Historisches Wissen und gesellschaftlicher Bildungsauftrag am Beispiel des Nationalsozialismus in Südwürttemberg

Historisches Wissen und gesellschaftlicher Bildungsauftrag am Beispiel des Nationalsozialismus in Südwürttemberg

Organisatoren
Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm in Ravensburg-Weissenau; DZOK – Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg Ulm; KZ-Gedenkstätte in Ulm; DENKStättenkuratorium NS-Dokumentationszentrum Oberschwaben in Weingarten (DZOK – Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg; KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg, Ulm; Volkshochschule (EinsteinHaus), Ulm)
Ausrichter
DZOK – Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg; KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg, Ulm; Volkshochschule (EinsteinHaus), Ulm
PLZ
89081
Ort
Ulm
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
11.07.2024 - 12.07.2024
Von
Katharina Witner / Thomas Müller / Mareike Reichelt, Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm

Bereits zum vierten Mal fand am 11. und 12. Juli 2024 in Südwürttemberg eine Tagung statt, die Museen, Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Forschungseinrichtungen und weitere Initiativen beziehungsweise deren inhaltliche Beiträge in einem Programm vereinigte, deren gemeinsames Interesse die Erarbeitung von historischem Wissen, Bildungsangeboten und Forschung zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Region Südwürttemberg sowie angrenzenden Gebieten darstellt.

Die Tagung wurde am 11. Juli nach der Begrüßung seitens der Programmverantwortlichen eröffnet. Zu den Tagungsteilnehmenden, die sich zunächst im DZOK – als erstem Veranstaltungsort – eingefunden hatten, sprach NICOLA WENGE (Ulm). Anschließend fand eine historische Führung durch die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg unter Führung von ANNETTE LEIN (Ulm) statt. Das „frühe“ Konzentrationslager (KZ) Oberer Kuhberg – untergebracht in einem 1850 erbauten ehemaligen militärischen Fort der Garnisonsstadt – war ein assoziiertes Lager des frühen KZ Heuberg und bestand von November 1933 bis Juli 1935. In diesem Zeitraum wurden circa 600 Männer im Alter zwischen 17 und 71 Jahren – überwiegend politische und weltanschauliche (oft als „Asoziale“ denunzierte) Gegner des Nationalsozialismus – zur „Umerziehung“ inhaftiert und – unter dem Terror der SA- und SS-Wachmannschaften – in den Sonderhaftzellen und unterirdischen Festungsgängen untergebracht. Auf Initiative ehemaliger Häftlinge und des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg (DZOK) wurde die KZ-Gedenkstätte 1985 eröffnet, die heute zahlreiche Angebote für Schulen, Hochschulen und die Erwachsenenbildung vorhält.

Nach dem Transfer der Teilnehmenden zur Ulmer Volkshochschule (VHS) sprach DANIEL KANZLEITER (Ulm) einleitend über die besondere Geschichte der Ulmer VHS, die am 24.04.1946 – auf den Tag ein Jahr nach der Befreiung Ulms durch die US-amerikanischen „Besatzer“ – von der Kulturschaffenden und Schriftstellerin Inge Aicher-Scholl (1917–1998), der älteren Schwester von Sophie und Hans Scholl, und von dem Grafikdesigner Otl Aicher (1922–1991) zunächst in der Martin-Luther-Kirche gegründet wurde. Das politische und moralische Erbe der Weißen Rose wurde für die Gründungseltern zum Bildungsauftrag, die „im Geiste der Ermordeten“ handeln wollten. Der geistige Neuanfang in Ulm sollte nicht nur durch Vorträge, sondern – nach dem Motto „Einmischung erwünscht“ – vor allem durch die aktive Teilnahme der Bürger:innen bei der kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Gestaltung ihrer Stadt erfolgen. Seit 1968 befindet sich der Hauptsitz der VHS im EinsteinHaus, das im Stil des Ulmer Funktionalismus sowie im Geist der von Otl Aicher mitbegründeten Hochschule für Gestaltung Ulm (1953–1968) erbaut wurde und inzwischen unter Denkmalschutz steht. Neben Wechselausstellungen werden sehenswerte Dauerausstellungen präsentiert, darunter zur Ulmer Jugendopposition im Nationalsozialismus.

Im öffentlichen Vortrag trug NORBERT FREI (Jena) zur Geschichte und Gegenwart der deutschen „Erinnerungskultur“ vor. Zunächst ging der Referent auf die Herausbildung eines selbstkritischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik ein, die ein schwieriger, jahrzehntelang immer wieder von Skandalen begleiteter Prozess (beispielsweise den Reden der Bundespräsidenten Theodor Heuss 1952 und Richard von Weizsäcker 1985, der Frankfurter Ausschwitz-Prozesse in den 1960er-Jahren, der 68er-Bewegung, dem Historiker-Streit 1986/87 und der Goldhagen-Debatte 1996), zugleich jedoch konstitutiv für die Entwicklung der liberalen Demokratie in Deutschland war. Seit ein paar Jahren jedoch sieht sich diese vermeintlich fest etablierte Ethik des Erinnerns erneut wachsenden Angriffen ausgesetzt: zunächst vor allem von der politisch „rechten“ Seite – mit ihrer Forderung nach einem Schlussstrich in Bezug auf die Beschäftigung mit der NS-Zeit. Inzwischen aber auch seitens der politischen „Linken“, von postkolonialer Seite, die in die Erinnerungskultur unter anderem auch die Verbrechen des deutschen Staates während der Kolonialzeit (1880–1919) und in der DDR – in ähnlichem Maße wie die Shoah – einbezogen sehen möchte. Diese Entwicklung könnte zur Etablierung neuer Trends führen, die unter anderem eine Relativierung des Holocausts beziehungsweise dessen Singularität nach sich ziehen würden. Obgleich in der aktuellen Erinnerungskultur, der eine immerwährende vielfältige Dialektik zwischen Gesellschaft und Politik beziehungsweise zwischen Verklärung und Aufklärung innewohnt, „nicht alles zum Besten stehe“, so der Referent, könne man der Zunahme der den Nationalsozialismus marginalisierenden Meinungen und der daraus abzuleitenden Folgen (wie dem wachsenden Antisemitismus und zunehmender Demokratieverachtung) mit der Vermittlung des historischen Wissens an die nachwachsende Generation sowie mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der in den letzten 75 Jahren stattgefundenen Aufarbeitung der NS-Verbrechen begegnen.

Am zweiten Tagungstag spannten die Tagungsorganisatoren UWE HERTRAMPF (Weingarten), NICOLA WENGE (Ulm) und THOMAS MÜLLER (Ravensburg/Ulm) den Bogen von den in den Jahren 2018, 2020 und 2022 stattgefundenen Tagungen in Ravensburg sowie Weingarten und von seinerzeit präsentierten Inhalten zur diesjährigen Tagung, informierten über aktuelle wissenschaftliche Projekte beziehungsweise Projektplanungen ihrer Einrichtungen und berichteten über die wachsende Vernetzung untereinander, die ihren Niederschlag unter anderem im Austausch vielfältiger Wechselausstellungen und der Vermittlung von Partnerschaften findet.

In seinem Vortrag ging THOMAS MÜLLER (Ravensburg/Ulm) auf die gesellschaftlich-politischen Herausforderungen der letzten beiden Jahre ein, die von den Kriegen in der Ukraine sowie in Israel und Gaza, von dem Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien in mehreren europäischen Ländern, von dem wachsenden Antisemitismus und von der zunehmenden Gesellschaftsspaltung überschattet waren. Diese Entwicklung dauert noch an und ein rascher Ausweg aus diesen Krisen, die von historischer und geopolitischer Komplexität geprägt sind, scheint sich aktuell nicht abzuzeichnen. Der Referent betonte, dass der Beitrag der Tagungsteilnehmenden sowie den von ihnen repräsentierten Einrichtungen zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gerade in diesen herausfordernden Zeiten besonders wertvoll sei und von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Ereignissen nicht beeinflusst werden sollte. In Bezug auf den seitens Frei analysierten post-kolonialen Antisemitismus und im Sinne des amerikanisch-israelischen Historikers Saul Friedländer (geb. 1932) käme der Empirie – in Abgrenzung zur Ideologie – hier weiterhin eine vornehmliche Stellung zu, denn den geschichtsverfälschenden Darstellungen könne man nur mit wissenschaftlicher Arbeit und Haltung begegnen.

In seinem Vortrag berichtete MICHAEL NIEMETZ (Laupheim) über die neue Dauerausstellung des Museums für Geschichte von Christen und Juden in Laupheim, die im Januar 2024 eröffnet wurde. Die Dauerausstellung erstreckt sich auf zehn Räume, die das Zusammenleben von Christen und Juden in Laupheim über drei Jahrhunderte hinweg abbilden. Aus verschiedenfarbigem Garn gewobene Textilien symbolisieren dabei die Verflechtungen zwischen den verschiedenen Menschen sowie Kulturen und bilden gleichzeitig die Leitfäden durch die Ausstellung. Abhängig von den historischen und politischen Ereignissen werden die Räumlichkeiten sowie die dazugehörigen Fäden in verschiedene Farben getaucht: Das Aufblühen der jüdischen Gemeinde Mitte des 19. Jahrhunderts und ein gestärktes Miteinander zwischen Christen und Juden in Laupheim werden beispielsweise in satten rot-braunen Tönen präsentiert. Die Zeit des Nationalsozialismus und die Vernichtung des jüdischen Lebens hingegen wird in weißen, überwiegend kahlen Räumen gezeigt. Die Dauerausstellung, die nach Wunsch mit einem Medien-Guide besichtigt werden kann, stoße bereits auf eine sehr gute Resonanz, was zu erweiterten Öffnungszeiten geführt habe.

MAREIKE REICHELT (Ravensburg/Ulm), BERND REICHELT (Ravensburg/Ulm) und THOMAS MÜLLER (Ravensburg/Ulm) berichteten über die mit Mitteln von LEADER Mittlere Alb geförderte Wanderausstellung, welche die regionale sowie lokale Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus am Beispiel der ehemaligen Heilanstalt Zwiefalten beleuchtet. Die momentan aus 18 Roll-ups bestehende, modular konzipierte und an ein breites Publikum gerichtete Ausstellung legt Wert auf Aspekte des Nationalsozialismus „vor der Haustür“ und zeigt ebenso Verbindungen nach Grafeneck (Münsingen) wie Verknüpfungen beispielsweise mit dem Georgenhof (Hayingen) sowie den jüdischen Zwangsaltenheimen auf der Schwäbischen Alb auf. Die im Forschungsbereich gewonnenen historischen Erkenntnisse sollen abseits der akademischen Welt mithilfe dieser Wanderausstellung ein niederschwelliges Angebot schaffen, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus zu befassen. Angesprochen werden auch Personenkreise, die bislang noch wenig oder keine Berührung mit der Thematik hatten. Die Ausstellung kann kostenlos an Gemeinden, Schulen und Institutionen verliehen werden und ist zunächst in Stuttgart, Münsingen, Ravensburg und Sigmaringen zu sehen.

In seinem Vortrag präsentierte WELF SCHRÖTER (Mössingen) das Konzept der mobilen Ausstellung zur Geschichte des Textilunternehmens Pausa im Zeitraum von 1919 bis 1936, das durch die aus Stuttgart stammenden jüdischen Brüder Felix und Artur Löwenstein 1911 in Pausa (Vogtland) gegründet wurde und seit 1919 seinen Sitz im württembergischen Mössingen hatte. Das weltweit bekannte Unternehmen produzierte neben den Stoffen für den alltäglichen Bedarf künstlerisch anspruchsvolle Dekorationsstoffe – dies in Zusammenarbeit mit innovativen Künstlern aus dem Werkbund, den Wiener und Münchner Werkstätten und dem Bauhaus. Im Rahmen des Vortrags ging der Referent auf die Inhalte der mobilen Ausstellung detailliert ein: Hierzu zählten unter anderem die bei der Pausa beschäftigten Bauhaus-Absolventinnen Friedl Dicker-Brandeis (ermordet im KZ-Ausschwitz 1944), Lisbeth Oestreicher und Ljuba Monstirskaya; jüdische Spuren im Mössinger Generalstreik gegen die NS-„Machtergreifung“ im Jahre 1933; Enteignung und Vertreibung der Familie Löwenstein Mitte der 1930er-Jahre und die Klage der Familie Löwenstein gegen die Unternehmensgruppe Burkhardt-Greiner, die den Textilbetrieb weit unter Wert erwarb. Die Ausstellung, die auch im Rahmen des Stadtjubiläums 1250 Jahre Mössingen gezeigt wird, tritt inhaltlich für Demokratie und Menschenrechte ein, zeigt eine klare Haltung gegen Antisemitismus und Rassismus. Sie kann kostengünstig entliehen werden.

In ihrem Vortrag berichteten BABETTE MÜLLER-GRÄPER (Peiting-Herzogsägmühle) und FABIAN LEONHARD (Peiting-Herzogsägmühle) über die oberbayerische soziale Einrichtung Herzogsägmühle, die von 1934 bis 1945 nationalistischer Zentralwanderhof des Landesverbandes für Wander- und Heimatdienst war. Vor dem Hintergrund der Kriminalisierung des Wanderns ab 1934 und der Stigmatisierung infolge des Bezugs von Wohlfahrtsleistungen („arbeitsscheu“, „asozial“) wurden bis zu 12.000 Personen Arbeitszwang, Repressionen und Zwangssterilisationen in der NS-Zeit ausgesetzt. Es erfolgte eine Zwangseinweisung in Anstalten, Arbeitshäuser oder Konzentrationslager. Die Herzogsägmühle – eine noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts friedliche Kolonie für wandernde Männer beziehungsweise ein landwirtschaftliches Gut – wurde zu einem Ort des Sterbens für 430 Männer und Jugendliche, die dort nach der Einweisung aufgrund von Vernachlässigung oder Selbsttötung aus Verzweiflung umkamen. Viele überlebten auch die Überstellung in ein Konzentrationslager oder in eine Heil- und Pflegeanstalt nicht. Heute bemüht sich die Diakonie Herzogsägmühle mit dem Konzept „Lernort Sozialdorf Herzogsägmühle“ um eine angemessene, lebendige Erinnerungskultur für die Opfer und Verfolgten der NS-Gesundheitspolitik – unter anderem in Kooperation mit Schulen und Hochschule.

GERTRUD GRAF (Weingarten) trug über das Schicksal der KZ-Häftlinge der „Wüste“-Lager und das KZ Spaichingen vor. Die Absicht, selten vorkommenden Granit in den Vogesen und asphaltgrauen Schiefer am Albtrauf (Steilhang der Schwäbischen Alb) abzubauen, war Grund für die Errichtung des KZ Natzweiler-Struthof im besetzten französischen Elsass im Mai 1941 und seiner Außenlager 1943/44. Als wegen des Vorrückens der Alliierten das KZ Natzweiler-Struthof aufgegeben werden musste, entstanden sieben Konzentrationslager unter dem Decknamen „Wüste“ entlang der Bahnlinie Balingen/Rottweil. Tausende Häftlinge aus dem ganzen besetzten Europa – darunter viele Widerstandskämpfer – sollten als billige Arbeitskräfte Schiefer für die Ölgewinnung abbauen. Im April 1945 wurden die Häftlinge zu Fuß in Marsch gesetzt, um die Spuren der „Wüste“-Lager zu verwischen. Man ließ die Inhaftierten Routen von 300 Kilometern durch Oberschwaben und das Allgäu bis in die Bayerischen Alpen zu Fuß erlaufen. Unterwegs starben viele der Opfer an Erschöpfung oder wurden erschossen. Die „Evakuierung“ entwickelte sich zu Todesmärschen. Erst in den 1980er-Jahren begannen engagierte Bürger:innen, die Geschichte der Lager aufzuarbeiten: Sie nahmen Kontakt zu Überlebenden, Angehörigen und Zeitzeugen auf – auch in Frankreich und Luxemburg. Es entstanden Gedenkstätten. Am Schicksal ausgewählter Häftlinge verdeutlichte die Referentin, wie die Zerschlagung des europäischen politischen Widerstands auch mit gnadenloser Ausbeutung einherging.

In seinem Vortrag referierte OSWALD BURGER (Überlingen) über das Schicksal des zweiten Ehemannes seiner Tante Grete Glaser (1893–1997), Josef Glaser, der bis 1940 als Polizeibeamter in Bad Waldsee tätig war und 1940 zunächst nach Frankreich sowie ein Jahr später nach Warschau versetzt wurde. Im Jahre 1943 wurde Glaser vorgeworfen, während einer Unterrichtsstunde an der Polizeischule in Warschau Zweifel an dem Endsieg geäußert zu haben. Glaser wurde verhaftet und anschließend zum Tode verurteilt. Die Eheleute Glaser schrieben zahlreiche Begnadigungsgesuche, unter anderem an die Kanzlei des Führers im Februar 1944, die jedoch abgelehnt wurden. Kurz vor seiner Hinrichtung schrieb Josef einen emotional ergreifenden und liebevollen Abschiedsbrief an seine Frau, in dem er versuchte, ihr Trost zu spenden, ihr Ratschläge für ihr künftiges Dasein ohne ihn zu geben und ihr zu versichern, dass er ein treuer Staatsbürger sei, der an den Sieg Deutschlands glaube. Die im Rahmen des Vortrags gezeigten Briefe der Eheleute Glaser sowie deren Bilder werden derzeit im Familienarchiv aufbewahrt.

IGOR POLIANSKI (Ulm) referierte über Graphologie vor dem Hintergrund der NS-Rassenhygiene. Die Aufgabe der Typisierung – der Aussonderung der aus rassenhygienischer Sicht Auffälligen – fiel in erster Linie den Anthropologen, Kriminologen und Ärzten zu. Darüber hinaus beanspruchten die Vertreter der Handschriftenkunde, das „wahre Wesen“ des Menschen hinter seiner sozialen Maske erkennen zu können und eine serienmäßige Bewertung und Auslese von Minderwertigen, Asozialen und Fremdvölkischen mit minimalem Aufwand zu ermöglichen. Mit diesem Versprechen wurde im März 1935 der „Reichsverband der wissenschaftlich geprüften Graphologen“ ins Leben gerufen. Die NS-Ideologen postulierten die Existenz eines „artgemäßen“ deutschen Schriftbildes, in welchem das verborgene „Erbbild“ der nordischen Rasse zum Vorschein komme. Alle davon abweichenden Schriftbilder gäben einen Hinweis auf Minderwertigkeit, Entartung und Devianz. Die graphologische Schule von Ludwig Klages (1872–1956), Begründer der ausdruckswissenschaftlichen Graphologie und überzeugter NS-Anhänger, erlangte eine Monopolstellung in der NS-Zeit. Obgleich sich die pathographologischen Akteure um die Aufwertung der Graphologie als „politische Wissenschaft“ im NS-Staat bemühten, gelang dieser kein nennenswerter Durchbruch: Die Graphologie sah man überwiegend als Möglichkeit der Orientierung in einer angstbesetzten und unsicheren Zeit.

In der Diskussionsrunde kam es zu einer Rekapitulation der Vorträge und es entwickelte sich ein reger Meinungsaustausch. Am Tagungsende äußerten die Teilnehmenden den Wunsch, an der Thematik weiterzuarbeiten und die Vernetzung untereinander auch künftig auszubauen. Der Tagungsort für die nächste Tagung 2026 blieb offen und wird noch bekannt gegeben.

Konferenzübersicht:

Nicola Wenge (Ulm): Begrüßung der Gäste und Einführung in das Tagungsthema aus Gedenkstättenperspektive

Annette Lein (Ulm): Führung durch die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg

Diskussion

Daniel Kanzleiter (Ulm): Zur besonderen Geschichte der Ulmer Volkshochschule

Norbert Frei (Jena): Zweierlei Anfechtungen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen „Erinnerungskultur“

Nicola Wenge (Ulm) / Uwe Hertrampf (Weingarten) / Thomas Müller (Ravensburg/Ulm): Begrüßung und Vorstellung aktueller Projekte und Vernetzung

Thomas Müller (Ravensburg/Ulm): Forschung, Bildungsauftrag, Erinnerungsarbeit in der Medizingeschichte – zur aktuellen Situation anlässlich der Vierten Tagung „Historisches Wissen und Bildungsauftrag“

Michael Niemetz (Laupheim): Die neue Dauerausstellung des Museums für Geschichte von Christen und Juden in Laupheim

Mareike Reichelt (Ravensburg/Ulm) / Bernd Reichelt (Ravensburg/Ulm) / Thomas Müller (Ravensburg/Ulm): Die neue Wanderausstellung „Psychiatrie und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten am Beispiel Zwiefaltens 1933–1945“ des Württembergischen Psychiatriemuseums

Welf Schröter (Mössingen): Das Konzept der mobilen Ausstellung zur Löwenstein´schen Pausa (1919–1936)

Babette Müller-Gräper (Peiting-Herzogsägmühle) / Fabian Leonhard (Peiting Herzogsägmühle): „Erinnern braucht Namen“. Ein Denkmal für die Opfer und Verfolgten der NS-‚Gesundheitspolitik‘ in Herzogsägmühle, 1934–1945 und ein aktuelles Bildungsprojekt mit dem Welfen Gymnasium Schongau, Bayern

Gertrud Graf (Weingarten): Das Schicksal der KZ-Häftlinge der "Wüste"-Lager und das KZ Spaichingen

Oswald Burger (Überlingen): „Meine letzte Stunde hat geschlagen“. Vor achtzig Jahren wurde der Waldseer Polizist Josef Glaser hingerichtet – nur weil er am Endsieg zweifelte

Igor Polianski (Ulm): Schriftdeuter und die NS-Rassenhygiene

Diskussion und Aussprache