Wie europäisch ist die Osteuropäische Geschichte? Wie osteuropäisch ist die europäische Geschichte?

Wie europäisch ist die Osteuropäische Geschichte? Wie osteuropäisch ist die europäische Geschichte?

Organisatoren
Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker (VOH); Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2006 - 24.02.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Heinrich Nolte

Der Verband der Osteuropahistoriker und der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte luden am 23. und 24. Februar 2006 zu einer Tagung zum Thema „Wie europäisch ist die Osteuropäische Geschichte? Wie osteuropäisch ist die europäische Geschichte?“ ein. Vor allem die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Faches brachten dabei ihre Positionen ein.1

Peter Haslinger (München) skizzierte die Debatten um Transfer und „histoire croisée“ und hielt als Zwischenergebnisse fest: die Forderung nach Kooperation und Interdisziplinarität, die stärkere Öffnung für globale Perspektiven und die Ablehnung teleologischer Konzepte. In den Debatten um Transnationalität würden, so Haslinger, Fragen diskutiert, welche in der Osteuropäischen Geschichte bereits bearbeitet wurden. Frithjof Schenk (München) meinte, der Anspruch einiger Kollegen, einen „spatial turn“ realisiert zu haben, gehe über das hinaus, was wirklich geleistet worden sei. In der Tat habe „Raum als Produkt“ eine neue Bedeutung für Geschichtsschreibung erlangt, da das Zunftwissen um den Konstruktcharakter Osteuropas für eine „Neukodierung von Raum im Zeitalter des Reisens“ genutzt werden könne. Ricarda Vulpius (Berlin) setzte in der neuen Forderung nach Untersuchung der Imperien in ihren eigenen Bezügen (und nicht nur der „bottom-up“-Kritik der antikolonialen Geschichtsschreibung) die Tendenz der Zeitschrift “Ab Imperio” mit der „New Imperial History“ im angelsächsischen Raum in Beziehung und plädierte für eine quellenimmanente Begriffsbildung sowie Vergleiche zwischen den Imperien. Kerstin Jobst (München) ging vom „cultural turn“ in den Postcolonial Studies aus, in deren Rahmen Kolonisierte aus der Opferrolle befreit wurden, und arbeitete die Sonderstellung Russlands und der Habsburgermonarchie für diesen Diskurs heraus, da beide sowohl Opfer anderer Mächte wie selbst Imperien waren. Julia Obertreis (Freiburg) hob die Leichtigkeit hervor, mit welcher in den USA die Sowjetunion als Kolonialmacht gesehen wird, Proprium der osteuropäischen Geschichte sei hier die Schärfung der Kategorien.

Auch Andreas Hoffmann (Leipzig) ging von der „doppelten Perspektivierung des Gegenstands“ in der Transferforschung2 aus und kritisierte, dass die Osteuropaforschung weder selbst ertragreiche Netzwerke mit Osteuropa gebildet habe noch in den vor allem westeuropäischen Netzwerken angemessen vertreten sei. Veronika Wendland (Leipzig) bezog sich auf die Diskussionen in der Zeitschrift „Comparativ“ und schlug vor, Transfers innerhalb von Imperien, zwischen Peripherien und beispielsweise die Hochkultur des Russischen Reiches mit dem Netzwerkkonzept zu untersuchen. Katrin Steffen (DHI Warschau) plädierte – von einem „nicht essentialistischen“ Kulturbegriff aus – für die Rezeption von Ansätzen aus den Kulturwissenschaften, etwa das alte Konzept der kulturellen Hybridität oder das neue der Transdifferenz. Allerdings dürfe man „Hybridität nicht als fröhliches entpolitisiertes Patchwork“ verstehen, wie das in Deutschland teilweise der Fall sei. Thomas Wünsch (Passau) betonte, dass in den Forschungen über deutsch-slawische Beziehungsgeschichte bereits viel von dem Transferansatz realisiert worden sei und verwies dabei auf Alexander Gieysztor, der schon 1970 von „cultural interchanges“ gesprochen habe.

Gegen Bianka Pietrows (Konstanz) Vorschlag, von den Nachfragen nach osteuropäischer Geschichte auszugehen – „was wollen die Kollegen von der alten“ (= etablierten) „Geschichte von uns wissen?“ – konterte Haslinger spöttisch mit der Bemerkung, wie Balkanforschung zur „Auskunftstelle für Mord und Vertreibung“ für eben solche Kollegen geworden sei. Thomas Bohn (München/Jena) plädierte in einem sehr präzisen Vortrag für die Einbeziehung des Modells der sozialistischen Stadt in die komparative Urbanisierungsforschung; er arbeitete den Charakter der UdSSR als „Land von Großstädten“ heraus. Ekaterina Emeliantseva (Zürich) trat für einen engen Gebrauch des Konzepts der Lebenswelten ein und stellte einige der Arbeiten vor, in denen dieses Konzept Anwendung findet. Sie wandte sich gegen eine Ausweitung in Richtung des Milieu-Konzepts und für eine strenge Orientierung an Erfahrungen eines Individuums, was – wie Trude Maurer (Göttingen) einwarf, die Brauchbarkeit des Konzepts schon aus Quellengründen auf wenige Perioden der Moderne beschränkt. Dietlinde Hüchtker (Leipzig) ging auf Probleme von Gender Studies in Osteuropa ein.

Tatjana Tönsmeyer (Berlin) berichtete aus verschiedenen Geschichten Europas, in denen Osteuropa durchweg als das „negative andere“ fungiere. Die vorliegenden Diktaturenvergleiche3 fand sie weniger erfolgversprechend als beispielsweise die Beiträge der Osteuropaforschung zur vergleichenden Faschismusforschung. Benno Ennker (St. Gallen/ Tübingen) plädierte für eine Erweiterung der Forschungen über Massenkultur und Riten, über „identity and imposture“ in der sowjetischen Gesellschaft. Die neue Generation der Historiker, so zitierte er Sheila Fitzpatrick, die „Soviet subjectivity School“ greife die Totalitarismustheorie nicht einmal mehr an. Dem stimmte auch Daniel Ursprung (Zürich) mit seiner Anmerkung „der Totalitarismusvergleich werde nicht mehr verwendet“ zu. Manfred Hildermeier (Göttingen) nannte die jetzige russische denn auch spöttisch eine „nachholende Totalitarismusdiskussion“.

Bedauern muss man, dass die eigentliche weltgeschichtliche Debatte, in welcher Osteuropa einfach ein weiteres – wenn auch gerade für die Kritik des Eurozentrismus wichtiges – Feld der Area Studies bildet,4 außen vor blieb. Selbstverständlich hätte man aber an tausend Punkten weiterdiskutieren können. Wandte sich zum Beispiel Haslinger mit der Ablehnung teleologischer Modelle (s.o.) gegen den Neoliberalismus Fukuyamas, Margaret Thatchers "There is no Alternative" oder noch einmal gegen den nun doch schon verblichenen Sowjetmarxismus? Ist der gar nicht einmal so verhaltene Triumphalismus etwa von Fergusons Bestseller „Empire“5 wirklich mit dem doch sehr skeptischen Grundtenor von „Ab Imperio“ verwandt? Die Diskussion biss sich dann am Imperiumsbegriff und der Differenz zwischen quellenimmanenten und analytischen Begriffen fest. Daran soll auf einer Folgetagung in München weiter gearbeitet werden.

Transfer Studies gehören, worauf Thomas Wünsch zu Recht hinwies, seit eh und je zum täglichen Brot der Osteuropäischen Geschichte, auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte (zum Beispiel der Rezeption deutscher Forschungen zur deutschen Ostexpansion in Osteuropa und vice versa). Dies gilt vielleicht besonders im Bereich der Geistesgeschichte, etwa für den Transfers zwischen deutschem und sowjetischen Marxismus oder der Einordnung der Debatten um deutsche Romantik und russische Slavophile im Dritte-Welt-Diskurs.6 Histoire croisée ist dagegen bisher ein innereuropäischer, wenn nicht sogar in den wenigen vorliegenden Publikationen ein deutsch-französischer Forschungsansatz.7 Vermutlich gibt es nur in wenigen Zusammenhängen Osteuropas jene Dichte an Institutionen und Quellen, welche dieses Konzept voraussetzt.

Insgesamt handelte es sich um eine spannende und gut besuchte Tagung. Sicher packte fast jeder Vortragende zu viel in seinen Beitrag und sicher gab es auch manches Name-dropping. Aber insgesamt wurde klar, welche neuen Forschungsansätze rezipiert werden und wo auf tradierten methodischen Stärken des Faches bestanden wird.

Anmerkungen:
1 Völlständiges Programm siehe H-Soz-u-Kult unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4925
2 Vorzüglich zeigt Harald Pinl in seinem Buch „Deutsch-Russischer Schiffbau vor 1914, Langenhagen 2002“ die Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen deutschen (sowie anderen) Werften und russischen Institutionen beim Technologietransfer.
3 Vgl. Hans-Heinrich Nolte (Hg.), Auseinandersetzungen mit den Diktaturen, Gleichen 2005. Das Buch macht in den Beiträgen aus Deutschland und Russland zugleich ein Netzwerk zwischen russischen Germanisten und deutschen Historikern greifbar.
4 Margarete Grandner, Dietmar Rothermund, Wolfgang Schwentker (Hg.), Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005 mit Beiträgen zur Geschichtsschreibung zu China, Japan und USA als anderen Area Studies; vgl. auch Hans-Heinrich Nolte, Welt-System und Area-Studies: Das Beispiel Russland, in: Zeitschrift für Weltgeschichte (ZWG) 1 (2000), S. 75–98; englische, ausführlichere Fassung in Review 27 (2004) 3, S. 207–242.
5 Niall Ferguson, Empire. How Britain Made the Modern World, London 2003.
6 Eugen Boris Rashkovskij, Die Dritte Welt als Problem für das Denken, die Wissenschaft und die Kultur, in: ZWG 6 (2005), S. 51–64.
7 Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 4, S. 607 – 636. die Autoren differenzieren nicht nur zwischen Vergleich und Transferanalyse einerseits und Shared History sowie Histoire croisée andererseits, sondern eben auch zwischen den beiden letzteren Konzepten. Für Histoire croisée fordern sie über die genannten Verfahren „hinaus eine spezifische Verbindung zwischen Beobachterposition, Blickwinkel und Objekt zu konstruieren“ und zur „Produktion neuer Erkenntnis aus einer Konstellation heraus, die selbst schon in sich verflochten ist“ (S.609) zu arbeiten. Das macht u.E. „métissage culturel“ in einem solchen Ausmaß zur Voraussetzung des Forschungsprozesses, dass nur wenige Verhältnisse zwischen West- und Osteuropa zum Gegenstand derartiger Forschung gemacht werden können. Darüber hinaus folgen die beiden Autoren auch der Kritik am diachronen Vergleich. Da für das Fach Osteuropäische Geschichte Ungleichzeitigkeit als feste Forschungskategorie gut etabliert ist, kommt man ohne diachronen Vergleich (als einen von mehreren Arbeitsschritten) kaum voran.