Psychiatrische Krankenakten als Material der Wissenschaftsgeschichte. Methodisches Vorgehen am Einzelfall

Psychiatrische Krankenakten als Material der Wissenschaftsgeschichte. Methodisches Vorgehen am Einzelfall

Organisatoren
Heinrich-Böll-Stiftung; Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin (DFG-Projekt He 2220/6 Die Wahrnehmung psychischen Krankseins in den Krankenakten der Berliner Charité, 1880-1900 )
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.05.2007 - 19.05.2007
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Von
Michaela Ralser, Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Innsbruck

Vom 17. bis 19. Mai 2007 fand am Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner Charité die zweite Tagung einer Reihe 1 statt, welche die psychiatrische Krankenakte als Quelle der Wissenschaftsgeschichte ins Zentrum stellte. Eine Förderung der Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2 ermöglichte einen spannenden Dialog zwischen NachwuchswissenschaftlerInnen und solchen, die im Feld der Psychiatrie-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte schon seit langem zu Hause sind. Dass die Tagung ein Gewinn für alle Beteiligten wurde, ist zuallererst der klugen und umsichtigen Organisation der Veranstalter unter der wissenschaftlichen Leitung von Viola Balz, Volker Hess und Katharina Weikl zu verdanken.

Das Gewicht der Quelle...

Darüber, dass sich die psychiatrische Krankenakte als Ensemble eines vielstimmigen Aussage- (Michel Foucault) und Aufschreibesystems (Friedrich A. Kittler) auf herausragende Weise eignet, Auskunft zu geben über Arbeitsorganisation, Datenerhebungsverfahren, Aufzeichnungspraxis, Theorieverarbeitung und -aneignung der Klinik, respektive der Anstalt, herrscht(e) unter den TeilnehmerInnen Einigkeit. Ebenso darüber, dass sie ein Material besonderer Qualität darstellt, Wissenschaft als Praxis (Bruno Latour) und als soziale Aktivität (Pierre Bourdieu, Timothy Lenoir) zu untersuchen und Praktiken empirischer Erkenntnisgewinnung, Diagnosebildung und Behandlungsgewohnheiten zu rekonstruieren und daraus Aussagen von Gewicht zu schöpfen für eine vertiefte Kenntnis der historischen Praxis der psychiatrischen Wissenschaft und „Klinik“. Gewissheit herrschte unter den TeilnehmerInnen auch darüber, dass sich die Krankengeschichte, respektive Krankenakte – trotz ihrer doppelten Erzählstruktur, der Binnenerzählung der PatientInnen und der Rahmenerzählung der Kliniker (Wolfgang Müller-Funk) – ihrer Herkunft nicht entziehen könne (Gerhard Bader), Dokumentationsmittel der Psychiatrie als Institution und Disziplin (Robert Castel) zu sein und Aufschreibesystem im Rahmen der Ordnung der Pathologie (Michel Foucault). Gegen den Strich gelesen aber würde sie dennoch die Sicht auf den Patienten, die Patientin und unter besonders günstigen Bedingungen (insbesondere im Falle des Vorhandenseins von Ego-Dokumenten) auch die Sicht und Aktivität der Patienten und Patientinnen freigeben, zumindest soweit, als sie vertieften Einblick in die Interaktions- und Kommunikationsprozesse zwischen den „Kranken“ und ihren „Behandlern“ ermöglichte, auch dann, wenn deren Beiträge regelmäßig mit unterschiedlicher Macht ausgestattet blieben.

Eine Fülle von Forschungsunternehmungen und -fragen

Standen in der letztjährigen Fachtagung methodologische Gesichtspunkte (Quellengattung, Auswahlkriterien und Interpretationsverfahren) im Vordergrund, rückte auf der diesjährigen Forschungskonferenz die konkrete „Arbeit am Fall“ ins Zentrum der Auseinandersetzung. Am Beispiel eines Einzelfalls sollte die jeweilige methodische Herangehensweise und spezifische Fragestellung am Material fokussiert werden. Zuallererst beeindruckt die Fülle der Forschungsunternehmungen. Standen in den letzten Jahrzehnten nur vereinzelnd psychiatriehistorische Arbeiten zur Verfügung, welche sich explizit und mit Gewicht der Quelle „Krankengeschichte“ bedienten, scheint die Beschäftigung mit der psychiatrischen Krankenakte nun auch im deutschen Sprachraum an Boden zu gewinnen. Elf BeiträgerInnen (neun Frauen und zwei Männer) aus Deutschland, der Schweiz und Österreich präsentierten ihre zum Teil umfangreichen Krankenaktenstudien. Sechs ProjektkommentatorInnen (Eric Engstrom, Volker Hess, David Lederer, Maike Rotzoll, Kai Sammet, Heinz-Peter Schmiedebach) und zwei Tagungskommentatorinnen (Marietta Meier, Karen Nolte) begleiteten die Projektpräsentationen mit anregenden Kritik- und Diskussionsbeiträgen. Dies stellte ein – wie ich meine – in jeder Hinsicht gewinnbringendes und ein die Auseinandersetzung förderndes Tagungsdesign dar.

Im Zentrum die Krankenakte. Zehn Forschungsprojekte in Diskussion

Der erste Tagungsbeitrag (Ulla Rinkes) stellte insofern eine Ausnahme dar, als dass er sich mit einer Zeit vor dem Beginn der modernen Psychiatrie beschäftigte. Rinkes suchte entlang von Votivtafeln und Mirakelbucheinträgen und mit Hilfe der Rekonstruktion der Kranken- und Lebensgeschichten der VotandInnen, jene psychischen Ausnahmephänomene im Bayern der Barockzeit zu umreißen, die zu pastoralen Interventionen, religiösen Behandlungsversuchen und Besessenheitsattesten Anlass gaben und schließlich als „wundersame“ Heilungen in der Votivkunst „bezeugt“ sind. Stellvertretend steht das Beispiel für die Bedeutsamkeit der Vorzeit der Psychiatrie auch für eine moderne Psychiatriegeschichte, zumal sie interessante Parallelen aufweist: eine Schulung in Kasuistik war – wie der Kommentator David Lederer feststellte – auch im Rahmen der Moralpredigt üblich, ebenso wie bald eine formalisierte Praxis der Falleinträge in das Mirakelbuch. Das Bezeugen des Heilungsvorgangs ist längst nicht auf die „Psychiatrie“geschichte vor 1800 und auf den Wirksamkeitsnachweis der „geistigen Arznei“ beschränkt (Volker Hess), ebenso wenig wie die zirkuläre Diagnosebildung als Aushandlungsprozess zwischen den „Kranken“, ihren „Heilern“ und der sie umgebenden Kultur. Wie die Funktion der Krankenakte ist auch jene der Votivakte – letztere auch als Propagandamittel im Rahmen der Wallfahrtsindustrie zu lesen – analyseseitig zu berücksichtigen (David Lederer). Der Gewinn einer retrograden Diagnostik – wie sie Rinkes zu unternehmen sucht – wurde vom Auditorium mehrheitlich in Zweifel gezogen.

Mit der wechselseitigen Verarbeitung unterschiedlicher, sich ergänzender Quellen arbeitet auch das Forschungsprojekt der „AG Psychiatriegeschichte des Innsbrucker Instituts für Geschichte und Ethnologie“. Maria Heidegger präsentierte eine Fallgeschichte aus der Anfangszeit der k. k. Irrenanstalt im historischen Tirol des Vormärz, genau genommen: eine Konfliktgeschichte. Sie suchte mit Hilfe von Victor Turners Sozialdrama, jene Szenen und Akteure des Anfangs zu bestimmen, welche aus der parallelen Lektüre einer Krankenakte und eines (diese verarbeitenden) Untersuchungsberichts des Protomedikus hervorgehen. Interessant ist der Befund, dass für den Anfang der Anstalt weder die „siegreichen“ Akteure (Geistlichkeit, Ärzteschaft und Priesterpatient) noch die als „erfolgreich“ angesehenen Behandlungsmethoden (mit und ohne Anwendung von Zwangsmitteln), weder die erwartbaren Bündnisse, noch der prognostizierbare Ausgang des gesundheitsbehördlichen Prüfverfahrens feststehen. Den Kommentator, Kai Sammet, interessierten dann auch weniger die einzelnen Konfliktparteien und deren Konstellation (diese seien in der Psychiatriegeschichte mehrfach beschrieben) als vielmehr die Konfliktlinien und die entscheidende Frage: Wer ist zum besagten Zeitpunkt „Herrscher“ der Anstalt und, wer „Herrscher des Aufschreibesystems?

Nicht nur von „restrainment“ und „non-restrainment“, wie im Haller Beispiel, sondern von den in die Behandlungsvorgänge selbst eingearbeiteten Gewalt- und Disziplinartechniken handelte der nächste Beitrag. Welchem Vorgang die Verabreichung der Brechweinsteinsalbe als eine der „heroischen Kuren“ der frühen Klinik geschuldet ist, untersuchte Salina Braun anhand einer vergleichenden Krankenaktenstudie aus dem Bestand der preußischen Irrenheilanstalt Siegburg bei Bonn. Es ging ihr um die Persistenz (das sogenannte Siegburger Verfahren kam über 40 Jahre zur Anwendung) und Adaptionsfähigkeit dieser und vergleichbarer drastischer Behandlungsmethoden, welche sowohl medizintheoretischen Neuerungen als auch wechselnde Annahmen über Wirkweise und -ziel (Blutentgiftung, Schmerzableitung, etc.) überdauerten. In Kommentar und Diskussion wurde versucht, der Frage nachzugehen, inwieweit sich Foucaults Disziplinarthese auch auf das therapeutische Regime anwenden ließe, der Begriff der „heroischen Kuren“ nicht „fahrlässig“ irreführend sei (Heinz-Peter Schmiedebach), ob die theoretische Inkommensurabilität einer zeitgenössischen Therapieform nicht allzu voreilig veranlasst, auf ihre Unwirksamkeit zu schließen, respektive verleitet, den Gedanken zu vernachlässigen dass es auch in der heutigen Medizin durchaus angemessen erscheint, bei einer 10prozentigen Heilungschance grobe Körperverletzungen zu riskieren (Volker Hess).

Um Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung von Krankheitsphänomenen durch die männlichen Psychiatriepatienten der Berliner Charitè der Jahrhundertwende (1880-1900) ging es in dem von Annett Bretthauer vorgestellten, besonders datendichten Teilprojekt der DFG-Studie zur „Wahrnehmung psychischen Krankseins“. Das Projekt interessiert sich in erster Linie für die in den Akten überlieferten Selbstzeugnisse der Patienten – von abgefangenen Briefen, ausführlichen Selbstbeschreibungen bis zu flüchtigen Notizen aus der unmittelbaren Hand der Patienten. „Diese schwachen, aber doch vernehmlichen Stimmen“ (Bretthauer) werden transkribiert, zusammen mit den anderen Aktenstücken in Datenbanken erfasst und mit Hilfe des Computerprogramms Atlas.ti verarbeitet. Dass mit der computergestützten Erstausarbeitung besonders ausführlicher Akten meist den Krankengeschichten bürgerlicher Patienten oder solcher mit Gerichtsbezug (Gutachten) der Vorzug gegeben wird (Volker Hess), muss für den Anfang riskiert werden; der verfahrenstechnischen Textauslösung aus dem Aktenzusammenhang (Marietta Meier) wird durch das Anlegen von Patientenscripts begegnet. Wie sich die dem Verfahren geschuldete Produktion „flacher Texte“, denen weder die Hierarchisierung der Information noch die formale „Ästhetik“ der Akte mehr anzusehen sind (Michaela Ralser) auf den Interpretationsprozess auswirken, steht zur Zeit noch offen. Auf die Tatsache, dass auch im Falle von Ego-Dokumenten (ob frei oder im Auftrag des Arztes verfasst) berücksichtigt werden muss, dass ihre Überlieferung bedingungslos dem Urteil der Sammelwürdigkeit durch den Arzt unterliegt, machte die Kommentatorin Maike Rotzoll im Anschluss noch einmal aufmerksam.

Mit ungewöhnlichen Erinnerungsstücken aus dem Erfahrungsraum der Psychiatrie der Jahrhundertwende beschäftigt sich auch das Dissertationsprojekt von Monika Ankele. Hier gilt das Interesse ausschließlich den weiblichen Patientinnen. Mit dem Fragefokus auf die Körperpraktiken des „sich Kleidens und Haar Tragens“ verarbeitet sie die Artefakte der weiblichen KünstlerInnen aus der Prinzhornsammlung mit den Rekonstruktionen ihrer Krankengeschichten aus den Beständen der Anstalten Heidelberg und Emmendingen sowie dem Privatsanatorium Bellevue. Inwiefern der von Ankele in Aussicht genommene Zugang zur authentischen Erfahrung der Patientinnen über den Weg der Umgehung der sprachlichen Ebene gelingen kann, steht, so die Kommentatorin Maike Rotzoll, derzeit noch offen, interessant ist die wechselseitige Verarbeitung der Schrift- und Objekt-Quellen allemal. Auch böte die Arbeit Gelegenheit, einem längst überfälligen Desiderat der Psychiatriegeschichte – der AkteurInnenposition der Pflegepersonen (zumal am direktesten mit der Überwachung der Körperpraktiken der PatientInnen befasst) – mehr Rechnung zu tragen (Marietta Meier).

Sophie Ledebur, welche erstmals systematisch den seit kurzem zugänglichen Krankenaktenbestand der Niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“ bearbeitet (1918-1938), richtete auf dem Hintergrund der Fragestellung nach der zeitspezifischen Funktion der Anstaltspsychiatrie zwischen Sozial- und Gesundheitspolitik ihr Forschungsinteresse am Beispielfall der „Psychopathischen Persönlichkeit“ auf die diskursive Herstellung, Transformation und Formalisierung von Diagnosekomplexen in den Krankenakten der Zwischenkriegszeit. Eine besonders ausführliche Krankenakte diente als Fallstudie: Sie beschreibt eine Patientenkarriere quer durch zahlreiche Anstalten Europas, kurzzeitig unterbrochen durch Gefängnisaufenthalte, bestückt mit einer Vielzahl an Gutachten mit wechselnden Krankheitsbildern, zuletzt jenes der „Psychopathie“. Die Diskussion im Anschluss fokussierte die Quellenunterscheidung von Krankengeschichte und Gutachten (Volker Hess), die Differenzierung von Diagnosetypen (Aufnahmediagnose, klinische Diagnose, etc.), die Bedeutung anstaltsspezifischer oder übergreifender Diagnoseschlüssel, die Berücksichtigung lokaler Verfertigungen von Wissen und nicht zuletzt die Dimension des „Clinical Reasoning“ als wenig (natur-)wissenschaftlichem Verfahren (Kai Sammet). Zeitspezifische Habitualisierungen im Sprachgebrauch der Psychiatrie seien Gewinn bringend, so Sammet, an häufig vorkommenden – zwischen Alltags- und Fachsprache oszillierenden – Begriffen zu untersuchen (z.B. „läppisch“ u.ä.)

Die datenintensive Teilstudie von Petra Peckl und Philipp Rauh zur „Behandlung psychisch kranker und erschöpfter Soldaten in den Lazarettakten des 1. WKs“ im Rahmen des Freiburger DFG-Projekts „Krieg und medikale Kultur“ kombiniert quantitative mit qualitativen Verfahren. Die Quellenart „Lazarettakte“ mit ihren oft fehlenden Aktenteilen, mit ihren aufgrund der Kriegsbedingungen oft lakonischen Einträgen, den unverbundenen Mehrfachaufnahmen mit wechselnden Diagnosen, Behandlungen und Tauglichkeitsurteilen erschwere laut BeiträgerInnen Auswertung und Interpretation. Der Tatsache, dass die Quellen den Ansprüchen der Sozialwissenschaftler und Historiker niemals genügten, sei, so Kommentator Eric Engstrom, nur durch eine Änderung der Frageperspektive zu entkommen, respektive durch Ergänzung der Materialien, wie etwa zur beabsichtigten Bearbeitung der Fragestellung nach Transformation der Ärztedoktrin unter den Bedingungen des Krieges durch ärztliche Feldpostbriefe, Arztmemoiren u.ä. Interessant jedenfalls muten bereits die ersten Befunde der Studie an: weder fänden sich gehäuft „drastische“, vielmehr traditionelle Behandlungsmethoden in den Akten, noch würde der Simulationsvorwurf häufig erhoben – was auf eine zumindest anfängliche Uneindeutigkeit und Unsicherheit der Militärärzte den „neuen“ Phänomen gegenüber schließen lässt (Kai Sammet).

Für das Großherzogtum Hessen prüft Eva Wittig Dirk Blasius’ These die Zunahme der Anstaltsfälle am Ende des 19. Jahrhunderts sei zuallererst eine ordnungspolitische Maßnahme, die „Irrenfrage also eine Armenfrage“, an neuem Quellenmaterial. Mit Hilfe der Bourdieuschen Kapitalformen untersucht sie Überbringungs-, Einweisungs- und Anhaltegründe der psychiatrischen PatientInnen in ausgewählten Krankenaktenbeständen, mit dem Ziel der Erarbeitung einer Sozialgeschichte der Psychiatrie im späten Kaiserreich. Wenngleich offen bleiben muss, ob eine Analyse der individuellen Verfügung über die diversen Kapitalformen durch Patienten und Angehörige im sozialen Feld „Psychiatrie“ Blasius’ Strukturthese tatsächlich überprüfen können wird (Gerhard Bader), ist die Untersuchung der Handlungsbeiträge der Individuen in diesem Zusammenhang interessant, zumal aus den Arbeiten der ersten Antipsychiatriebewegung bekannt ist, dass nicht selten persönliche Verhältnisse und Familienbeziehungen für Zwangseinweisungen verantwortlich zeichneten. Man könnte mit dem Bourdieuschem Instrumentarium allerdings noch weiter gehen und wie für das universitäre Feld den Homo academicus für das psychiatrische Feld die Herstellung des Homo psychiatricus untersuchen (Heinz-Peter Schmiedebach). Ohne sozial- und geschlechtergeschichtliche Fundierungen (Karen Nolte) allerdings könnten Untersuchungen der Art, wie Wittig sie unternehmen möchte, nicht auskommen, war sich das Auditorium einig.

Viola Balz unternahm mit ihrer Geschichte der ersten Erprobungsreihe von Neuroleptika in Deutschland einen Zeitensprung in die noch wenig erforschte Psychiatriegeschichte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Mithilfe der Krankenaktenanalyse der ersten „Versuchspersonen“ im Rahmen der „Megaphenerprobung am Patienten“ an der Heidelberger Universitätsklinik der 1953er Jahre suchte sie eine Epistemologie des Begriffs der „Wirksamkeit“ zu entwickeln und auf dem Hintergrund der Actor-Network-Theory jene Akteure und Vektoren präzise zu bestimmen, welche zur Herausstellung der „neuroleptischen Effektivität“ unabdingbar waren. Dazu gehören jedenfalls auch das „Sprechen machen“ des Patienten und die Allianzbildung zwischen Arzt und PatientIn. Was jeweils erkennbar sei, hänge – so Eric Engstrom – einerseits von der „Größenfassung des Netzwerks“ ab, andererseits von der Breite der in den Blick genommenen Subjektivierungsstrategien, zu denen auch die subjektivierende Wirkung der Neuroleptika selbst gezählt werden könnte. Das epistemische Objekt, das entsteht, wäre dann der (neuroleptikaerprobte) Patient, zumal sich für die Wirksamkeitsanalyse von Neuroleptika Tierversuche nicht eigneten (Volker Hess). Schon die ersten Analyseergebnisse von Viola Balz weisen die dominanten Narrative der „Neuroleptikabehandlung“ als einzigartiger Wunderdroge und Elektroschocksersatztherapie als rhetorische Strategien des Anfangs aus.

Im Zentrum des letzten Beitrags der Tagung stand die Geschichte des in der Schweiz überlebenden jüdischen Emigranten Rolf Merzbacher (1924-1983), der nach seinem ersten Zusammenbruch als Gärtner in der Arbeitskolonie knapp 40 Jahre seines Lebens in Schweizer Psychiatrien zubringt. Gregor Spuhler ging es um „Heterogenisierung des Quellenmaterials“ und um eine „maximale Diversifizierung der Zugänge“. So kann die individuelle Geschichte Merzbachers (über die Zeit beschäftigten sich zahlreiche Behörden und Institutionen mit dem „Fall“) als Geschichte der Judenverfolgung, der Schweizer Flüchtlingspolitik, psychiatrischer „Heilkunst“ und bundesdeutscher Wiedergutmachung erzählt werden. Trotz der großen Einzigartigkeit und Ausgezeichnetheit des Falls als Verlaufsdokumentation bleibe – so Kommentator Heinz-Peter Schmiedebach zu berücksichtigen, dass sobald die Gutachtensmaschine anläuft – und das tat sie hier bereits sehr früh – die Geschichte dominant von einer medikalen Kultur bestimmt wird. Was die Geschichte aber überhaupt erst erzählbar macht, ist ihr Schweizer Hintergrund: Die u.a. 1944 gestellte Diagnose „schizophrener Defektzustand“ wäre im Deutschland derselben Zeit vermutlich ein Euthanasieurteil gewesen.

Abschlusskommentar und Resümee

Die Veranstaltung endete mit den Kommentaren von Marietta Meier und Karen Nolte. Beide stellten die Vielfalt der Fragestellungen und Methoden als positiv heraus, beide bedankten sich bei den BeiträgerInnen herzlich. Während Marietta Maier die Notwendigkeit des Kontextes ins Zentrum ihres Resümees stellte, konzentrierte sich Karen Nolte auf die Wichtigkeit theoriegeleiteter methodologischen Fundierungen. Der Einzelfall sei ein Fall unter Fällen, seine Dokumentation sei Teil des institutionellen Zusammenhangs Klinik oder Anstalt. Die Krankengeschichte ist eingelassen in die (medikale) Kultur der jeweiligen Zeit und ihr Aussagesystem ist bestimmt von zeitgenössischen medizinischen und psychiatrischen Konzepten. Der Kontext sei aber auch in einem ganz konkreten Sinn zu verstehen: Zu untersuchen sei die Textur, das Gewebe, aus dem die Krankenakte besteht. Darin aufgehoben auch die Dimensionen von Zeit und Raum: Wann erfolgt was? Ein Eintrag, eine Untersuchung, eine Behandlung. Wo erfolgt es? In den Blick zu nehmen seien auch die Verräumlichung, die Verschiebungen und Verlegungen der PatientInnen innerhalb des Raums der Klinik und über diesen hinaus (Marietta Meier). Karen Nolte votierte für eine handlungstheoretische Zugangsweise, erinnerte an die wissenschaftsgeschichtliche Herkunft des Konzepts der „sozialen Akteure“ und bekräftigte seine Brauchbarkeit auch im Fall der Analyse von Krankenakten. Sie plädierte u. a. für den analytischen Einbezug auch der AkteurInnen aus der sogenannten „zweiten Reihe“, etwa der Pflegepersonen oder der Angehörigen. Den Gewinn und Mehrwert der Actor-Network-Theory sieht sie in der Sichtbarmachung der Position der PatientInnen als Teil des Netzwerkes im medizinischen Feld und zwar unabhängig von der schon traditionell berücksichtigten Arzt/Patient Beziehung, beispielsweise als aktiver Teil eines experimentellen Aufbaus, einer Versuchsanordnung, einer Behandlungsabfolge etc. Zuletzt ermuntert Nolte noch bei aller notwendigen (quellenkritischen) Reflexivität zu mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit einer der aufschlussreichsten und vielstimmigsten Quellen der Psychiatriegeschichte. Am Ende der Veranstaltung bleibt nur zu hoffen, dass der erfolgreiche zweite Workshop der Reihe im nächsten Jahr eine weitere Fortsetzung findet.

Anmerkungen:
1 Workshop vom 08.04.2006: Qualitative Auswertung psychiatrischer Krankenakten / Charité-Berlin; Tagungsbericht unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1144> (08.06.2007).
2 DFG-Projekt „Wahrnehmung psychischen Krankseins“ (HE 2220-6) am Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin.


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