten.
„Wie geht eine Gesellschaft mit der eigenen schmutzigen Vergangenheit um?“ fragte THORBEN PIEPER (Bochum), der zu einem umwelt- und transformationsgeschichtlichen Desiderat überleitete. Es geht um Altlasten und deren Sanierung. Im Zentrum steht nicht nur die Genese des dazugehörigen Politikfelds, sondern auch die multiplen semantischen Bedeutungen des Altlastenbegriffs. In die systematisch-chronologische Struktur bezieht Pieper beide deutsche Staaten ein. Er skizzierte zunächst, wie der Begriff 1978 erstmals im ökologischen Kontext in der Bundesrepublik verwendet wurde und damit ein eigenes Politikfeld begründete, welches auf kontaminierte Hinterlassenschaften wilder Deponien und Industriealtanlagen abzielte. Erst Ende der 1980er-Jahre gelangte der Begriff in die DDR, wo die Probleme kontaminierter Standorte zunächst unter anderen Begrifflichkeiten verhandelt wurden. Den Schwerpunkt des Projekts bildet der Umbruchs- und Vereinigungsprozess sowie die unmittelbare Nachwende- und Transformationszeit, in der sich das Feld nach einer Popularisierungs- und Polarisierungsphase schließlich wieder zu einem klassischen interdisziplinären Expert:innenfeld wandelte. Pieper operationalisiert das Thema Altlasten auf vier Zugriffsebenen: politisch-organisatorisch, gesellschaftshistorisch, wissensgeschichtlich sowie begriffsgeschichtlich. Die Grundlage der Untersuchung bildet ein breiter Archivquellenkorpus, der durch 33 Interviews vervollständigt wird.
KRISTINA GUNNE (München) präsentierte im Anschluss ihr Projekt, in dem sie die Geschichte der Suchdienste des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in der DDR und Bundesrepublik aus einer verflechtungsgeschichtlichen Perspektive untersucht. Gunne betonte, dass die Institutionalisierung zweier Roter-Kreuz-Organisationen in Ost und West zwar eine gemeinsame Wertegemeinschaft, insbesondere vor dem Hintergrund der humanitären Herausforderungen, hervorgebracht habe, dennoch könne das Handeln beider Dienste nicht losgelöst von der Politik des Kalten Krieges betrachtet werden. In Anlehnung an die Historikerin Petra Weber1 lässt sich diese Beziehung als Dialektik von Kooperation und Konfrontation sowie von Verflechtung und Abgrenzung verstehen. Im Zentrum der Arbeit stehen Fragen nach gegenseitigen Erwartungshaltungen, Konkurrenzaspekten, gesellschaftlicher Bedeutung ebenso wie Handlungsspielräumen oder Konflikten in der Zusammenarbeit. Hinzu kommt eine internationale Perspektive mit der Einordnung der Suchdienste innerhalb der Gemeinschaft der Rotkreuzgesellschaften. Die Fragestellungen werden am Beispiel des Kindersuchdienstes, der Familienzusammenführungen sowie der Betreuung deutscher Häftlinge in den Gefängnissen der DDR im Zeitraum von 1946 bis 1994 beantwortet. Ein beachtlicher Bestand archivalischer Quellen ermöglicht es, diese drei gesellschaftlich kontroversen Hauptfelder miteinander zu verflechten und Einzelschicksale einzubeziehen.
Politische Häftlinge in der SBZ/DDR spielten auch bei BALTHASAR DUSCH (Leipzig) eine Rolle. Er arbeitet an einer ersten umfassenderen Arbeit zur Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS). Die von ehemals in der SBZ/DDR Inhaftierten in Westberlin gegründete Organisation entwickelte sich in der Bundesrepublik zu einem mitgliederstarken Verein, mit Kontinuitätslinien bis in die Gegenwart. Dusch widmet sich vor allem dem drastischen Mitgliederschwund ab den 1960er-Jahren, der Rolle von Frauen in der Vereinigung sowie dem niedrigen Inhaftierungsalter späterer Mitglieder. Als Hauptquelle dienen ihm die Akten der ehemaligen VOS-Bundesgeschäftsstelle in Bonn, die verschiedenartig ergänzt werden. Einem organisationssoziologischen Zugriff folgend, sollen Aspekte wie Mitgliedschaft, Zweck und Organisation quantitativ und qualitativ ausgewertet werden. Der statistischen Analyse wird zur Illustration jeweils ein geeignetes biografisches Fallbeispiel komplementär zugeordnet.
PAWEŁ KAŹMIERSKI (Jena/Krakau) stellte sein rechtshistorisches Projekt zu Scheidungsurteilen in der SBZ/DDR sowie in Volkspolen vor, in welchem er weltanschaulich motivierte Diskriminierungen untersucht. Im Zentrum der Arbeit steht die Dichotomie zwischen dem sozialistischen Familienrecht und der Religionsfreiheit. Es geht allerdings nicht nur um die Rechtsprechung als solche, sondern auch um unterschwellige Formen von Diskriminierung im Gerichtssaal. Die Realisierung erweist sich als schwierig, da die Verfahrensakten für die DDR nur teilüberliefert sind, die Urteilsbegründungen für Polen sogar häufig fehlen. Der Untersuchungsraum ist auf Mecklenburg-Vorpommern sowie Westpommern in Polen begrenzt. Für die DDR lauten die ersten Ergebnisse, dass Konflikte zwischen religiösen und „fortschrittlichen“ Ehepartner:innen über die weltanschauliche Erziehung der Kinder oder Klagen gegen Ehepartner:innen der Zeugen Jehovas das Bild dominieren. Für Polen hingegen spielten die Verweigerung der kirchlichen Eheschließung und nationale Konflikte, beispielsweise zwischen deutsch-protestantischen und polnisch-katholischen Eheschließenden eine wichtige Rolle. Diskriminierung ließ sich, so Kaźmierski, entweder rechtlich, unter anderem durch Entzug des Sorgerechts oder semantisch durch eine diskriminierende Urteilssprache nachweisen. Etwas überraschend ist das vorläufige Ergebnis: Antireligiöse Scheidungsurteile in der DDR finden sich selten und auch in Volkspolen lässt sich familienrechtliche Antireligiosität nur schwer nachweisen.
In der Rechtsgeschichte ist auch das Projekt von ISA KLINGER (Berlin) verortet, die zu Nichtbestrafung bzw. Freisprüchen und deren politischen Impetus in der DDR arbeitet. Den Schwerpunkt bilden die Kassationsentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR (OG) nach Paragraph 8 und Paragraph 9 des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG), welche zwischen 1958 und 1968 angewendet wurden. Die Perspektive der Urteilsauswertung wird durch Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ergänzt. Die Kassation räumte unter anderem der Generalstaatsanwaltschaft sowie dem Präsidenten des OG die Möglichkeit ein, rechtskräftige Urteile und Beschlüsse niederer Instanzen aufzuheben. Die Handlungsspielräume und -grenzen der Akteure sollen vor allem im Zusammenspiel mit dem MfS beleuchtet werden. Klinger arbeitet an der These, wonach über das Mittel der Freisprüche und Nichtbestrafungen nach Paragraph 8 und Paragraph 9 StEG eine politische Strafjustiz „durch die Hintertür“ im Sinne einer Begünstigung systemnaher Personen eingeführt worden sei. Ihre Arbeit wird dabei auch Aufschluss über das durch die beiden Normen eingeführte Tatbestandsmerkmal der „Gesellschaftsgefährlichkeit“ geben.
An einem interdisziplinären Projekt arbeitet auch THOMAS STEGMAIER (Passau), der am Beispiel der beliebten DEFA-Filmreihe „Das Stacheltier“ (1953–1964) die filmische Satire in der DDR untersucht. Was machte die Stacheltier-Reihe in der Mediengeschichte der DDR so besonders und was zeichnete die satirische Gestaltung der Filme aus, lauteten Stegmaiers Leitfragen. Ebenso geht es darum zu analysieren, bis zu welchem Grad Satire in diesem stark regulierten und kontrovers diskutierten Feld möglich war und welche gesellschaftliche Implikation sie erfüllte. Mit filmanalytischen und zeichentheoretischen Methoden wertet er das 180 Filme umfassende Korpus aus und ordnet sie den Clustern „Satire nach innen“ (DDR) sowie „Satire nach außen“ (Westen) zu, um schließlich weitere Subkategorien zu bilden. Zu Stegmaiers ersten Ergebnissen zählt der Zusammenhang zwischen dem Grad der satirischen Schärfe und den dargestellten Konflikten. Näherten sich die Filme den Lebenswelten der DDR an, wurden die satirischen Mittel schwächer. Es wird ersichtlich, dass insbesondere Kritiken in Richtung des Westens immer mit politischen Implikationen versehen waren, wohingegen „Satire nach innen“ nie überindividuell sein durfte. Aus diesem Grund wurden die einzelnen Folgen auch sorgfältig geprüft. Satire konnte und sollte also neben der Kritik des Klassenfeindes auch zur politischen Bildung und Agitation beitragen, was sie für das Regime bis zu einem gewissen Grad nutzbar machte.
Arbeitslosigkeit und Brüche in den Erwerbsbiografien der 1990er-Jahre in Ostdeutschland werden bis in die Gegenwart für die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten oder politische Verwerfungen bemüht. Dem Aufbau der Arbeitsverwaltung nach westdeutschem Muster widmet sich HANS-HEINER HOLTAPPELS (Bochum) in seinem institutions- und begegnungsgeschichtlichen Projekt. Im Vordergrund stehen die Institution der Bundesanstalt für Arbeit, ihre ostdeutschen Standortgründungen sowie die Tätigkeit westdeutscher Expert:innen in den neuen Bundesländern zwischen 1990 und 1997. Die Untersuchung reicht von der materiellen Ausstattung über deutsch-deutsche Begegnungen bis hin zu Personalüberprüfungen. Drei Thesen stehen dabei im Vordergrund: Der Auftrag der Arbeitsverwaltung kann lediglich im Rahmen früheren Systemkonkurrenz und postulierte Erfolge können nur im Rahmen einer konservativ-liberalen und an marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichteten Politik verstanden werden, was Holtappels im Vortrag anhand des „sozialen Friedens“ skizzierte. Drittens, die Arbeitsverwaltung blieb trotz der kurzen Fristen zum Aufbau der ostdeutschen Standorte stets arbeitsfähig. Holtappels strebt eine sinnstiftende Verknüpfung der überlieferten Archivquellen als Makroebene und der individuellen Erfahrungen – in Form von Interviews – als Mikroebene an.
Die Betroffenen der Verwerfungen am Arbeitsmarkt und insbesondere das arbeitsmarktpolitische Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) sind Gegenstand in ELBE TRAKALS (Potsdam/Babelsberg) Dissertationsprojekt. Trakal möchte die postsozialistischen Subjektivierungsprozesse durch Arbeit im Rahmen eines Reenactments analysieren und filmisch verarbeiten. Die ABM stellten bis zur Einführung der Hartz-Reformen im Jahr 2003 eine spezifische Form ostdeutscher Transformationserfahrung dar. Im Vordergrund steht die Frage, wie die Menschen die Umbrüche verinnerlichten und wie Arbeit persönlichkeitsformende Dimensionen hervorruft. Trakal folgt dabei stringent dem Ansatz einer künstlerisch-forschenden Perspektive, die von erlebter Erfahrung sowie affektiver Vermittlung ausgeht. Das filmische Produkt „Die Maßnahme“ vereint in Interviews, Gruppengesprächen, szenischen Schreibübungen, filmisch-inszenierten Reenactments und einem Evaluationsformat Aspekte der partizipativ-dokumentarischen Reenactmentmethode. Im Vortrag präsentierte Trakal erste filmische Interviewsequenzen mit weiblichen Befragten und zeigte eindrücklich die Komplexität des Subjektivierungsdiskurses zwischen den jeweiligen Antipoden Exteriorität und Interiorität sowie Unterwerfung und Auto-Poesis, die, in einem kartesischen Koordinatensystem modelliert, vier Quadranten bilden.
Zum Themenfeld Arbeit lässt sich das Projekt von FRANK KELL (Mannheim) ebenfalls zuordnen, der anhand von sechs betrieblichen Traditionsvereinen im Nordthüringer Raum den Wandel von sozialen Ordnungsvorstellungen und die Genese spezifischer ostdeutscher Erinnerungsräume von Arbeit und Gemeinschaft auf der lokalen Ebene untersucht. Diese Ideengeschichte der Arbeit „von unten“ lässt sich gleichsam der erweiterten Transformationsgeschichte zuordnen, synthetisierte doch beispielsweise der negative Erinnerungsort „Treuhand“ Verlusterfahrungen und die Entwertung von Gesellschaft und Kultur. Kell widmet sich der Feinmechanik postsozialistischer Ostidentitäten, indem er die Narrative der Vereine und deren Ausdrucksformen analysiert und dekonstruiert. Im Vortrag ging er auf drei typische Quellengruppen seiner Arbeit ein: Jahreschroniken, Brigadetagebücher und Erinnerungsliteratur. Diese stehen in einer Kontinuität gemeinschaftlicher Selbstbeschreibungen, in denen Lokal- und Betriebsgeschichten, individuelle und kollektive Erinnerungen zu einer identitätsstiftenden Erzählung verschmelzen. So konnten sich die Mitglieder vor dem Hintergrund der Erosion der, in Anlehnung an den Kultursoziologen Wolfgang Engler, „arbeiterlichen Gesellschaft“2 eine Geschichte geben. Kell analysiert die Vereine als reflexiv nostalgische Erinnerungsgemeinschaften, die auf jenen Erosionsprozess reagieren und deren Formen von Geschichtsaneignung durch eine produktive Verarbeitung der eigenen Vergangenheit geprägt sind.
„Den blinden Fleck, der anscheinend im Zentrum unseres Bewusstseins sitzt und deshalb von uns nicht bemerkt werden kann, allmählich von den Rändern her zu verkleinern“– dieses Zitat aus Christa Wolfs „Stadt der Engel“ pointiert das literaturwissenschaftliche Promotionsprojekt von MARIELUISE LABRY (Leipzig). Sie widmet sich den gegenwärtig prominenten Erinnerungsromanen in der Gegenwartsliteratur mit DDR-Bezug und zeigt an zehn Fallbeispielen die Narrativierung von Erinnerungsräumen. Labry verwendet das begriffliche Instrumentarium von Literatur- und Kulturwissenschaft zum kollektiven Gedächtnis und zu Raumtheorien im Kontext des „spatial turn“. Vier Räume stehen im Zentrum der Analyse: der „Familienraum“, mit intergenerationellen Konflikten und innerfamiliären Beziehungen und deren Durchdringung durch Staat und Politik; „Genderräume“, mit besonderer Rolle sozialer Geschlechter und damit verbundener Machtstrukturen; „verschwundene Räume“, die vor allem auf das architektonische Erbe der DDR abzielen, sowie „unvollständige Räume“, geprägt durch das gezielte Schweigen über Erlebnisse oder Episoden des eigenen Lebens. Auch die unterschiedlichen Autor:innen-Jahrgänge spielen bei der Untersuchung eine Rolle. Am Beispiel des Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ zeigte sie die Komplexität des Familienraumes und gab zu bedenken, dass Erinnerungsprozesse durch Analyse sichtbar gemacht werden können, was wiederum Aufschluss über Ambivalenzen im kollektiven Erinnern liefert.
Labrys Beitrag lieferte den Brückenschluss in die Gegenwart mit zahlreichen Anknüpfungspunkten zu den vorgetragenen Projekten. Fasst man die Diskussionen zusammen, so standen etwa Fragen nach der sinnvollen Verknüpfung von Mikro- und Makroebenen, der Sichtbarmachung von Akteur:innen „von unten“, der Einbettung der geführten Interviews oder der Umgang mit individuellen Erinnerungen im Vordergrund. Anlass zum Austausch lieferten zudem schwierige Archivzugänge, Kosten für Reproduktionen oder archivrechtliche Fragen. Die starken thematischen und methodischen Verflechtungen der Vortragenden sorgten für einen regen Austausch. Dabei verfestigte sich die Erkenntnis, wie gewinnbringend zäsurübergreifende Blickwinkel auf die Transformationszeit mit etwaigen Ko-Transformationen – unter Einbeziehung unterschiedlicher Disziplinen – sein können. Dass die Bundesstiftung den Fokus auf die Zeit nach 1989 verstärkt, entspricht damit aktuellen Forschungsdiskursen, wenngleich internationale Verflechtungen, ebenso wie migrantische Perspektiven in den aktuellen Promotionsprojekten noch unterrepräsentiert sind.
Konferenzübersicht:
Franziska Kuschel (Berlin): Begrüßung
Sascha Ohlenforst (Aachen): Die Sanierung von Werra und Elbe als umwelt- und völkerrechtliches Problem in den deutsch-deutschen Beziehungen 1968-1989
Thorben Pieper (Bochum): Verseuchte Landschaften wiederherstellen: Umweltexperten, Altlastensanierung und die Wahrnehmung ostdeutscher Räume
Kristina Gunne (München): Die Suchdienste des Deutschen Roten Kreuzes in der Bundesrepublik und DDR. Eine Beziehungsgeschichte zwischen humanitärem Auftrag und Politik im Kalten Krieg, 1946 bis 1994
Balthasar Dusch (Leipzig): „Du kennst doch den westdeutschen Bundesbürger. Der schenkt uns nichts“. Hafterfahrung und Anerkennungskämpfe – zur Entstehung und Krise der Vereinigung der Opfer des Stalinismus 1950 bis 1979
Paweł Kaźmierski (Jena/Krakau): Antireligiosität in erster Instanz? Scheidungsurteile in der SBZ/DDR und in Volkspolen am Beispiel der Gerichtspraxis in Mecklenburg-Vorpommern (1945-1958) und in Pomorze Zachodnie (1945-1956)
Isa Klinger (Berlin): Sozialistische Milde? Eine Untersuchung zu Freispruch und Nichtbestrafung in der DDR anhand von Paragraph 8 und Paragraph 9 Strafrechtsergänzungsgesetz
Thomas Stegmaier (Passau): „Das Stacheltier“ – Filmische Satire in der DDR
Hans-Heiner Holtappels (Bochum): Neue Arbeitslosigkeit managen: Der Aufbau der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern
Elbe Trakal (Potsdam-Babelsberg): Die Maßnahme – postsozialistische Subjektivierung durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und ihr dokumentarisches Reenactment
Frank Kell (Mannheim): Erinnerungen an die „arbeiterliche Gesellschaft“ – Betriebsvereine in Nordthüringen und die Erosion eines ostdeutschen Gesellschaftskonzepts nach 1989/91
Marieluise Labry (Leipzig): Der Erinnerungsraum DDR in der Gegenwartsliteratur seit 2010 – Ein verschwundener Raum wird erzählt
Anmerkungen:
1 Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020.
2 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen: Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, hier S. 173–208.