Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der moralischen Ökonomie

Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der moralischen Ökonomie

Organisatoren
Arbeitskreis für kritischen Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU)
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2002 - 05.10.2002
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Von
Johannes Platz, Universität Trier, FB III - Neuere und Neueste Geschichte

Im Frankfurter Institut für Sozialforschung, der Lehr-, Lern- und Forschungsstätte, die mit der Kritischen Theorie und der Figur des "nonkonformistischen Intellektuellen" (Demirovic) verbunden ist, veranstaltete der Arbeitskreis für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte (AKKU) seine Jahrestagung, die sich mit "Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der ‚moralischen Ökonomie'" befasste. Es stand das "Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt" - so der Titel der Tagung - im Mittelpunkt des Interesses. Der Tagungstitel und die Auswahl der Beiträge knüpfen an jüngere theoriegeleitete Diskussionen des Arbeitskreises zur Mikropolitik in Unternehmen, zur Rolle der Unternehmenskultur und zu Bewusstseinsstrukturen in Unternehmen an. Zur Diskussion gestellt wurde ein Spektrum jüngerer empirischer Arbeiten zur Partei- bzw. Weltanschauungspresse, zu Wohnungsbauunternehmen, zu selbstverwalteten Betrieben und zu Genossenschaften, die allesamt auf die Reformphase der Bundesrepublik fokussieren.

Eine Tagung zur Unternehmensgeschichte am Institut für Sozialforschung - das weckt die Frage, welcher Art die diskutierten Forschungsansätze waren. Unternehmensgeschichte steht - immer noch - im Ruch, eine affirmative Disziplin zu sein, die sich vornehmlich der Produktion von Erfolgsgeschichten in Festschriften und anderen Produkten unternehmensnaher Öffentlichkeitsarbeit widmet. Der Arbeitskreis für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte hat in den vergangenen Jahren gegen dieses Image erfolgreich angekämpft. Der kritische Akzent der Frankfurter Tagung lag in der Leitfrage, welche die Tagungsbeiträge strukturierte; nämlich inwiefern Organisations- und Bewusstseinsstrukturen in Unternehmen, die sich der Produktion moralischer Güter der Selbstversorgung und der Förderung ihrer Mitglieder mittels Selbstorganisation verschrieben haben und daher mit einem ausgesprochen gesellschaftspolitischen bzw. -reformerischen Anspruch antraten, im Rahmen einer Marktwirtschaft bestehen können, ob sie Ausstrahlungskraft gewinnen, gar als Leitmodelle fungieren können. Vertragen sich langfristig die Ziele der moralischen Ökonomie mit Unternehmenszwecken, die am marktwirtschaftlichen Rahmen und der betriebswirtschaftlichen Rentabilität gemessen werden oder prägt der marktwirtschaftliche Rahmen der moralischen Ökonomie seinen Stempel auf? In drei Sektionen wurden "Unternehmen als Medien der Meinungsbildung", die "Konjunkturen alternativer Unternehmensorganisation" und "Genossenschaften - Professionalisierung und Identität" unter dieser Leitfragestellung einer Analyse unterzogen.

Im Einleitungsvortrag erläuterte der Betriebswirt Josef Wieland (Konstanz) das Verhältnis von "Unternehmensethik und gesellschaftlicher Relevanz von Unternehmenspolitik". Wieland unterschied mit Personal, Systemen und Organisation drei Ebenen, die von der Unternehmensethik als handlungsrelevant in den Blick genommen werden. Den drei Ebenen ordnete er Werte, informelle Institutionen und formale Institutionen zu. An aktuellen Beispielen des "Wertemanagements" in einem weltweit operierenden Versandkonzern, in dem bestimmte Werte wie die Ächtung von Kinderarbeit von der Leitbildformulierung bis hin zur Applikation im Verhältnis zu Auftragnehmern von Experten begleitet werden, sowie zweitens der juridischen Vorschläge zur Organisationsverantwortung beleuchtete Wieland seine These, dass das Unternehmen mehr und mehr zu einem Leitmodell der Lösung gesellschaftlicher Probleme geworden sei. Er problematisierte auch die Folgen einer solchen Leitbildformulierung als moralischen Imperialismus bzw. Eurozentrismus.

In der anschließenden Diskussion wurde die Verlagerung bestimmter sozialer Lösungsansätze in das Feld der Unternehmen ausgehend von der Überlegung in Frage gestellt, dass Unternehmen am Markt orientiert sind und daher auf einen kurz- und mittelfristigen Handlungsrahmen fokussieren. Der Übernahme von infrastrukturellen Aufgaben wie die Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen und die Gemeinwesenarbeit seien durch die unternehmerische Handlungsorientierung Grenzen gesetzt. Das Unternehmen werde nur so weit und so lange sich im Gemeinwesen engagieren, wie es daraus auch einen eigenen Gewinn ziehen könne.

Die erste Sektion zu Unternehmen als Medien der Meinungsbildung, die von Tim Schanetzky (Frankfurt/Main) geleitet wurde, analysierte mit der sozialdemokratischen Parteipresse und einem christlichen Pressedienst zwei einflussreiche Meinungsunternehmen mit einer bis ins Kaiserreich zurückreichenden Tradition.

Die Tragweite unternehmenshistorischer Forschung für eine moderne Partei- und Politikgeschichte zeigte Jens Scholten (Bochum) mit seinem Vortrag "Ansätze zu einer Unternehmensgeschichte des Vorwärts nach 1945" auf. Der Unternehmensbereich der SPD, in dem agitatorische, kulturelle und sozialpolitische Zwecke mit einer ökonomischen Orientierung notwendigerweise verbunden werden mussten, liefert allerdings gleichzeitig ein Beispiel dafür, dass Tendenzunternehmen dieser Art mit den Mitteln der traditionellen Unternehmensgeschichte, die sich auf das Führungshandeln des Managements und die Binnenorganisation des Unternehmens beschränkt, nur unzureichend zu untersuchen sind. Neben dem engeren Bereich des Unternehmens, der Verlag, Redaktion und Produktion umfasst, nimmt Scholtens akteursanalytischer Ansatz die Akteursgruppen innerhalb der Partei, mit ihren verschiedenen Gremien sowie mittels rezeptionsanalytischer Ansätze die Leserschaft als Adressaten in den Blick. Die Unternehmensentwicklung des Vorwärts, dessen bis ins Kaiserreich zurückreichende Tradition 1989 in der Fusion mit der Mitgliederzeitung der SPD endete, liefert keine Erfolgsgeschichte. Die zentralen Befunde Scholtens sind daher auch die Ursachen für das ökonomische Scheitern des Vorwärts (wohlgemerkt nicht des Unternehmensbereichs der SPD!). Der Interessenpluralismus von Parteiführung und Verlag, der die Unternehmenspolitik des Vorwärts prägte, seine uneinheitliche inhaltliche Linie, das Auseinanderklaffen von Produktgestaltung, Leserschaft und Zielgruppe, die zunehmende Konkurrenz um das Anzeigengeschäft am Pressemarkt sowie schließlich eine gegenüber der SPD offener eingestellte Presse hatten dem längst defizitären Vorwärts die Geschäftsgrundlage entzogen.

Thomas Schiller (Frankfurt) bot mit seinem Beitrag über "die Geschichte des evangelischen Pressedienstes (epd)" als Chefredakteur des epd einen breitgespannten Einblick in die Geschichte, verbunden mit einem praxisnahen Überblick über die Arbeit der evangelischen Publizistik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Dabei zeigte er den Wandel vom Gegenprojekt gegen jegliche Gesellschaftsreform, das von kaisertreuen, konservativen, gerade auch gegen die Sozialdemokratie agierenden Akteuren getragen wurde, zu einem modernen, gleichermaßen an kirchlichem Mandat wie marktwirtschaftlicher Rentabilität orientierten Unternehmen, das trotz seiner strikten Überparteilichkeit gesellschaftspolitischen Reformbestrebungen heute näher steht als zu Zeiten seiner Gründung. In einem Exkurs präsentierte Schiller die Ergebnisse einer Tiefenrecherche zur Geschichte des Evangelischen Presseverbandes für Deutschland im Nationalsozialismus, der zufolge die in der Nachkriegszeit kolportierte Version eines 1937 erfolgten Verbots des damaligen evangelischen Pressedienstes als Legende entlarvt und die weitaus stärkere Verstrickung des eigenen Presseunternehmens in den Nationalsozialismus nachgewiesen werden kann. Der 1947 wieder lizensierte "Evangelische Pressedienst" war im Unterschied zum Kaiserreich und zur Zwischenkriegszeit unabhängig von Staat und auch von kirchlichen Institutionen sowie von wirtschaftlichem Einfluss. Vor diesem Hintergrund konnte sich, trotz des grundsätzlichen Strukturdefizits der absenderorientierten Presse ein professionalistisches Selbstverständnis ausbilden, das auf das geänderte Leserverhalten der Leserschichten in der Nachkriegszeit reagierte, indem es den überkommenen Verlautbarungsjournalismus durch einen professionellen Journalismus ersetzte. Heute zählt der evangelische Pressedienst mit seinen verschiedenen Spartenprodukten zu den wichtigen weltanschaulich gebundenen Presseagenturen.

In der zweiten Sektion zu Konjunkturen alternativer Unternehmensorganisation, die von Jan-Otmar Hesse (Frankfurt/Main) geleitet wurde, wurden Studien zur Unternehmensgeschichte des gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbaus sowie sozialwissenschaftliche Längsschnitt-Erhebungen zur Entwicklung der Alternativökonomie in Hessen in den 80er und 90er Jahren präsentiert. Der Freiburger Historiker Peter Kramper stellte sein Forschungsprojekt "Das gescheiterte Reformprojekt: Die NEUE HEIMAT 1950-1982" vor. Die Neue Heimat - die mit Abstand größte Vertreterin der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft - kann gemeinsam mit der Bank für Gemeinwirtschaft als das größte Flaggschiff der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft angesehen werden. Und sie ist genau wie jene untergegangen. Kramper untersucht die Entwicklung der Neuen Heimat bis nahezu zum Untergang von 1950 bis 1982 erstens im Hinblick auf die langfristigen Trends, zweitens das Zustandekommen und den Wandel der Unternehmenspolitik und drittens die unternehmensstrukturellen und -kulturellen Konsequenzen der Unternehmenspolitik. Die langfristigen Trends der Unternehmensentwicklung von 1950-1974 lassen sich als Expansionsphase, von 1974-1982 als Phase der Stagnation und des Niedergangs charakterisieren. Die Unternehmenspolitik stand im ersten Drittel der Expansionsphase noch unter dem außerökonomischen Leitbild der marktfreien Bedarfsdeckung im Wohnungsbau. Dies war mit den gewerkschaftlichen Vorstellungen über Gemeinwirtschaft außerordentlich gut verknüpfbar. Als mit Übergang zu den sechziger Jahren die Deckung des Wohnungsbedarfs näher rückte, prägten zunehmend ökonomische und marktbezogene Vorstellungen die Handlungen der Akteure in der Neuen Heimat. Vor allem in der zweiten Hälfte der 60er und in den 70er Jahren setzte die Neue Heimat auf die Erschließung des Städtebaus als neuem Geschäftsfeld. Stagnation und Niedergang nach Mitte der 70er Jahre waren ein Effekt der Wirtschaftskrise.

Als organisatorische Folge dieser grundlegenden strategischen Orientierungen entstand in der ersten Phase ein Konzern als Verbund von 25 regionalen, rechtlich eigenständigen, gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. Der Einstieg in den Städtebau erfolgte unter weitgehender Beibehaltung dieser dezentralen Struktur, allerdings nicht nach regionalen, sondern nach funktionalen Kriterien, so dass 1963/64 bereits 34 Tochtergesellschaften existierten. Aus gemeinnützigkeitsrechtlichen Gründen wurde 1969 den regionalen Wohnungsbauunternehmen ein ähnlich strukturierter Städtebaukonzern zur Seite gestellt, so dass sich die Zahl der Gesellschaften verdoppelte. Am Ende dieser Entwicklung im Jahr 1982 kontrollierte die Neue Heimat 160 Tochterunternehmen. Doch auch die Binnenstruktur der Tochtergesellschaften der Neuen Heimat war ineffizient. Während andere Unternehmen die organisatorischen Schwächen in den 70er Jahren überwinden konnten, war die Neue Heimat aufgrund ihrer spezifischen Unternehmenskultur weder reformfähig, noch -willig, da sie in der Phase des Nachfrageüberhangs der 50er und frühen 60er Jahre nicht als normaler Marktteilnehmer operiert hatte und sich auch danach jenseits des Wettbewerbs sah. Selbst in der Krise der 70er Jahre passte sich die Neue Heimat weniger dem Markt an, als dass sie auf eine politische Steuerung der Nachfrage setzte. Kramper zog das Fazit, dass die Neue Heimat als Unternehmen der moralischen Ökonomie bezüglich des Wandels seiner gesellschaftspolitischen Strategieziele weitaus flexibler gewesen sei, als im Hinblick auf die organisatorischen und kulturellen Strukturen des Unternehmens, was dazu geführt habe, dass es einen organisatorischen Wandel in der ökonomischen Krise der 70er Jahre schließlich nicht mehr bewältigen hätte können, woran das Unternehmen schließlich in den 80er Jahren gescheitert sei.

Der Sozialwissenschaftler und Volkswirt Frank Heider (Frankfurt/Main) stellte die Ergebnisse einer Längsschnittstudie zu "Selbstverwalteten Betrieben in Hessen. Eine empirische Studie für die Jahre 1986 und 1996" vor. In dieser Studie analysiert Frank Heider die Folgen der Institutionalisierung der "neuen sozialen Bewegung", die vom politischen Projekt zur professionalisierten Erwerbsarbeit geführt habe. Leitende Fragestellung mit Bezug auf das Tagungsthema war die Frage, inwiefern sich die Leitvorstellungen vom Primat der Politik zum Primat der Ökonomie vollzogen habe. Gegenstand der Studie sind Betriebe, die aus Gruppen von mindestens drei Personen bestanden, die in der Regel als gleichberechtigte Teilhaber wirkten. Eine erste Welle von Gründungen stellten Raubdruckverlage, eine zweite selbstverwaltete Druckereien und eine dritte Welle die der Ökobetriebe dar. Gerade bei letzteren ging der Prozess der Ökonomisierung mit einem ausdrücklich politischen Marketing einher: der Betriebszweck wurde im ökologische Marketing zum Leitbild erhoben, die Lebensverhältnisse durch einen individuellen Wandel der Lebensstile zu verändern. Was die Beteiligungsformen betrifft, unterschied Heider Belegschafts- von Beteiligungsunternehmen. Im Ergebnis seiner Studie lassen sich erhebliche Einwände gegen populäre Prognosen, Einschätzungen und Erklärungen formulieren: Die Summe der Alternativprojekte der 80er Jahre führte weder zu einer marktförmigen Variante von "Flohmärkten", noch zu einer Durchsetzung von Modellen der Arbeiterselbstkontrolle, noch zu einer "Renaissance des Genossenschaftsrechts". Vielmehr handelt es sich bei den Unternehmen der Alternativökonomie was die Organisationsform betrifft in der Regel um Personengesellschaften des bürgerlichen Rechts, woran sich auch in der Hälfte der Fälle in der Follow-up Studie zum Jahr 1996 nichts geändert hatte. Die andere Hälfte hatte sich in ihrer Organisationsform dahingehend gewandelt, dass sie eine klare Geschäftsführungsstruktur in einem Betrieb mit "normalen" Angestellten ausgebildet hatte. Auch im Hinblick auf die unternehmerischen Aktivitäten handelt es sich um ganz "normale" Betriebe, was die Investitionen, das Marketing und die ökonomische Praxis betrifft.

In der Diskussion wurde eine Vertiefung der Interpretationsansätze über das Verhältnis von gesellschaftlichem Reformprojekt, gesellschaftlichem Strukturwandel und der ökonomischen Strategiebildung angeregt. Zu Heiders Vortrag wurde angemerkt, das ein entscheidender Impuls für die unternehmensgeschichtliche Forschung von der Analyse der alternativen Organisationsformen, den alternativen Organisationsstilen sowie der governance-Struktur und ihrer Ausstrahlungskraft auf mainstream-Unternehmen ausgehen könnte.

Genossenschaften als Unternehmen der moralischen Ökonomie standen im Mittelpunkt der dritten, von Jens Scholten geleiteten Sektion "Genossenschaften - Professionalisierung und Identität", in der Forschungen zum Lebensmitteleinzelhandel und zum Wohnungsbau vorgestellt wurden.

Tim Schanetzky (Frankfurt/Main) untersuchte in seinem Beitrag "Effizienz oder Genossenschaftsgeist? Genossenschaften als hybride Organisationen. Das Beispiel der Hattinger Wohnstätten 1949-1980" welche Auswirkungen der Professionalisierungsprozess im Management genossenschaftlicher Unternehmen auf das Reformprojekt des gemeinwohlorientierten Wohnungsbaus hat. Im Anschluss an Alfred D. Chandler zeigte Schanetzky auf, wie sich unternehmerische Strategie in der unternehmerischen Organisation niederschlägt. Die Hattinger Wohnstätten e. G., deren Gründung auf bürgerliche Honoratioren im Jahr 1899 zurückgeht, wurde ab 1923 zunächst "sozialdemokratisiert", in dem Sinne, dass die Repräsentanten der Genossenschaft sozialdemokratische Funktionäre waren, 1933 nazifiziert und nach 1945 "resozialdemokratisiert". Mit der "Sozialdemokratisierung" ging auch die Forcierung des gesellschaftsreformerischen Charakters der Genossenschaft einher. Die entscheidenden Professionalisierungs- und Bürokratisierungsschübe sind auf die Nachkriegszeit zu datieren, in welcher der Übergang von der Ehrenamtlichkeit zur Hauptamtlichkeit, die Ausbildung einer bürokratischen Verwaltung mit verbindlichen Strukturen und die Stärkung der Unternehmensleitung einhergehend mit der Zurückdrängung partizipatorischer Mitwirkungsmöglichkeiten vollzogen wurde. Diese Schritte sind im Zusammenhang mit einer klaren unternehmerischen Expansionsstrategie zu sehen, für die ein erhöhter Kapitalbedarf zu decken war. Dieser wäre, da er mit erhöhten Mitgliederbeiträgen finanziert werden musste, in der überkommenen Struktur nur schwerlich durchsetzbar gewesen. Neben die Ersetzung der Mitgliederversammlungen durch die Vertreterversammlung, in die lediglich Wahlvertreter für die Aufsichtsrats- und Vorstandswahl zu wählen waren, trat die Erweiterung des Handlungsspielraums des Vorstands. Auch in der konkreten Unternehmenspolitik zeichneten sich durch Informationsasymmetrien zwischen Vorstand und Aufsichtsrat Tendenzen ab, den Aufsichtsrat für die strategischen Entscheidungen des Vorstands zu instrumentalisieren. In Folge dieser Entwicklung ging die genossenschaftliche Unternehmenskultur mehr und mehr verloren; allerdings blieben eine Reihe unternehmensstruktureller Probleme ungelöst.

Clemens Reichels (Frankfurt/Main) Tagungsbeitrag "Von der Eisenbahnergenossenschaft zum Marktunternehmen: Die ‚Allgemeine Saar-Konsum' (Asko)" analysierte den Unternehmenswandel der 1880 als Saarbrücker Eisenbahner-Consum-Verein gegründeten und 1921 in Allgemeiner Saar-Konsum umbenannten Genossenschaft mit dem Focus auf ihre Nachkriegsentwicklung bis zur Umwandlung in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1972. Die Rahmenbedingungen in der Nachkriegszeit waren im Saarland wegen der französischen Besatzung, die dem Unternehmen einen relativen Schutz vor bundesdeutschen Filialunternehmen bot, und dem Anstieg der Massenkaufkraft günstig. Die allgemeine Geschäftsentwicklung lässt sich in drei Phasen einteilen. In der ersten Phase von 1946-1955 stieg die Zahl der Genossenschaftsmitglieder von 22.000 auf 56.000; damit ging ein Ausbau des Ladennetzes und eine Änderung der Distributionsform einher. Anreiz zur Mitgliedschaft war die sogenannte jährliche Warenrückvergütung, also die Vergütung des Rabatt-Anteils von bis zu 10 % in Waren an die Mitglieder der Genossenschaft. Durch die Massenmitgliedschaft änderte sich sukzessive die Mitgliederbindung des Unternehmens. In der zweiten Phase von 1955-1966 markiert die aufkommende Konkurrenz der großflächigeren Supermärkte bundesdeutscher Filialketten die Zäsur. Durch die 1956 erfolgte gesetzliche Beschränkung der Rückvergütung auf 3% wurde die konsumgenossenschaftliche Unternehmensstrategie der Mitgliederbindung durch Rückvergütung radikal in Frage gestellt; der Übergang zu einer aktiven Preispolitik, die durch verbilligte Preise Kunden an das Geschäft binden sollte, stellte die bisherige mitgliederorientierte Unternehmenspolitik in Frage, insofern für die Inanspruchnahme der genossenschaftlichen Leistungen eine Mitgliedschaft nicht mehr vonnöten war. Der Rückgang der Mitgliederzahlen, die Reduzierung von Standorten und Personal kennzeichneten diese Phase. Neben die Förderung der Mitglieder trat deutlich die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens. Zwischen 1965 und 1971 vollzog sich ein grundlegender Wandel in der Formulierung der Unternehmensstrategie. Dieser Wandlungsprozess führte weg vom Ziel der Mitgliederförderung und hin zur Formulierung unternehmerischer Ziele, die sich in personalpolitischen Entscheidungen wie der aktiven Reduzierung der Zahl der Mitarbeiter und der aktiven Standortpolitik der Beschränkung auf die ertragreichen Verkaufsstellen äußerte. Der Generationenwechsel im Aufsichtsrat tat sein übriges, um die Abkehr von der genossenschaftlichen Organisationsform einzuleiten und die Orientierung auf ein betriebswirtschaftlich professionell geführtes Unternehmen durchzusetzen, was mit dem Beschluss, den Asko in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, schließlich 1972 in die Tat umgesetzt wurde.

Die in den Fallstudien aufgezeigten Perspektiven verdeutlichten den Charakter einer experimentellen Anlage der Tagung, insofern sie die überkommenen Ansätze der Parteigeschichtsschreibung, der Genossenschaftsgeschichtsschreibung wie auch das allgemeine Weltwissen über den Charakter "alternativer" Unternehmen herausforderten. Es handelt sich bei den diskutierten Beiträgen in der Mehrzahl um solche, die ein neues Konzept auf diese für die Unternehmensgeschichte, die sich mehrheitlich immer noch mit der Großindustrie beschäftigt, untypischen Unternehmen angewendet haben und damit die Fruchtbarkeit der Übertragung von unternehmenshistorischen Ansätzen auf die Politikgeschichte, Pressegeschichte und die Genossenschaftsgeschichtsschreibung unter Beweis stellten. Die Einordnung in einen weitgefassten Rahmen der Zeitgeschichte und in die engere Geschichte der Reformjahre der Bundesrepublik haben die Reichweite und vor allem die Grenzen des gesellschaftsreformerischen Impetus in einer marktwirtschaftlichen Ordnung beleuchtet, ohne die marktwirtschaftliche Orientierung per se zu verteufeln. Die Parallelen im Wandel der Organisationsstrukturen der angesprochenen Unternehmenstypen regen zur vergleichenden Untersuchung der Ökonomisierung und Bürokratisierung des Sozialen an. Wie auch neuere Ansätze zur Ökonomisierung des Sozialen im Umfeld der an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsforschung zeigten die in Frankfurt diskutierten Studien die Anziehungskraft des marktwirtschaftlichen Dispositivs auf. Problematisch erschien in dieser Hinsicht allenfalls die häufige Thematisierung des "Niedergangs" - eines hehren Anspruchs in rauer Wirklichkeit, einer Idee, eines Unternehmens oder einer Unternehmensform -, die aber vielleicht auch nur eine Erzählform des Historischen ist.

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Johannes Platz, M.A.
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54290 Trier
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Fax. 0651-201-2179
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