Der Leeds International Medieval Congress (IMC) ist Jahr für Jahr eines der zentralen Ereignisse der internationalen Mediävistik. 2.700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen Welt diskutieren dort ihre Forschung. Die Zahl der Teilnehmenden aus Deutschland ist dabei in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Auch der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e. V. gab dort in diesem Jahr mit der Sektion „Growing Old and Old Age in the Middle Ages“ sein Debut. Damit wurde von Organisatorin Martina Giese die Gelegenheit wahrgenommen, einem internationalen Publikum Einblick in eine Thematik zu verschaffen, die im Herbst 2023 auf der Tagung des Arbeitskreises ausführlicher traktiert wurde. Die zweimal jährlich stattfindenden Tagungen des Arbeitskreises widmen sich jeweils einem aktuellen Thema der geschichtswissenschaftlichen Forschung und der exklusive Rahmen erlaubt es, sie in großer Tiefe zu behandeln. Die Beiträge werden im Anschluss in der Reihe „Vorträge und Forschungen“ publiziert. Nun wurde erstmals ein Ausschnitt aus diesem Format in englischer Sprache beim IMC in Leeds vorgestellt und damit Appetit auf die bevorstehende Veröffentlichung gemacht.
Den Auftakt machte TOBIAS DANIELS (München), der in seinem Vortrag untersuchte, in welchen Kontexten und aus welchen Gründen das genaue Lebensalter im Mittelalter überhaupt eine Rolle spielte, und mit welchen Werturteilen es jeweils verbunden war. Dafür analysierte er Altersangaben in seriellen und juristischen Quellen, Inschriften, Kolophonen, im Kontext der Altersvorsorge, aber auch im Zusammenhang mit den im Mittelalter populären Horoskopen und konstatierte für das Spätmittelalter eine „Rückkehr zur Genauigkeit“ in Hinblick auf die Altersangaben. Der Überblick über die breite Quellenbasis, die Daniels seiner Studie zugrunde gelegt hat, verdeutlichte gleich zu Beginn der Sektion, wie unterschiedlich Alter und Altern in verschiedenen Kontexten wahrgenommen und dargestellt wurde.
Im zweiten Vortrag beleuchtete BENJAMIN MÜSEGADES (Heidelberg) beispielhaft anhand von drei Fürstenbiographien den Rückzug aus der aktiven Herrschaft aus Altergründen – sowohl freiwillig als auch unfreiwillig – und machte auf die Diskrepanz zwischen der Vorstellung und der Realität des so verbrachten Lebensabends aufmerksam. Dabei wurde deutlich, dass bestimmte Vorstellungen vom Alter, wie das Nachlassen der Gedächtnisleistung oder körperliche Schwäche einen Rücktritt begründen, aber auch von den Nachfolgern dazu genutzt werden konnten, einen solchen herbeizuführen, obgleich die Fürsten in aller Regel bis zu ihrem Tode regierten. Weder hohes Alter noch der offizielle Rücktritt aus den Regierungsgeschäften beendeten zwingend bestehende Konflikte, sondern konnten gar zu neuen führen und Gesten eines demonstrativen Konsenses erfordern.
Um den Rückzug aus der Herrschaft, nun zugunsten der Abgeschiedenheit des Klosters, ging es auch FREDERIEKE SCHNACK (Würzburg) im dritten Vortrag. Angesichts fehlender Altersangaben zum Zeitpunkt der Konversion erschloss sie anhand der Dauer des Klosterlebens nach der Konversion, zu welchem Zeitpunkt Herrscher den Schritt ins Kloster gingen, und brachte diesen mit unterschiedlichen Modellen des Lebensabends bzw. -endes in Verbindung. Schnacks Untersuchung der Lebensphase zum Zeitpunkt der Konversion erlaubt Einblicke in deren Gründe und zeigte, dass neben Sterbebettkonversionen zur Absicherung des Seelenheils auch besondere Frömmigkeit, der Wunsch nach einer Abkehr von der Welt oder auch politische Handlungsunfähigkeit eine Rolle spielten.
In der Zusammenschau zeigten die Vorträge deutlich, dass die Bewertung, wann ein hohes Alter begann, und vor allem, was es implizierte, sehr unterschiedlich ausfallen konnten. Das Alter konnte den Grund liefern, sich aus der Herrschaft zurückzuziehen (oder aus jener entfernt zu werden), in anderen Fällen aber auch Autorität und Vertrautheit mit langdauernden Traditionen garantieren. Die Werturteile, die mit dem hohen Alter einhergingen, waren daher auch einer der Punkte, über welche sich in der anschließenden Diskussion lebhaft ausgetauscht wurde. Die Teilnehmenden brachten Beispiele aus ihren eigenen Forschungstraditionen vor, in denen die Bewertung des Alters je nach politischer Opportunität, juristischer Sachlage oder dem persönlichen Umfeld sehr disparat beurteilt werden konnte. Großes Interesse galt auch den Evidenzpraktiken, die zum Nachweis des biologischen Alters oder der altersbedingten Verfallserscheinungen vorgebracht oder verlangt werden konnten. Schließlich regte auch die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des Lebensabends die Diskussion an, die – sei es im Kloster oder auf dem Alterssitz – offenbar nicht immer den Erwartungen entsprach. Wie sich deutlich zeigte, konnten die Vorträge hier neue Anregungen in die internationale Forschungsdiskussion einbringen und zum Weiterdenken über vermeintlich etablierte Lebensmodelle anregen.
Konferenzübersicht:
Sektion „Growing Old and Old Age in the Middle Ages“
Sponsor: Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte
Organisatorin: Martina Giese (Würzburg)
Moderatorin: Claudia Wittig (Halle-Wittenberg)
Tobias Daniels (München): Evaluation and Usefulness of Concrete Indications of Age in Late Medieval Sources
Benjamin Müsegades (Heidelberg): Too Old to Rule, Too Young to Die?: Resignations of Late Medieval Secular Princes of the Holy Roman Empire
Frederieke Maria Schnack (Würzburg): Ripe for the Monastery?: The Age of Life as a Motive for the Monastic Conversion of Western European Secular Rulers in the Early and High Middle Ages