Willy Brandt und die europäische Einigung

Willy Brandt und die europäische Einigung

Organisatoren
Université Paul Verlaine Metz, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung, unterstützt vom Conseil Régional de Lorraine
Ort
Metz
Land
France
Vom - Bis
08.06.2006 - 10.06.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Bernd Rother, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

„Ein Jahr früher anberaumt, hätte die Tagung in Frankreich größte Aufmerksamkeit erregt“ – so kommentierte ein Pressebericht die Konferenz „Willy Brandt et la construction de l’Europe“ vom 8.-10. Juni 2006 in Metz. Aber leider entschieden die französischen Bürger schon vor 12 Monaten über die EU-Verfassung. So blieb es bei einer wissenschaftlichen Konferenz mit „normalem“ Medien- und Publikumsinteresse. Organisiert wurde sie von der Geschichtsabteilung der Universität Metz zusammen mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung (Berlin) sowie dem Pariser Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Unterstützung fand der Initiator der Tagung, Andreas WILKENS (Uni Metz) auch beim Lothringer Regionalrat.

Gemeinhin wird Willy Brandts Außenpolitik nicht primär mit der europäischen Einigung in Verbindung gebracht – die Ostpolitik überlagert bei Forschungsarbeiten wie bei Quellenpublikationen alle anderen Themen. Dabei war der erste außenpolitische Erfolg der Regierung Brandt/Scheel der Beschluss der Haager Gipfelkonferenz, Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien zu eröffnen. Der Europagedanke stand in Brandts politischen Konzeptionen seit dem schwedischen Exil Anfang der vierziger Jahre an prominenter Stelle.

Eine besondere Note gewann das Programm durch die aktive Teilnahme zweier „Zeitzeugen“: Brigitte SEEBACHER, Witwe Brandts, und Egon BAHR. Frau SEEBACHER hatte das Thema „Europa ist wichtig, Amerika ist wichtiger“ gewählt. Für Brandt sei immer klar gewesen, dass letztendlich Westeuropas Sicherheit und Freiheit nur von den USA garantiert werden könnten. Dies habe ihn aber nicht gehindert, die europäische Einigung auch gegen Widerstände aus Washington voranzutreiben. Früh sei Brandt für die europäische Währungsunion eingetreten, doch habe er sich daran gestoßen, dass sie schließlich in einem Tauschgeschäft mit der Zustimmung zur deutschen Einheit kam.

BAHR hielt den „Dreiklang Nation, Europa und Frieden“ für das Fazit von Brandts politischem Leben. Die Ostpolitik sei mit dem Ziel konzipiert worden, zur deutschen Einheit zu führen. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1970 sei die bewusste Vorbereitung dazu gewesen. Bahr zollte Helmut Kohl Anerkennung, 1989/90 mutig und klug die Chance zur Einigung Deutschlands genutzt zu haben. Wäre jedoch die westeuropäische politische Integration damals schon deutlich weiter gewesen, hätte die Bundesrepublik den eigenen Einigungsprozess nicht autonom gestalten können. Das Thema „Willy Brandt und Europa“ sei in Deutschland „unterbelichtet“. Für die Zeit nach einem Ende der Blockteilung habe Brandt ein sozialdemokratisches Europa angestrebt. Ob aber Großbritannien zu Europa gehöre, sei ihm in den siebziger Jahren zunehmend zweifelhaft geworden. In der Diskussion formulierte Bahr als seine eigene Auffassung, Europa werde in der Zukunft nur ohne die Briten handlungsfähig werden.

Einhart LORENZ‘ (Oslo) Skizze über Brandts Europakonzepte im Exil wurde von Wolfram Hoppenstedt (Berlin) vorgetragen. Willy Brandt begann bereits 1939 (mit 25 Jahren), seine europapolitischen Vorstellungen zu formulieren. Ziel waren – sozialdemokratische Traditionen aufnehmend – die „Vereinigten Staaten von Europa“. U.a. sollten dadurch künftig deutsche Hegemoniebestrebungen vereitelt werden. Gegen Ende des Krieges erkannte er jedoch, dass diese Vorstellungen nur langfristig umzusetzen waren. Für die Zeit nach der Niederwerfung Hitler-Deutschlands akzeptierte er Grenzveränderungen und Bevölkerungstransfers.

Wolfgang SCHMIDT (Berlin) widmete sich der Reaktion des Berliner Nachwuchspolitikers auf Adenauers Westpolitik. Brandt hielt diese für eine „Schmalspurpolitik“, die sich bei aller Berechtigung der atlantischen Orientierung zu wenig um die deutsche Einheit kümmere. Die grundsätzliche Ablehnung der Westintegration, die in der SPD-Führung vorherrschte, teilte er jedoch nicht und kam dadurch mehrfach in Konflikt mit seiner Partei. Dies gilt auch für die westdeutsche Wiederbewaffnung: Die NATO-Mitgliedschaft sah er nicht als Hindernis für eine spätere Wiedervereinigung.

Claudia HIEPEL (Essen) konzentrierte sich auf Brandts Frankreich- und Europapolitik während der Großen Koalition. Die Einschätzung, Brandt habe sich in dieser Zeit auf die Ostpolitik beschränkt und die Westbeziehungen dem Kanzler überlassen, wies sie zurück. Die Jahre 1966-1969 seien für die deutsche Sozialdemokratie Lehrjahre, aber auch eine Phase der Rückkehr zum Realismus gewesen. Die Verbesserung der Beziehungen zu Frankreich sei für Brandt der Schlüssel zur Überwindung des europäischen Immobilismus gewesen, doch blieben die Resultate mager. Brandt hielt im Gegensatz zu Kiesinger die Erweiterung Europas für unerlässlich, de Gaulle – den er im Übrigen schätzte – blockierte dies. Erst der Wechsel zu Pompidou eröffnete neue Perspektiven.

Der Zusammenarbeit zwischen Pompidou und Brandt in der Vorbereitung der KSZE galt der Vortrag von Elisabeth DU RÉAU (Paris). Beide plädierten für die Erweiterung der EWG nach außen und die Vertiefung nach innen. Auch die internationale Situation erleichterte die Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Einen vorübergehenden Dissens habe es gegeben, weil Pompidou die Vertiefung vor der Erweiterung realisieren wollte. In der Vorbereitung der Konferenz von Helsinki 1975 arbeiteten beide Regierungen eng zusammen. Einigkeit herrschte, dass die KSZE-Akte friedliche Grenzveränderungen zulassen musste. Du Réau hielt die Jahre 1969-1974 europapolitisch nicht für eine Phase des Übergangs, sondern für einen wichtigen Abschnitt beim Aufbau Europas.

Jan VAN DER HARST (Groningen) lenkte den Blick der Tagung auf die Rolle der Niederlande und Brandts Verhältnis zum Nachbarn im Nordwesten. Brandt galt als der Politiker, der sich traute, Paris zu widersprechen, und der bei der Gipfelkonferenz in Den Haag Großbritannien die Tür nach Europa geöffnet habe. Im bilateralen Verhältnis habe es während seiner Kanzlerschaft keine Probleme gegeben, nachdem Befürchtungen des niederländischen Mitte-Rechts-Lagers während der Großen Koalition, die avisierte Ostpolitik könne das atlantische Bündnis schwächen, ausgeräumt worden waren. Eine gewisse Skepsis gab es gegenüber der Brandtschen Konzeption einer europäischen Friedensordnung; für die Mehrheit der niederländischen Politiker hatte die NATO unbedingten Vorrang.

Die Haltung der öffentlichen Meinung in Frankreich zu Willy Brandt war das Thema von Rachèle RAUS (Luxemburg). Im Ausland habe Brandt schneller Anklang gefunden als in der Bundesrepublik, für die er oft noch zu modern und zu ungewöhnlich erschien. Seine Ostpolitik wurde in Frankreich mit Erleichterung aufgenommen. Das französische Deutschlandbild änderte sich zum Besseren. Misstrauen blieb gegenüber der ökonomischen Stärke des östlichen Nachbarn. Der Rücktritt 1974 stärkte Brandts Ansehen als integrer Politiker.

Vincent DUJARDIN (Louvain-la-Neuve) steuerte einen Beitrag zu Belgiens Außenminister von 1966-1973, Pierre Harmel, bei. Von Brandt hätte sich dieser manchmal eine härtere Position gegenüber Frankreich gewünscht, doch teilten sie grundsätzlich ihre Ziele. Dies ging so weit, dass der Christsoziale Harmel privat Brandt im Wahlkampf 1969 eröffnete, den Sieg der deutschen Sozialdemokraten herbeizuwünschen.

Andreas WILKENS (Metz) unterstrich die Bedeutung des Jahres 1969 als Zäsur für die deutsche und europäische Politik. Über den Wechsel des politischen Führungspersonals hinaus wurden das deutsch-französische Verhältnis und auch die weitere europäische Zusammenarbeit neu justiert. Brandt nahm bewusst die Rolle einer „erwachsen“ gewordenen Bundesrepublik in Anspruch – im europäischen wie im transatlantischen Kontext – , ohne dabei aber in zahlreichen Sachfragen eine integrierend und vermittelnd wirkende Funktion aufzugeben. Auch wenn nicht alle Initiativen der Gipfelkonferenz von Den Haag (Dezember 1969) verwirklicht wurden, fand doch im ganzen ein deutlicher Qualitätssprung der Gemeinschaftspolitik statt.

In dieser Phase entstand zwischen Jean Monnet und Willy Brandt, wie Gérard BOSSUAT (Cergy-Pontoise) darstellte, eine überaus enge Arbeitsbeziehung, zumal Monnet gezielt auf den neugewählten Kanzler setzte, um europapolitische Fortschritte zu erzielen. Der Deutsche griff speziell Monnets – schon früher entwickelte – Idee einer Wirtschafts- und Währungsunion auf und präsentierte sie beim Haager Gipfel. Das zum „Werner-Plan“ gegossene Projekt sollte in Paris, aber auch bei Wirtschaftsminister Schiller und der Bundesbank auf erhebliche Bedenken treffen und am Ende in den internationalen Währungsturbulenzen untergehen. Hinsichtlich der Ostpolitik zeigte Monnet anfänglich Reserven, weil er eine national orientierte Politik Deutschlands befürchtete. Die europapolitischen Initiativen Brandts nahmen ihm jedoch bald die Bedenken.

Italien hatte sich, so Antonio VARSORI (Padua), stets für den Beitritt Großbritanniens zur EWG eingesetzt, um die Dominanz der Achse Paris-Bonn zu verringern. Großbritannien bevorzugte jedoch Frankreich und die Bundesrepublik als Gesprächspartner und schenkte Italien wenig Beachtung. Den Gedanken einer Währungsunion hielt Rom Anfang der siebziger Jahre für verfrüht, die Priorität galt der politischen Zusammenarbeit. Der Vorschlag eines Europäischen Sozialfonds stieß – wie auch andere italienische Initiativen – auf wenig Gegenliebe.

Im Oktober 1972 präsentierte Willy Brandt dem Pariser EG-Gipfel sein eigenes Modell eines Sozialfonds, wie Sylvain SCHIRMANN (Straßburg) berichtete. Auch dies führte zu keinem praktischen Ergebnis. Die Sozialpolitik sollte auch regionalpolitische Maßnahmen einschließen und die europäische Identität stärken. In hohem Maße zielte der Vorschlag jedoch auch auf den gerade laufenden Bundestagswahlkampf ab.

Auch für die auswärtige Kulturpolitik war 1969 ein Wendepunkt, so Corine DEFRANCE (Paris). Nun wurde sie Gegenstand öffentlicher Debatten, in denen sich eine Weiterentwicklung zur „zwischenstaatlichen Gesellschaftspolitik“ (Ralf Dahrendorf) herauskristallisierte. Zielgruppe sollte nicht mehr nur die Elite sein, sondern breite Schichten plus der Multiplikatoren.

Die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit in Europa ist den Darlegungen von Ulrich PFEIL (St. Etienne) zufolge für Historiker weitgehend Neuland. Er näherte sich dem Thema anhand des Streits um westdeutsche PAL- versus französische SECAM-Technik bei der Einführung des Farbfernsehens an. Anläufe zu einer gemeinsamen europäischen Technologiepolitik blieben Ende der sechziger Jahre weitgehend folgenlos, es dominierte die nationale Konkurrenz, wie das Beispiel des Farbfernsehens zeigte. Einzig das Airbusprojekt wurde zu einer Erfolgsgeschichte, doch war dies keine EG-Initiative.

Guido THIEMEYERS (Siegen) Thema „Willy Brandt und die europäische Agrarpolitik“ führte vorab zu Zweifeln, ob dieser Bereich den Außenminister und Bundeskanzler ernsthaft interessiert habe. Der Referent konnte aber zeigen, dass Brandt die Landwirtschaftspolitik der EWG geschickt instrumentalisierte. Den Wünschen Frankreichs in diesem Bereich kam er entgegen und erwartete dafür Bewegung in der Frage der Erweiterung der EWG. Erfolg hatte er damit aber erst nach dem Amtsantritt von Pompidou.

Zu Skandinavien hatte Willy Brandt bekanntlich aufgrund des Exils in Norwegen und Schweden eine besondere Beziehung. Daher liegt die Frage nahe, ob sich dies auch bei den Beratungen über einen Beitritt Dänemarks, Norwegens und Schwedens zur EG bemerkbar machte. Robin M. ALLERS‘ (Hamburg/Berlin) Antwort lautete, dass Brandt sich zwar für den Fortgang der Gespräche mit diesen Ländern interessierte, auch versuchte, anstehende Probleme zu lösen, aber nicht um den Preis grundsätzlicher Konzessionen. Dies betraf insbesondere die angestrebte politische Zusammenarbeit der Mitgliedsländer, die für Willy Brandt ein unabdingbares Ziel des europäischen Einigungsprozesses darstellte.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
Sprache des Berichts