Ernst Reuter als Kommunalpolitiker, 1922-1953

Ernst Reuter als Kommunalpolitiker, 1922-1953

Organisatoren
Technische Universität Berlin, Center for Metropolitan Studies , Landesarchiv Berlin, Deutscher Städtetag, Stiftung Checkpoint Charlie
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2007 - 24.03.2007
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Von
Moritz Feichtinger, TU Berlin

Ernst Reuter zählt zu den bedeutendsten deutschen Politikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und seine politische Biographie ist wie kaum eine andere von den Umbrüchen dieser Zeit geprägt. Dennoch – vielleicht aber auch deswegen – haben die Medienöffentlichkeit, aber auch eine am Narrativ des Kalten Kriegers orientierte historische Forschung ein hochgradig selektives, ja stereotypes Bild des standhaft-pathetischen Berlin-Verteidigers („Völker der Welt ...“) ausgearbeitet und in den Köpfen festgesetzt. Stark vernachlässigt wurde in der bisherigen Reuter-Biographik vor allem die Tatsache, dass dieser in seinem Selbstverständnis wie in seiner Praxis ein in erster Linie Kommunalpolitiker war.

Eine Konferenz des Centers for Metropolitan Studies (CMS) der TU Berlin und des Landesarchivs Berlin (in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Deutschen Städtetag, der BVG, der Checkpoint-Charlie Stiftung Berlin, der Türkischen Botschaft und der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit) unternahm nun einen ersten Schritt, das Erinnerungsstereotyp „Ernst Reuter“ zu erweitern, und Leistungen dieses Politikers in das heutige politische Bewusstsein zurückzuholen.

David Barclay/Kalamazoo College (Ernst Reuters Tätigkeit als Sowjetkommissar im Wolgagebiet) begann seinen Vortrag mit einer Darstellung der Vorwürfe, die Reuter, vor allem von Vertretern der neuen Rechten und den Nationalsozialisten gemacht wurden: Er sei als Sowjetkommissar für die Erschießung von 200.000 Wolgadeutschen direkt verantwortlich gewesen. Es gelang Barclay nachzuzeichnen, dass diese Anschuldigungen sich auf nicht ernst zu nehmende Quellen stützten. Er betonte, dass es für den jungen Reuter eine unvergleichliche Chance gewesen sei, in jungen Jahren als Sowjetkommissar eine hohe politische Verantwortung zu tragen.

Adelheid von Saldern befasste sich in ihrem Vortrag (Frühe sozialdemokratische Kommunalpolitik) mit Ansätzen früher sozialdemokratischer Kommunalpolitik vom Wilhelminismus bis zur Weimarer Republik. Besonders einflussreich war das Konzept des Munizipalsozialismus, das auf einer breit angelegten Errichtung kommunaler Betriebe beruht. Die Kräfteverhältnisse in der Weimarer Zeit, insbesondere die Stärkung der SPD und die neuen finanziellen Abhängigkeiten der Kommunen von Land und Reich ließen die Kommunalpolitik zu einem politischen Konfliktfeld hoher Intensität werden. Diese Konflikte betrafen zum einen den Ausbau einer die Klassengesellschaft integrierenden „sozialen Infrastruktur“ mit hohen Versorgungsstandards „für alle“, zum anderen das von der SPD und Ernst Reuter vertretene Konzept der Gemeinwirtschaft, das die munizipalsozialistischen Ideen aus der Vorkriegszeit aktualisierte und konkretisierte. Genossenschaften, selbständig arbeitende gemeinwirtschaftliche Unternehmen (möglichst mit einem starken kommunalen Anteil) sowie Kommunalbetriebe, wurden nun entschieden gefördert. Die Kommunalpolitik der 1920er-Jahre, die trotz der finanziellen Abhängigkeiten und der wirtschaftlichen Krisen beachtliche Leistung erbrachte und – wie der von Reuter betriebene Berliner Verkehrsausbau – sichtbare Zeichen der Moderne setzte, wurde durch die wirtschaftsnahen „Bürgerblöcke“ (Vorwurf der „kalten Sozialisierung“) und die Nationalsozialisten schon vor und erst recht nach 1933 Schritt für Schritt aus dem Gedächtnis der Bevölkerung verdrängt.

Karl Ditt (IfR Münster) resümierte in seinem Vortrag (Munizipalsozialismus und Kommunalwirtschaft in Deutschland, 1900 – 1933) am Beispiel der Energiewirtschaft zunächst die Erwartungen, welche die Sozialdemokratie mit dem Munizipalsozialismus verband. Neben größerer finanzieller Unabhängigkeit der Kommunen sollten die städtischen Monopolbetriebe auch eine – im Unterschied zu den Privaten – sichere Grundversorgung aller Stadtbewohner gewährleisten, und zwar zu möglichst niedrigen Preisen. Ditt entfaltete am Beispiel der Elektrizitätsversorgung, das Argument, dass die Kommunalwirtschaft langfristig keine Chance hatte erfolgreich zu sein und damit zur Verwirklichung des demokratischen Sozialismus beizutragen: Im Kaiserreich hielten sich die Städte in diesem Bereich zunächst zurück, da noch nicht absehbar war, wie sich die Nachfrage nach Elektrizität entwickeln würde. Als sie nachzogen und eigene Kraftwerke bauten, gab es bereits eine entwickelte private Elektrizitätswirtschaft. In der Weimarer Republik kamen schließlich noch der Staat und die Länder als weitere Konkurrenten sowie eine ungünstige Regelung der Einkommens- und Körperschaftssteuer bremsend hinzu. In diesem Umfeld stießen die städtischen Elektrizitätswerke, die angestrebten Rationalisierungsvorteile verfehlend, schon in der Weimarer Republik an ihre Grenzen.

Detlef Lehnert/FU Berlin (Kommunale Finanzpolitik im Berlin der 20er Jahre) rekonstruierte – im erhellenden Vergleich mit Wien – den Weg der Metropole Berlin in die Verschuldungskrise der späten 20er, frühen 30er Jahre. Die Leistungsprobe der Metropolen lag in der Bewältigung der Massenprobleme, die sich auf Wohnungen, Mobilität und Versorgung/Entsorgung sowie Massenfreizeit und -konsum bezogen. Berlin habe sich hier schon 1925, also vor Reuters Aufnahme in den Magistrat, auf einen riskanten Weg der Schuldenpolitik begeben. Risikoträchtig war vor allem die Art der Kredite – kurzfristige, schwebende Kredite mit enorm steigenden Zinssätzen –, weniger deren Höhe. Als wichtigste Ursache der Verschuldungskrise sah Lehnert nicht so sehr die auch von Reuter 1929 scharf kritisierte staatliche Kontrolle der Kommunalfinanzen durch Reichsbank und Weimarer Regierungen. Vielmehr sei die etatistische Tradition der deutschen SPD der Grund gewesen. Sie habe die in Berlin mitregierenden Sozialdemokraten tief in Grundstücksankäufe, Wohnungsbauprojekte und städtischen Infrastrukturbau „für alle“ eingebunden und damit in ein Netz von Kommunalbetrieben, das zumindest kurz- und mittelfristig die Verschuldung förderte. In Wien hat die Koalition der Sozialdemokraten mit einem starken sozialen Liberalismus, aber in der englischen Tradition des self-government, auf genossenschaftlichen Grundlagen dieselben Standards erreicht, allerdings ohne eine Verschuldungskrise.

Felix Escher/TU Berlin (Ernst Reuter und die Gründung der BVG) wies auf, dass Reuter schon 1922 als Abgeordneter der USPD in der Berliner Stadtverordnetenversammlung die vermutlich „größere Rentabilität und höhere Produktivität“ kommunaler Betriebe als Vorbereitung „größerer Aufgaben“ verstand und sie damit als nicht-revolutionäre Alternative einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation betrachtete. Belastet wurde dieses Projekt des „rationaleren“, der Privatwirtschaft überlegenen kommunalen Verkehrsbetriebs durch seine Einbindung in staatsabhängige Notstandsmaßnahmen, durch die staatlich verordnete Aussperrung der Städte von den günstigeren ausländischen Kreditmärkten und durch die extreme Verschuldungskrise Berlins in der großen Depression seit 1929. 1930 kam das Flaggschiff Reuterscher Verkehrspolitik, der U-Bahn-Bau, schließlich für lange Zeit zum Erliegen.

Matthias Tullner/Magdeburg (Kommunalpolitik unter wachsendem Radikalisierungsdruck. Ernst Reuters Magdeburger Jahre, 1931 -1933) rückte Reuters Wechsel nach Magdeburg 1930 in die Perspektive von Kontinuität und Wandel: Wandel beim Umzug von der Metropole in eine Mittelstadt sowie beim Aufstieg vom Berliner Verkehrsdezendenten zum Magdeburger Oberbürgermeister. Kontinuität dagegen in seinen Kompetenzfeldern: Sozialpolitik, Wirtschaftsförderung, Kredit- und Finanzpolitik sowie – trotz der Wirtschaftskrise – visionäre Stadtentwicklungspolitik. Als bedeutendste Leistung Reuters in dieser kurzen Oberbürgermeister-Phase hob Tullner hervor, dass es diesem mit seiner Sozialpolitik, die sich auf die augenfälligsten Notlagen konzentrierte (Unterstützung von Langzeitarbeitslosen, Fürsorgeprogramme wie die berühmt gewordene "Winterhilfe" Magdeburgs, Bau von Selbsthilfesiedlungen) gelang, die Anerkennung der Bevölkerung zu gewinnen, das Ansehen seiner Partei in der Stadt zu stabilisieren und damit dem Nationalsozialismus – wenn auch letztlich vergeblich – Grenzen zu setzten.

Ruşen Keleş/Universität Ankara skizzierte in seinem Vortrag (The Contribution of Ernst Reuter to the Culture of Turkish Urbanisation) die Wirkung der Lehrtätigkeit Reuters in der Türkei. 1935 in die Türkei gekommen und dort von 1938 bis 1946 als Professor lehrend, hat Reuter nicht nur eine ganze Generation von Verwaltungsbeamten geprägt, sondern auch beim Aufbau des später nach ihm benannten Instituts für Städtestudien der Universität Ankara richtungweisende Akzente gesetzt. Zum Zeitpunkt seines Eintreffens befanden sich die Stadtplanung der Türkei wie die Urbanisierung insgesamt, noch in den Anfängen. Die Kemalisten wollten bei ihrer Modernisierung der Türkei die Städte nach westlichem Vorbild bauen bzw. umbauen. Reuter als Berater des Wirtschaftsministeriums regte an, sich frühzeitig über die angestrebten Parameter dieser Urbanisierung Gedanken zu machen: über das Ausmaß der Verstädterung, über die optimale Größe der Städte (hier warnte er vor den „Millionenstädten“ als Fehlentwicklung), über deren Dichte und über das zu erwartende Verkehrsaufkommen. Nur durch gesellschaftliche Kontrolle und politische Lenkung könnten die Negativeffekte des Urbanisierungsprozesses gemindert, seine Vorteile aber genutzt werden. Reuter blieb auch in der Türkei seinen kommunalpolitischen Idealen treu. Er lehrte die Vorzüge des Munizipalsozialismus, der kommunalen Selbstverwaltung, aber auch die einer weitsichtigen Haushaltsführung (das Wort „Finanzausgleich“ wird in der Türkei noch heute in diesem Kontext verwandt). Keleş hob besonders Reuters Empfehlung eines sozialen, genossenschaftlichen bzw. gemeinnützigen, die Mietpreise kontrollierenden Wohnungsbaus hervor sowie dessen Warnung vor Immobilien- und Bodenspekulation.

Cem Dalaman/RBB (Ernst Reuter und die deutsche akademische Emigration in der Türkei, 1933 – 1945) referierte zunächst übergreifend zur Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten. Anschließend konzentrierte er sich auf die für das Reuterthema zentrale Gruppe der akademischen Emigration. Die Türkei stellte als Fluchtland eine Besonderheit dar: Das Land stand bis 1943 in engen wirtschaftlichen Beziehungen zum Deutschen Reich, gewährte aber allen Flüchtlingen Schutz. Akademiker (insgesamt ca. 900, darunter 84 Professoren) wurden sogar gezielt angeworben und relativ gut bezahlt. Sie mussten dafür bestimmte Leistungen erbringen: So wurde vertraglich festgelegt, dass die Hochschullehrer nur auf Türkisch publizieren und unterrichten durften. Außerdem war ihnen jegliche sonstige bezahlte Tätigkeit, wie auch politisches Engagement verboten. Dennoch nahmen diese Bedingungen 326 Lehrkräfte in Kauf, bedeutete es doch die Möglichkeit im eigenen Beruf weiterarbeiten zu können und darüber hinaus bei den vielen Neugründungen von Instituten mitgestaltend tätig zu werden. Reuter, der schon seit 1935 als Sachbearbeiter für allgemeine Verkehrs- und Tariffragen im türkischen Wirtschaftsministerium beschäftigt war, erhielt 1938 einen Lehrauftrag für Kommunalpolitik an der Hochschule für Politische Wissenschaften in Ankara. Dort bildete er vornehmlich spätere Landräte aus. Parallel dazu schrieb er in türkischer Sprache eine große Zahl von Aufsätzen und Büchern über die Kommunalwirtschaft und den öffentlichen Verkehr. Obwohl Reuter die türkische Staatsbürgerschaft trotz wiederholten Angeboten nicht annahm, bezeichnete er die Türkei bis zu seinem Tod als „seine zweite Heimat“.

Bernd Nicolai/Universität Bern (Ernst Reuter und Martin Wagner im Spiegel von Emigration und Exil) rekonstruierte auf der Grundlage des Briefwechsels Reuter – Wagner Zustand und Wahrnehmung des Exils sowie die Reflexion über eine künftige Re-Migration. Das Exil wurde von beiden mit Metaphern der Vorläufigkeit als „goldener Käfig“ und „Wartesalon“ beschrieben, der Wert der Arbeit vor Ort wurde von Reuter wiederholt bezweifelt. Bei ihm findet sich immer wieder das Schwanken zwischen der konkreten Arbeit in der Türkei und der Entwicklung von Visionen für die Zeit nach NS und Krieg, die Hoffnung auf baldige Wiederkehr in die Heimat und in die vorherige politische wie berufliche Tätigkeit. Auf städtebaulichem Feld bot die Türkei sowohl Reuter wie auch Wagner Möglichkeiten, ihre Vorstellungen zu verwirklichen, aber stets nur in mühsamem Kampf gegen Widerstände im Gastland. Während Reuter nach dem Krieg schnell nach Berlin und in wichtige Positionen zurückkehrte, wurde Wagner nicht das große Angebot offeriert, das er offensichtlich erwartete. In amerikanischer Wartestellung wurden seine Briefe zunehmend larmoyanter, bis er schließlich den Gedanken an eine Re-Migration ganz aufgab.

Klaus Dettmer/ LAB (Kampfjahre. Ernst Reuter und der Berliner Magistrat) betonte in seinem Vortrag, dass Ernst Reuter nach seiner Rückkehr aus der Türkei in Berlin Parteien vorfand, die es erst lernen mussten, in Kooperation und Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten zu Sprechern der Bevölkerung zu werden. Gegen Besatzerallmacht setzte er seinen nie in Zweifel gezogenen Glauben an die Kraft der deutschen städtischen Selbstverwaltung zu eigenständiger politischer Erneuerung. Mit seinen populären RIAS-Vorträgen („Wo uns der Schuh drückt“), seinem Bürgerbüro, dem ersten in Berlin überhaupt, und seinen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften fand er schnell Kontakt zur Berliner Bevölkerung. Das Beharren auf städtischer Selbstverwaltung, sein Kampf gegen die zunehmende Blockade der stadtparlamentarischen Arbeit, auch seiner Wahl zum Oberbürgermeister, brachte ihn, wie die ihn tragende breite bürgerlich-sozialdemokratische Koalition, in einen immer schärferen Gegensatz zur sowjetischen Besatzungsmacht. Die Teilung des Magistrats in einen von den Sowjets dekretierten Ost- und einen von den auf Selbstverwaltung beharrenden Parteien West-Berlins konstituierten West-Magistrat wurde unvermeidbar.

Siegfried Heimann/FU Berlin schilderte in seinem Vortrag (Aufbaujahre. Ernst Reuter und die Führung der SPD 1947 – 1952) die Auseinandersetzungen Reuters mit der Berliner SPD und dem Kreis um Franz Neumann, aber auch mit der Bundes-SPD und ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher. Heimann ging der Frage nach, wie Reuter, die DDR konsequent ablehnend und von der Sowjetischen Besatzungsmacht wie von den daheim gebliebenen Genossen an der Parteibasis gleichermaßen misstrauisch beobachtet, so schnell einen so großen Einfluss auf die SPD gewinnen konnte. Die Erklärung sah er in Reuters durchweg sachlich-fairem Auftreten, seinen guten persönlichen Beziehungen in nahezu alle politischen Richtungen, seine Exilerfahrungen, die ihm Selbstbewusstsein gaben gegenüber den Besatzungsmächten, schließlich auch seine Sprachkenntnisse und die Einbindung in weit ausgreifende internationale Netzwerke. Dies alles habe ihm diejenige Unabhängigkeit und Flexibilität in konkreten politischen Entscheidungsprozessen gegeben, die ihn zur Identifikationsfigur für eine sich gerade neu formierende Sozialdemokratie machten. Diese habe ihm, als Berlin-, Bundes- und Außenpolitiker in einer Person, seine vielfältigen Kompromisse und seine zum Teil erheblichen Differenzen zu den berlinpolitischen Positionen Franz Neumanns und den bundes- wie europapolitischen Positionen Schumachers nicht übel genommen.

Wolfgang Hofmann/TU Berlin sprach über "Ernst Reuter und der Deutsche Städtetag". Reuter war zweimal, zunächst von 1924 bis 1933 und nach seiner Rückkehr aus der Türkei von 1949 bis zu seinem Tod 1953, Mitglied des Städtetages, in der zweiten Phase als dessen Präsident. In der Weimarer Republik galt es, die Städte in einem werdenden, von der Verfassung vorgreifend versprochenen demokratischen Sozialstaat zu positionieren und mitzuhelfen, mit sozialdemokratischer Leistungsverwaltung dieses Verfassungsversprechen einzulösen. In der zweiten Phase nutzte Reuter das Forum des Städtetags dazu, West-Berlin als eigenständiges Bundesland fest in der Bundesrepublik, und damit im Westen, zu verankern. In beiden Phasen arbeitete er erfolgreich an einer dichten und produktiven Vernetzung der sozialdemokratischen Bürgermeister.

Heinz Reif/CMS der TU Berlin (Die Reise nach Amerika 1929. Ernst Reuters Amerikabild) interpretierte die Großstadtwahrnehmung Reuters auf der sechswöchigen Reise quer durch die USA, insbesondere aber die Begegnung mit New York, als einen Spiegel, in dem er die gegenwärtige wie zukünftige „Weltstadt Berlin“ reflektierte und entwarf. Das Ergebnis war eine Vision des "Neuen Berlin", die exemplarisch im „Reuter-Wagner-Plan“ (Ludowica Scarpa) des neuen Alexanderplatzes konkret wurde. Man könnte von einem Konzept einer „Weltstadtentwicklung aus dem Geist des Verkehrs“ sprechen. Dieses Projekt scheiterte, wie so vieles, an der Verschuldungskrise der Stadt. Trotzdem war Reuter ein „passionierter Stadtplaner“ geworden und ist es sein Leben lang geblieben.

Abschließend stellte Klaus Dettmer/LAB erste Ergebnisse einer Recherche zum Berliner Gedenken an Ernst Reuter vor. Die Topographie Berliner Erinnerungspolitik reicht von der Bearbeitung des Nachlasses im Landesarchiv, über eine Reihe von Denkmälern und Feiern, Briefmarken und Ernst-Reuter-Plaketten, Namen von Verkehrsplätzen, Schulen und Siedlungen bis hin zum Trauerzug und dem Ehrengrab auf dem Waldfriedhof.

In der Schlussdiskussion ergaben sich vier dringende Forschungsdesiderate. Erstens: Die weitere Erforschung der Gründe für den früh „versteinerten“ und in erstaunlichem, erklärungsbedürftigem Maße früh vergessenen Ernst Reuter. Zweitens: Die Konfrontation des Stereotyps „Kalter Krieger“ mit der Tatsache, dass Reuter Russland kannte und dessen Kultur liebte, den aufkommenden Ost-West-Konflikt sehr differenziert sah und damit eher als ein Vorläufer der sozialdemokratischen Ostpolitik zu sehen ist, denn als Frontmann des Kalten Krieges. Drittens: Der begeisterte, einem linken, eher konsumorientierten Fordismus verpflichtete, Städtebauer und Stadtplaner Reuter in der Weimarer Republik wie in der Nachkriegszeit. Viertens Reuters Beiträge zu einer modernen, sich demokratisierenden Türkei, als einflussreiche Kernfigur einer Emigrantengruppe und Brückenbauern zwischen beiden Nationen.

Wie groß hier Verlust und Erinnerungsbedarf sind, machte nicht zuletzt der öffentliche Abendvortrag (Jahre in der Türkei – ein lebendiges Erbe?) von Edzard Reuter, dem Sohn Ernst Reuters deutlich. Edzard Reuter rückte das türkische Exil seines Vaters in heutige politische Zusammenhänge und „prognostizierte“, sein Vater hätte sich, wenn er noch am Leben wäre, vehement für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union eingesetzt.

Vortragende wie Zuhörende der Tagung zeigten sich nach deren Abschluss zu weiterem Austausch angeregt. Die Forscherinnen und Forscher lobten, dass nicht nur Forschungslücken in der Reuter-Biographik, sondern auch multidisziplinäre Ansätze diese zu schließen aufgezeigt wurden. Als besonders anregend wurde die räumliche Nähe zum Reuterschen Nachlass im Landesarchiv, die Vernetzung mit türkischen Forschern und der tiefe Einblick, der von diesen in die dortige Universitätslandschaft gewährt wurde, empfunden. So stieß die Ankündigung Heinz Reifs, eine Übersetzung und Veröffentlichung der urbanistischen Schriften Reuters sowie weiterer Quellen aus dessen Nachlass vorantreiben zu wollen auf große Zustimmung.

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